psychoneuro 2008; 34(3): 113
DOI: 10.1055/s-2008-1076617
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Bewegung in der Diagnostik und Therapie der Multiplen Sklerose

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Publikationsdatum:
14. April 2008 (online)

Die multiple Sklerose (MS) gehört zu den häufigsten Ursachen für Behinderungen im jungen Erwachsenenalter. Für Deutschland wird die Zahl der Betroffenen auf 120000 bis 140000 geschätzt. Derzeit kommt es - mit steigendem Trend - zu jährlich etwa 47000 Behandlungsfällen wegen MS. Die Krankenhaushäufigkeit variiert nicht unerheblich zwischen den Bundesländern [Abb. 1], ebenso unterscheidet sich die Verweildauer. Die totalen Krankheitskosten wurden für Deutschland - abhängig vom Schweregrad - auf im Mittel 40000 Euro pro Betroffenen und Jahr geschätzt [1], insgesamt also etwa 5,6 Mrd. Euro. Gemäß des Multiple-Sklerose-Registers [2] dauert es durchschnittlich 3,5 Jahre, bis die Diagnose gestellt wird; mehr als 70 % der Patienten werden immuntherapeutisch behandelt. Nur rund 37 % sind zumindest teilzeitbeschäftigt, rund 40 % beziehen eine Erwerbsminderungsrente. Gemäß der „tief gegliederten Diagnosedaten der Krankenhauspatientinnen und -patienten” des statistischen Bundesamtes weisen rund 10 % (Männer 12 %, Frauen 8 %) einen primär chronischen Verlauf auf, sodass ihnen keine Evidenz-basierte Therapie angeboten werden kann.

Vor diesem Hintergrund ist Forschung geboten - erfreulich ist, wie viel Bewegung in den letzten Jahren in Diagnostik und Therapie der Multiplen Sklerose gekommen ist. Immer differenziertere Möglichkeiten der Immuntherapie und Bildgebung sowie die Aufklärung immunpathologischer Mechanismen beflügeln sich wechselseitig. Daraus resultiert eine differenzierte klinische Diagnostik. Welche therapeutischen Implikationen sich aus der - erst in den letzten Jahren erkannten - neurodegenerativen Komponente ergeben, lässt sich noch nicht absehen.

Zentrale diagnostische Bedeutung kommt der Bildgebung mittels MRT zu, mit der sich in den Schwerpunktbeiträgen dieses Heftes Holst et al. auseinandersetzen, wobei sie das Hamburger MRT-Protokoll zum Einsatz in der klinischen Routine vorschlagen. Zettl beleuchtet kritisch die Entwicklung der Diagnostik und Therapie auch mit Ausblicken auf Entwicklungssubstanzen.

Nach derzeitigem Stand beginnt der pathogenetische Prozess mit der Einwanderung von Lymphozyten in das ZNS. Hier bietet die oral applizierbare Entwicklungssubstanz Fingolimod (FTY-720) besonderen Grund zur Hoffnung [3]: Fingolimod ist ein Derivat von Myriocin, eines Wirkstoffs des in der traditionellen chinesischen Medizin genutzten Pilzes Isaria sinclairii. Fingolimod wirkt nicht zytotoxisch, sondern hemmt die Auswanderung von Lymphozyten aus den Lymphknoten in das periphere Blut. Die revidierten McDonald-Kriterien und darauf aufbauende, von Holst et al. diskutierte Modifikationen erleichtern die Frühdiagnose und damit die Entscheidung zu frühzeitiger immunmodulatorischer Therapie. Es ist selbstverständlich, dass der Patient daran autonom mitwirkt. Kasper & Geiger präsentieren das inzwischen auch empirisch fundierte Hamburger Konzept, wie Arzt und Patient mit den Unsicherheiten der statistischen Ergebnisse von Studien umgehen können, um die für den Patienten am ehesten akzeptable Therapieentscheidung zu fällen.

Abb. 1 Krankenhaushäufigkeit wegen Hauptdiagnose Multiple Sklerose (Quelle: Statistisches Bundesamt)

Literatur:

  • 1 Kobelt G, Berg J, Lindgren P. et al. . Costs and quality of life of multiple sclerosis in Germany.  Eur J Health Econ. 2006;  2
  • 2 Flachenecker P, Stuke K, Elias W. et al. . Multiple-Sklerose-Register in Deutschland - Ausweitung des Projektes 2005/2006.  Dtsch Arztebl. 2008;  105 113-119
  • 3 Kappos L, Antel J, Comi G. et al. . FTY720 D2201 Study Group. Oral fingolimod (FTY720) for relapsing multiple sclerosis.  N Engl J Med. 2006;  355 1124-1140

Prof. Dr. med. Jürgen Fritze

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