physiopraxis 2018; 16(06): 32-35
DOI: 10.1055/a-0587-8675
Therapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

HIFE: bewährtes Sturzpräventionstraining aus Schweden – Hochintensiv trainieren

Susanne Kastner

Subject Editor:
Further Information

Publication History

Publication Date:
22 June 2018 (online)

 

Verbessern Senioren ihre Beinkraft und die Gleichgewichtsfähigkeit, sinkt ihr Sturzrisiko. Das aus Skandinavien stammende Präventionsprogramm HIFE arbeitet mit 39 Übungen, einem Gewichtsgürtel und der Vorgabe, am individuellen Leistungsmaximum zu trainieren.


#
Zoom Image

Susanne Kastner, MSc, ist Physiotherapeutin (OMT) und arbeitet in eigener Praxis. Im Rahmen ihrer Masterarbeit lernte sie das HIFE-Konzept an der Universität in Umeå kennen, sammelte erste Erfahrungen damit in Deutschland, übersetzte das Programm ins Deutsche und war an dessen Erforschung beteiligt. Ihr Wissen über HIFE gibt sie in Therapeutenschulungen weiter und bietet an, die in Deutschland derzeit noch nicht erhältlichen Gewichtsgürtel über sie zu beziehen. E-Mail: kontakt@physiopraxis-kastner.de

Zoom Image
Mithilfe von hochintensiven funktionellen Gleichgewichts- und Kräftigungsübungen können Senioren im Rahmen des HIFE-Programms ihr Sturzrisiko senken.
Abb.: S. Kastner (nachgestellte Situation)

Herr Maier[*] lächelt erleichtert: „Mei, ist Sitzen schön“, sagt er zu seinem Sitznachbarn, noch leicht außer Atem. Er ist gerade zwölf Mal auf einen Stepper gestiegen, und das mit einem Zusatzgewicht von 7 kg. „Aber es ist auch schön, sich mal wieder wie in alten Zeiten so richtig anzustrengen. Weißt du, ich war mal ganz schön fit und viel in den Bergen unterwegs. Da hätte ich über einen 7-kg-Rucksack nur gelacht. Aber jetzt ist das ein ordentliches Gewicht. Und vor acht Wochen hätte ich das noch gar nicht gekonnt.“

Herr Maier ist 86 Jahre alt und wohnt in einem Pflegeheim. Zweimal pro Woche trainiert er in einer Gruppe nach dem HIFE-Programm. HIFE steht für „High Intensity Functional Exercise“ und beschreibt ein Trainingsprogramm zur Sturzprävention bei Senioren. Das Programm wurde 2002 im Rahmen der groß angelegten randomisierten kontrollierten FOPANU-Studie (The Frail Older People – Activity and Nutrition Study) [1] an der Universität von Umeå in Schweden zur Sturzprävention entwickelt, und dessen Wirksamkeit wurde 2006 belegt. Es besteht aus hochintensiven statischen und dynamischen funktionellen Gleichgewichts- und Kräftigungsübungen für die untere Extremität und ergänzt das in Deutschland populäre Training nach dem Ulmer Modell [2]. HIFE setzt dabei vor allem auf eine stringente Progression der Trainingsintensitäten.

HIFE wird in Einzel- und Gruppensettings in Schweden, Norwegen, Großbritannien und in Pilotstudien in den Niederlanden und Deutschland angewendet. Es zielt darauf ab, die Beinkraft und die Gleichgewichtsfähigkeit zu verbessern. Wichtig ist eine Trainingsfrequenz von 2–3 Einheiten à 45–60 min pro Woche über mindestens 12 Wochen. Denn erst dann konnten klinisch relevante motorische Verbesserungen festgestellt werden [1]. Grundsätzlich empfehlen die Entwickler aber ein dauerhaftes Training, um die erreichten Veränderungen zu halten und weiter auszubauen.

Aus 39 Übungen wählen

Insgesamt besteht das Programm aus 39 Übungen, die in fünf Kategorien von A bis E unterteilt sind:

  • A: Gleichgewichtsübungen kombiniert mit Kräftigungsübungen der unteren Extremität auf statischen und dynamischen Unterstützungsflächen

  • B: dynamische Gleichgewichtsübungen im Gang

  • C: statische und dynamische Gleichgewichtsübungen im Stand

  • D: Kräftigungsübungen der unteren Extremität mit kontinuierlicher Unterstützung fürs Gleichgewicht

