Progressive Einstellung
Unverzichtbar ist insbesondere eine progressive Einstellung. Die meisten Osteopathen
machen die Erfahrung, dass nach der Ausbildung der Lernprozess erst richtig interessant
wird. Es ist geradezu so, dass man eine Ausbildung mit dem Verständnis beendet, nunmehr
eingebettet in klinische Erfahrung, mit den guten und wesentlichen Fortbildungen beginnen
zu können. Das ist durchaus mit dem Erlernen einer Fremdsprache zu vergleichen: Hat
man die Vokabeln und Grammatik erfasst, fängt die Konversation erst richtig an. Gegen
Ende der Osteopathieausbildung ahnt man, dass sich die vertraute Sichtweise und das
bisherige therapeutische Vorgehen fortlaufend ändern werden. Es ist das stetig wachsende
Verständnis für die Komplexität des Menschen, das die Notwendigkeit weiterer Forschung
und Fortbildung erkennen lässt. Es ist der Geist der Neugier und des wiederkehrenden
Aufbruchs, der die Trägheit und Selbstzufriedenheit überwinden muss ([Abb. 1]).
Abb. 1 Staunen wir noch über uns vermeintlich bekannte Phänomene und fragen uns, wie es
eigentlich sein kann, dass so etwas passiert? Wieso fliegt die Ente und kann aus dem
Wasser starten? Oder wie können Kinder geboren werden? Wissen wir das wirklich?(© Kilian
Dräger)
Lernkultur
In den Anfängen der Osteopathie in Deutschland gab es am Übergang von den 1980er-
in die 1990er-Jahre eine Atmosphäre der Begeisterung für die Osteopathie, die mit
reichlich Humor gespickt war. Wir brannten regelrecht und überschlugen uns im Interesse
für diese besondere Methode, was das Lernen befeuerte und eigene Kreativität anregte.
Es gab noch keine deutschsprachige Literatur – nur mündliche „Überlieferungen“ und
wilde Sammlungen von Fotokopien. Der Anteil der praktischen Arbeit war sicher auch
unstrukturierter und weniger differenziert als heute. Alles in allem gab es in den
Schulen noch kein echtes didaktisches Konzept, sondern ein reichlich verworrenes Durcheinander.
Auf den Postgraduate-Fortbildungen trafen sich viele interessante Persönlichkeiten,
Originale, die keinen trockenen Stoff, sondern lebendige Osteopathie lehren oder lernen
wollten. Abends feierten, musizierten und tanzten wir gemeinsam.
Durch diese Lernkultur wurde unser Ausdruck vitaler und unsere Gewebe in andere Zustände
und Dimensionen befördert und erweitert. Auch das sind Qualitäten, die im Leben und
damit bei den Funktionen und Dysfunktionen der Gewebe eine bedeutende Rolle spielen.
Pit Dijs sagte einmal: „Alle Gewebe haben eine Funktion und Dysfunktion – aber es
sind auch alles Gewebe, die lachen und weinen können.“ [4]
Selbstkritik
Es ist glücklicherweise nicht so, dass diese besonderen Qualitäten bei osteopathischen
Aus- und Fortbildungen heute nicht mehr zu finden wären, doch die Stimmung hat sich
verändert. Einerseits hat sich die Vermittlung von Kompetenzen verbessert, andererseits
birgt ein geebneter Weg auch die Gefahr, in einen behäbigen Trott zu verfallen. Die
Pioniere von damals sind heute Lehrer, die ihre vielen, teils mühsam erworbenen Erkenntnisse
und Erfahrungen in gut portionierten Häppchen weitergeben. Was in den 1990er-Jahren
als verwirrend und schlecht durchschaubar erschien, wird heute überwiegend auf eine
gute und klare Weise präsentiert.
Die verwirrte und verwirrende Vermittlung ist natürlich auch heute noch bei schlechten
Ausbildungen anzutreffen. Es gibt Leute, die sich berufen fühlen, etwas weiter zu
geben, obwohl sie selbst kaum eine Ahnung haben, worum es geht. Ich erinnere mich
an einen „Lehrer“, der die „Wisbrett-Technik“ beschrieb. Gemeint war die „V-Spread-Technik“,
die man keinesfalls mit einem Brett, sondern dem Namen entsprechend V-spreizend ausführt.
Einerseits ist dieses Missverständnis belustigend, andererseits ist der „Mut“, so
offen seine Inkompetenz zur Schau zu stellen, beeindruckend. Ja, man kann davon ausgehen,
dass der „Lehrer“ seinen Fauxpas nicht bemerkt hat. Das sollte uns allen zu denken
geben!
Wir können davon ausgehen, dass wir alle fehlerhafte Überzeugungen mit uns herumtragen,
und sollten uns daher permanent selbstkritisch überprüfen und unsere Überzeugungen
hinterfragen. Wir laufen sonst Gefahr, aus einer unsinnigen Kombination willkürlicher
therapeutischer Ansätze abstruse Begriffe wie z. B. Trigger-Osteo-Praktik zu kreieren.
Hier werden Begriffe wie die Techniken von Triggerpunktbehandlung und Chiropraktik
mit der Osteopathie gemischt, wobei die chirotherapeutischen Techniken und Triggerpunktbehandlung
Bestandteil des osteopathischen Konzepts sind. Das zeugt allein von Unverständnis.
