Die prosodischen Eigenschaften des Säuglingsschreis
Betrachtet man den Säuglingsschrei schallanalytisch, zeigt sich, dass das Intonationsmusters
des Schreis abhängig ist von der Umgebungssprache des Säuglings. Säuglinge mit Deutsch
als Muttersprache zeigen vermehrt ein trochäisch orientiertes Schreimuster mit einer
tendenziell fallenden Tonhöhe. Dagegen zeigen beispielsweise französische Säuglinge
ein Schreimuster mit einer ansteigenden Tendenz, ebenfalls orientiert an der jambischen
Intonation des Französischen. Die unterschiedlichen Intonationsmuster sind in Abb. 1 visuell dargestellt und können unter Tonbeispiel 1 angehört werden.
Säuglinge schreien in dem Intonationsmuster ihrer Muttersprache.
Die Entwicklung und Ausreifung des Gehörs in der 22. Schwangerschaftswoche ermöglicht
dem Fötus bereits im Mutterleib die Wahrnehmung von Schall. Aufgrund der dämpfenden
Eigenschaften des Fruchtwassers und des den Fötus umgebenden Gewebes können lediglich
die suprasegmentalen Merkmale der Sprache der Mutter sowie anteilig die der Umgebungssprache
bis zu dem Fötus durchdringen. Somit sind die Intonation und der Rhythmus einer Sprache
dem Säugling vorgeburtlich bekannt. Dies äußert sich in den prosodischen Eigenschaften
des Säuglingsschreis. Vergleicht man den Schrei von Säuglingen mit einer angeborenen
Hörstörung (z. B. einer Schallempfindungsschwerhörigkeit) mit den Schreien von Säuglingen
mit einem intakten Gehör, zeigt sich bei Säuglingen mit einer Hörstörung ein Modulationsmuster,
welches nicht dem von gesunden Säuglingen entspricht. Der Schrei eines Säuglings mit
Hörstörung ist deutlich modulierter, hat eine längere Schreidauer und zeigt beispielsweise
keine eindeutige Präferenz zu einem trochäisch orientierten Schreimuster, verglichen
mit gesunden Säuglingen. Der Vergleich eines gesunden Schreis und dem eines Säuglings
mit Hörstörung ist unter Tonbeispiel 2 zu finden.
Der Schrei von Säuglingen mit Hörstörungen unterscheidet sich in akustischen und prosodischen
Eigenschaften von dem Schrei normalhöriger Säuglinge.
Akustische Eigenschaften des Schreis von verschiedenen Störungsbildern im Säuglingsalter
Neben dem Gehör ist auch das System „Stimmgebung“ eines der neuromuskulär am weitesten
entwickelten Systeme. Analysiert man die Stimmgebung von Säuglingen mit verschiedenen
Störungsbildern, zeigt sich, dass einzelne Störungsbilder spezifische akustische Eigenschaften
aufweisen, die schallanalytisch identifizierbar sind. Säuglinge mit prä- und perinataler
Asphyxie weisen unterschiedliche akustische Eigenschaften wie eine deutlich erhöhte
Grundfrequenz und eine erhöhte Mikrovariabilität der Stimmbänder (Jitter) auf (Tonbeispiel 3).
Bei Säuglingen mit einer Laryngomalazie (krankhafte Erweichung des Larynxgewebes)
können ebenfalls unterschiedliche akustische Eigenschaften wie vermehrte Stimmabbrüche
und Lautstärkeschwankungen identifiziert werden (Tonbeispiel 4).
Die neuromuskuläre Integrität der an der Stimmgebung und an dem Hörprozess beteiligten
Nerven sowie die für die Stimmgebung benötigten Knorpel- und Gewebsstrukturen haben
einen direkten Einfluss auf die Stimmgebung im Säuglingsschrei und unterscheiden sich
in akustischen Eigenschaften, verglichen mit dem gesunden Säuglingsschrei.
Tanja Fuhr, Henning Reetz, Carla Wegener, Idstein
Fallende Tonhöhe (a) und ansteigende Tonhöhe (b).
Audiopodcast
Audio 1 Intonation fallend (a), Intonation steigend (b).
Audio 2 Säugling mit Hörstörung.
Audio 3 Säugling mit Asphyxie.
Audio 4 Säuglinge mit einer Laryngomalazie.