  • E: Gehen mit kontinuierlicher Unterstützung fürs Gleichgewicht

Die passenden Übungskategorien für jeden Teilnehmer bestimmt der Therapeut zu Trainingsbeginn, nachdem er die Gehfähigkeit beurteilt hat. Wer ohne Supervision oder Unterstützung gehen kann, bekommt ein Trainingsprogramm mit Übungen aus den Kategorien A und B (ABB. 1–3). Typische Übungen sind zum Beispiel Squats in verschiedenen Schrittstellungen, Ausfallschritte und Gehen über Hindernisse. Wer nicht gehfähig ist oder sehr viel Unterstützung braucht, trainiert Übungen aus den Kategorien C, D und E (ABB. 4 und 5, S. 34–35), beispielsweise Gehen mit Unterstützung in der Ebene oder Aufstehen vom Stuhl mit Festhalten.

Der Trainer legt für jeden Teilnehmer einen Trainingsplan mit den Übungen und individuellen Trainingsparametern fest, um das Training progressiv gestalten zu können. Eine HIFE-Stunde beginnt immer mit einem kurzen Aufwärmen im Sitzen, Stehen oder Gehen. Im Hauptteil absolvieren die Teilnehmer zuerst die Gleichgewichtsübungen, damit die inter- und intramuskuläre Koordination nicht durch Ermüdung vermindert ist. Im Anschluss folgt der Kraftteil und ein kurzes Cool-down. Der Austausch zwischen den Gruppenteilnehmern ist erwünscht und wichtiger Bestandteil. Dadurch dass immer wieder Teilnehmer pausieren, während andere üben, entsteht Raum zum „Anfeuern“ und zum Erfahrungsaustausch. Damit alle ihren individuellen Trainingsplan absolvieren können und die Pausen für den Einzelnen nicht zu lang werden, hat sich ein Betreuungsschlüssel von maximal vier Teilnehmern zu einem Trainer bewährt. Eine Gruppengröße von acht ist optimal, da dann eine sehr gute Gruppendynamik entstehen kann. HIFE kann aber auch im Hausbesuch in der Einzelbetreuung stattfinden. Alle Infos, wie man HIFE anwendet, die Teilnehmer kategorisiert sowie die 39 Übungen sind in einem Manual zusammengefasst, das auch auf Deutsch verfügbar ist. Dieses ist im Download-Bereich von physiopraxis kostenlos abrufbar.

Übungen aus dem HIFE-Programm
Zoom Image
Abb.: S. Kastner (nachgestellte Situation)
Abb.: S. Kastner (nachgestellte Situation)

Die Übung A5 trainiert die Beinkraft und ist für Senioren geeignet, die ohne Supervision gehen können.


Aktion: Die Trainierende soll aus dem Sitz in die Schrittstellung aufstehen und sich wieder setzen.


Ziel: Training der funktionellen Beinkraft in einer für das dynamische Gleichgewicht fordernden Ausgangsstellung


Progression: Hinzufügen von Gewichten und/oder Absenken der Liegenhöhe; fürs Training des Gleichgewichts zusätzlich Verringern der Unterstützungsfläche

Zoom Image
Abb.: S. Kastner (nachgestellte Situation)
Abb.: S. Kastner (nachgestellte Situation)

Die Übung A8 trainiert die Beinkraft und ist für Senioren geeignet, die ohne Supervision gehen können.


Aktion: Die Trainierende steigt entweder vorwärts oder seitwärts auf eine Stufe und wieder herunter.


Ziel: Training der funktionellen Beinkraft in einer für das dynamische Gleichgewicht fordernden Ausgangsstellung


