PiD - Psychotherapie im Dialog 2018; 19(02): 121
DOI: 10.1055/a-0556-0964
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ingeborg Bachmann: „Male Oscuro“ – Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit

Der Friedhof der ermordeten Töchter
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Publication Date:
04 June 2018 (online)

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Suhrkamp 2017;
ISBN-10: 3–518–42602–8; 34,00 €,
259 Seiten

Wenn eine 30-bändige Werkausgabe mit „Traumnotaten, Briefen, Brief- und Redeentwürfen“ einsetzt, könnte man darin ein Programm sehen. Um welches Programm könnte es sich hier handeln, wenn die Briefe an Psychiater gerichtet sind und auch die Traumnotate Unterstreichungen von diesen – in den im Anhang des Bandes abgedruckten Faksimiles – sichtbar machen? Zum Teil sind die Ärzte nicht mehr zu identifizieren (außer Prof. Hans Strotzka in Wien und Dr. Helmut Schulze in Baden-Baden), doch viele der Träume haben Eingang gefunden in das „Todesarten“-Projekt, wovon nur der Roman Malina abgeschlossen wurde, bevor die Autorin im Alter von 47 Jahren verstarb.

Neben den 19 Traumaufzeichnungen (zumeist in Kliniken oder für ambulante Behandlungen zwischen 1963 und 1966 entstanden) sind 8 weitere, allesamt bisher unveröffentlichte Dokumente, abgedruckt. Diese sind insbesondere Briefe (1965–1968) an den behandelnden Arzt Dr. Schulze. Sie befinden sich z. T. im Entwurfsstadium und wurden nicht versandt. Der Redeentwurf Bericht an die Ärzteschaft changiert zwischen autobiografischer Anklage und literarischem Zitat (Kafka: Bericht an die Akademie). Um ein Verständnis der in diesem Band abgedruckten Zeugnisse zu erlangen, muss man in hermeneutischen Zirkeln vorgehen: Zwischen biografischem Entstehungszusammenhang, in den auch die Behandlungsformen der benannten Psychiater Eingang finden (S. 105–144), den Stellenkommentaren (S. 197–224) und den Originalblättern (S. 17–93) hin und her wechselnd, eröffnet sich ein Bedeutungsraum, der literaturwissenschaftlich kommentiert wird (S. 145–196).

Die „Zeit der Krankheit“ stellt eine Zäsur im Leben und Werk Ingeborg Bachmanns dar. Sie beginnt einerseits mit einem Klinikaufenthalt nach einem Nervenzusammenbruch und Suizidversuch der 36-jährigen Autorin kurz nach der Trennung von dem 16 Jahre älteren Max Frisch im Dezember 1962, mit dem sie 4 Jahre liiert war (und der in fast jedem aufgezeichneten Traum vorkommt). Andererseits muss sie sich im Januar 1963 einer Gebärmutterentfernung unterziehen, die mit extremen psychischen Komplikationen einhergeht. Neben weiteren Klinikaufenthalten in Zürich, Berlin, Baden-Baden (und einer Notaufnahme in der Poliklinik Prag) unternimmt sie ab 1964 auch eigene Therapieversuche. Diese sind insbesondere Reisen, z. B. nach Ägypten oder in die tschechische Hauptstadt, wo sie ihre verloren geglaubte poetische Sprache wiederfindet. Sie selbst beschreibt das Gedicht Böhmen liegt am Meer als ihr schönstes, das sie lange Zeit aufgrund ihrer Aversion gegen den laufenden Literaturbetrieb nicht abdrucken lässt. „Was ich jahrelang für mein privates Unglück gehalten habe – ich halte es nicht mehr dafür. Es ist ein viel größeres Unglück. Es stimmt hier nichts mehr. Wäre bloß Herr F. mein Unglück, das wäre zu ertragen. Aber es reicht ja weiter. Es ist bloß die Stellvertretung für eine Mentalität, die ich verabscheue, an der ich nicht zugrundegehen möchte, so nicht, obwohl ich meistens denke, ich bin schon tot. Ich will so nicht zugrund gehen.“ (Briefentwurf; S. 72). Der letzte Brief an Dr. Schulze, datiert vom März 1968, beendet die Arzt-Patientin-Beziehung und läutet die letale Phase der Medikamentenabhängigkeit der Autorin ein.

Ingeborg Bachmann, die in Philosophie promoviert und Psychologie studiert hatte, befasste sich in dieser Zeit neben dem Roman Male Oscuro, einer Krankengeschichte von Giuseppe Berto (1964 in Mailand erschienen), auch mit der Lektüre von Thure von Uexkülls Aufsätzen zur Psychosomatischen Medizin und verfasste einen (in diesem Band nicht abgedruckten) Entwurf Über Georg Groddeck. Eine Metaperspektive auf die eigene Krankengeschichte findet Eingang in den fragmentarischen Bericht an die Ärzteschaft.

Das Programm hinter diesem ersten Band wird nicht wirklich deutlich. „Durch diese Edition lernen die Leserinnen und Lesermehr vom »Grund und Boden« des schreibenden Ich verstehen. Und die Literaturwissenschaft wird vielleicht in ihren Theorien dem Leben, so schwierig es ist und kaum auf den Begriff zu bringen, einen größeren Stellenwert einräumen“ (S. 11), heißt es im Vorwort der Editionsherausgeber(in). Nach der Lektüre bleibt ein Nachgeschmack: Was ist die Rolle des – von Bachmann kritisierten – Literaturbetriebes bei der Auswahl genau dieser nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Dokumente?

Prof. Dr. Maria Borcsa, Nordhausen