Progression: Stufenhöhe vergrößern und/oder vermehrtes Gewicht im Gürtel


#

Aufgabenspezifisch und funktional üben

Gute Sturzprävention kann Menschen wie Herrn Maier helfen. Ein Trainingsprogramm alleine reicht allerdings bei Weitem nicht aus. Ergänzend muss das interdisziplinäre Team die räumlichen Gegebenheiten, die Sehkraft, die Medikamenteneinstellung, demenzielle Veränderungen, Beeinträchtigungen der Kontinenz und Wahrnehmungsstörungen beachten. Denn dies alles beeinflusst das Sturzrisiko des Einzelnen enorm [4]. Möglichst gute motorische Leistungsfähigkeit (v. a. Beinkraft und Gleichgewichtsfähigkeit), ist jedoch ein sehr wichtiges Puzzlestück. Und genau da setzt HIFE an: Alle 39 Übungen sind aufgabenspezifisch und funktional gestaltet. Aufstehen, Treppensteigen, Seitschritte, Ausfallschritte und Rückwärtsgehen sind typische Übungen. Diese motorischen Sequenzen sind für den Alltag der Senioren sehr relevant. Sie wurden gewählt, weil Studien belegen, dass spezifisches Training, also Übungen, die der zu verbessernden Aufgabe sehr ähnlich sind, effektiver sind als unspezifische Übungen [4]. Das Hochkommen von einer tiefen Sitzgelegenheit trainiert man daher im HIFE-Programm durch das Aufstehen von einem Stuhl oder mithilfe einer Kniebeuge. Dies ist effektiver, als an einer Beinpresse oder mit Knieextensionsübungen im Sitzen zu üben. Dieses Übungsprinzip ist bei Senioren besonders wichtig: Denn unter ihnen gibt es viele Menschen mit demenziellen Veränderungen, denen Transferleistungen beim Lernen besonders schwerfallen [6, 7]. So wie Frau Huber[*]: Sie nestelt oft an ihrem Gewichtsgürtel herum und versteht nicht, warum sie das schwere Ding tragen soll. Ihre Therapeutin reicht ihr einen alten abgegriffenen Stoffhasen, den die alte Dame überall mit hinnimmt. Diesen hält sie lächelnd fest und vergisst für einen Moment den lästigen Gürtel. Mit der Therapeutin steht sie wiederholt vom Stuhl auf und setzt ihren Hasen immer wieder auf ein hohes Sims, damit „er auch gut sieht, wie fleißig hier alle üben“. So absolviert sie die Übung D3 (ABB. 4), ohne in Stress zu geraten. Frau Huber hat eine starke Demenz, und den Sinn von Training und Zusatzgewicht muss man ihr immer wieder einfühlsam vermitteln. Da sich Menschen mit Demenz oft nicht ausreichend äußern können, ist es wichtig, ständig wachsam zu sein, die Tagesform im Blick zu haben und subtile nonverbale Zeichen von Stress wahrzunehmen. Üben mit Menschen mit Demenz ist herausfordernd und verlangt viel Feingefühl, die Anstrengungsbereitschaft für ein Maximalkrafttraining herauszukitzeln, ohne dabei die Senioren zu überfordern.

Die Senioren trainieren stets im Maximalkraftbereich und am Limit ihrer Gleichgewichtsfähigkeit.

Übungen aus dem HIFE-Programm
Zoom Image
Abb.: S. Kastner (nachgestellte Situation)
Abb.: S. Kastner (nachgestellte Situation)

Die Übung B4 trainiert das dynamische Gleichgewicht und ist für Senioren geeignet, die ohne Supervision frei gehen können.


Aktion: Die Trainierende geht vorwärts oder seitwärts und steigt dabei über Hindernisse, zum Beispiel Stöcke oder Stufen.


Ziel: Training des dynamischen Gleichgewichts in einer alltagsrelevanten Situation


Progression: Erhöhen der Anzahl der Richtungswechsel und/oder Erhöhen und Vergrößern der Hindernisse

Zoom Image
Abb.: S. Kastner (nachgestellte Situation)
Abb.: S. Kastner (nachgestellte Situation)

Die Übung C9 trainiert das Gleichgewicht im aktiven Stand und ist für Senioren geeignet, die mit geringer Unterstützung gehfähig sind.


Aktion: Die Trainierende fängt und wirft einen Sandsack oder Ball.


Ziel: Förderung des Gleichgewichts im Stand bei gleichzeitiger Arm- und Rumpfaktivität; Üben von Rumpfrotation und Augenfolgebewegungen möglich


Progression: Erhöhen der Rumpf- und Armaktivität und/oder Verkleinern oder Labilisieren der Unterstützungsfläche und/oder Werfen zu unterschiedlichen Zielpunkten

Zoom Image
Abb.: S. Kastner (nachgestellte Situation)

Die Übung D3 trainiert die funktionelle Beinkraft und ist auch für Senioren geeignet, die nicht oder nur mit sehr großer Unterstützung gehfähig sind.
Abb.: S. Kastner (nachgestellte Situation)


Aktion: Die Trainierende steht vom Stuhl auf und setzt sich wieder. Dabei erhält sie, wenn nötig, Unterstützung durch den Therapeuten oder darf sich zum Beispiel an einem Stuhl festhalten.


Ziel: Verbesserung von funktioneller Beinkraft und Sitz-Stand-Transfer


Progression: Verringern der Sitzhöhe und/oder vermehrtes Gewicht im Gürtel


#

Hochintensiv und individualisiert trainieren

Denn charakteristisch für HIFE ist, dass die Teilnehmer im Maximalkraftbereich und am Limit ihrer Gleichgewichtsfähigkeit trainieren. Ersteres wird als „Training am Rande der individuellen Leistungsgrenze“ definiert. Der Therapeut testet diese zu Beginn durch eine Steigerung des Schwierigkeitsgrades der Übungen für jeden Teilnehmer. Den Schwierigkeitsgrad wählt er bei den Kräftigungsübungen so, dass maximal 8–12 Wiederholungen der Übung möglich sind.

Daraus ergibt sich bereits das nächste Trainingsprinzip: Die Übungen werden stets individualisiert. Das heißt, dass im Gruppentraining nicht wie bei der klassischen Hockergymnastik jeder die gleiche Übung macht. Sondern Herr Maier trainiert das Aufstehen vom Stuhl mit sieben Kilogramm Zusatzgewicht, während Frau Huber das Aufstehen ohne Zuhilfenahme der Arme von einer hohen Therapieliege aus übt. Die Zielsetzung ist bei beiden gleich. Der Therapeut passt die Intensität aber so an, dass beide in ihrem jeweiligen Maximalkraftbereich trainieren. Und auch bei den Gleichgewichtsübungen wählt er die Schwierigkeit so, dass er jeden am Rande seiner Leistungsgrenze fordert. Einigen reicht es, wenn sie im Parallelstand stehen, bei anderen kann man die Unterstützungsfläche verkleinern oder labile Untergründe wählen. Und fitte Teilnehmer können Zusatzaufgaben wie Rumpfrotation oder Wurf- und Fangaufgaben erhalten (ABB. 4).


#

Gewichtsgürtel für Training und Sicherheit

Um im Maximalkraftbereich trainieren zu können, haben die Entwickler des Programms einen Gewichtsgürtel entworfen, der sich mit Gewichten bis 12 Kilogramm bestücken lässt. Im Rückenbereich ist eine große Halteschlaufe angebracht, die man zum Sichern nutzen kann. Der Gürtel spielt im HIFE-Programm eine zentrale Rolle. Er ermöglicht es, das Maximalkrafttraining in funktionelle Ausgangsstellungen zu integrieren und gleichzeitig den Übenden zu sichern. Im Gegensatz zu oft verwendeten Gewichtsmanschetten an den Füßen sitzt beim Gürtel das Gewicht zentral am Rumpf und gestattet dadurch ein Maximalkrafttraining im Stand und damit in einer zur Sturzprävention relevanten Ausgangsstellung. Ansonsten benötigt man zum Training nur Stühle, Stuhlkissen und diverse Kleingeräte, die allesamt tragbar oder in Pflegeheimen und Haushalten verfügbar sind.


#

Progressiv trainieren

Zum Steigern des Trainingsreizes ist der Gewichtsgürtel nicht die einzige Möglichkeit und sollte auch nicht erste Wahl sein. Zuerst kann man durch unterschiedliche Positionen, Bewegungsumfänge und -tempi die Intensität verändern. Nicht zu unterschätzen ist jedoch der motivierende Effekt der Gewichte: Nach 12 Wochen war es für Herrn Maiers Gruppe ein großer Aha-Effekt, als sie im Stuhlkreis auf einer Decke die Gewichte aller sammelten, die sie nun im Vergleich zum Trainingsbeginn bewältigen konnten: Ungläubiges Staunen und großer Stolz breitete sich aus. Die Gewichte waren handfeste Beweise der verbesserten Leistungsfähigkeit der Einzelnen und eine tolle Bestärkung für die Gruppe. Und will man möglichst intensiv trainieren, gilt es die Teilnehmer regelmäßig zu bestärken, eine ruhige Atmosphäre zu schaffen und ein vertrauensvolles Verhältnis aufzubauen [8].


#
#

* Name von der Redaktion geändert




Zoom Image
Zoom Image
Mithilfe von hochintensiven funktionellen Gleichgewichts- und Kräftigungsübungen können Senioren im Rahmen des HIFE-Programms ihr Sturzrisiko senken.
Abb.: S. Kastner (nachgestellte Situation)
Zoom Image
Abb.: S. Kastner (nachgestellte Situation)
Abb.: S. Kastner (nachgestellte Situation)
Zoom Image
Abb.: S. Kastner (nachgestellte Situation)
Abb.: S. Kastner (nachgestellte Situation)
Zoom Image
Abb.: S. Kastner (nachgestellte Situation)
Abb.: S. Kastner (nachgestellte Situation)
Zoom Image
Abb.: S. Kastner (nachgestellte Situation)
Abb.: S. Kastner (nachgestellte Situation)
Zoom Image
Abb.: S. Kastner (nachgestellte Situation)