Große Lehrer können ein Vorbild dafür sein, wie man mit Fragen umgeht – offen für
die Entdeckung von Neuem und Unbekanntem. Ann Wales, die Schülerin von W. G. Sutherland
und Lehrerin von Rachel Brooks und Sue Turner, hat dies im hohen Alter von 98 Jahren
schlicht und einfach demonstriert. Auf die Frage, wie denn die Technik der transversalen
Fluktuation auszuführen sei, soll sie gesagt haben: „Oh, das habe ich vor kurzem verstanden.“
Man sollte die Kunst honorieren, so eine einfache Technik jahrzehntelang auszuführen
und dann noch etwas Neues darin zu entdecken. Die Offenheit und Stärke sowie Unvollständigkeit
und Unsicherheit des eigenen Therapievermögens auszuhalten, ermöglicht die Vertiefung
des eigenen Verständnisses, wodurch die Technik präziser und effektiver angewandt
werden kann.
So positiv die verbesserte didaktische Vermittlung zu bewerten ist, entsteht dadurch
bei manchen Studenten die Überzeugung, sie hätten schon alles durchdrungen. Gut mit
Skripten bestückt, werden sie kritischer mit den Lehrern anstatt mit sich selbst und
laufen Gefahr sich zu überschätzen. Dabei ist eine osteopathische Behandlung eher
wie eine Annäherung, wie ein Dialog, indem man mit bestimmten Techniken in einem Gewebe
vitale Reaktionen hervorrufen möchte. Dies gilt gleichermaßen für einen Trust, eine
fasziale Technik und viszerale oder neurokraniale Techniken.
Entwicklungsstadien
Osteopathie ist keine Sammlung von Techniken. Still meinte sogar, dass er nie eine
Technik vermittelt habe. Natürlich hat er Techniken als präzise Annäherung gelehrt,
aber sie sind eben nur als Mittel zum Zweck des Dialogs zu verstehen und ein Dialog
ist wie jedes Gespräch nie exakt zu wiederholen. Immer sollten die individuellen Besonderheiten
wahrgenommen und berücksichtigt werden.
Es ist auch einleuchtend, dass die Fähigkeit, zunehmend mehr Besonderheiten zu erkennen
und sich in den Techniken optimal an den Patienten anpassen zu können, von der aufgewendeten
Zeit und Erfahrung abhängt wie auch von der offenen und fragenden, also forschenden
Haltung. Ann Wales hat sich wohl in diesem Sinne als ständige Anfängerin begriffen,
was von größter Fortschrittlichkeit zeugt.
Das führt mich direkt zu einem gehaltvollen Witz über die 4 Entwicklungsstadien eines
Osteopathen: Das 1. Stadium eines Osteopathen ist die begründete Unsicherheit. Das
2. ist die unbegründete Sicherheit. Das 3. ist die begründete Sicherheit und das 4.
die unbegründete Unsicherheit.
Während ein Anfänger begründet unsicher ist, stellt sich nach etwas Zeit die Überzeugung
ein, etwas zu können, was zu deutlich mehr Selbstsicherheit und zunächst Selbstüberschätzung
führt. Die Erkenntnis und Erfahrung sind noch nicht so tiefgreifend, dass die Sicherheit
begründet wäre. Erst mit zunehmender Berufserfahrung wird die Sicherheit in Kenntnis
und Ausübung so groß, dass sie auch aus Patientensicht als begründet angenommen werden
kann. Doch ist das nicht das Ende der Entwicklung. Während die Sammlung von Erfahrungen
und Forschungen weiter wächst, wächst auch die Erkenntnis, wie groß das zu bearbeitende
Feld ist. Es ist schier nicht zu überschauen und letztlich nicht zu kontrollieren.
Die Sicherheit der korrekt und kunstgerecht lege artis ausgeführten Techniken bleibt
über die Zeit erhalten. Zusätzlich erwirbt man einen aufmerksamen Zweifel, weil die
Antwort des Gewebes nicht zu kontrollieren ist und bei jeder Behandlung unerwartete
Reaktionen aufzeigen kann. Auch wenn mit der Zeit die Erfahrung immer größer wird
und aufgrund der großen „Gesprächserfahrung“ die Verläufe oft gut einschätzbar sind,
ist das klare Bewusstsein von den potenziellen, unkontrollierbaren und unvorhersehbaren
Wendungen doch das weitest fortgeschrittene Stadium und somit Ziel der professionellen
und persönlichen Entwicklung.
Elemente der Heilung
Es ist ein Segen, wenn sich diese Erkenntnis schon früh einstellt. Einige ältere Kollegen
haben für mich eine vorbildliche Haltung eingenommen. Nach eigener Aussage haben sie
diese Haltung erst gegen Ende ihrer Berufsausübung erworben. Es ist der leise Zweifel
an den eigenen Fähigkeiten, der gepaart mit der professionellen Gewissheit die eigene
Haltung verfeinert. Die Begründung dieser Haltung liegt aber im Patienten selbst:
Es ist immer der Patient, der das wesentliche Element der Heilung ist. Das gilt für jeglichen
Heilungsprozess. Trotz perfekt ausgeführter HVLA-Technik muss das Gewebe leben, um
sich stabil integrieren und heilen zu können – Heilung findet selbst bei einer perfekt
manipulierten Leiche nicht mehr statt. Die Aufgabe des Heilkundigen besteht darin,
die Umstände so zu beeinflussen, dass der heilende Prozess stattfinden kann, und darin
den Körper optimal zu unterstützen. Sicherheit in der bestmöglichen Therapieausübung
und Ungewissheit in dem vom Körper beeinflussten Ergebnis scheinen mir die optimale
Unterstützung für den Heilungsprozess eines Individuums zu sein. Osteopathen hinterfragen
und kontrollieren bei der Behandlung, ob der Heilungsprozess günstig verläuft und
korrigieren ihr Vorgehen bei Bedarf.
Auch Ann Wales scheint bei ihren Behandlungen, die sie teilweise über Stunden ausgedehnt
haben soll, das Quantum an vorbildlicher Unsicherheit mit sich geführt zu haben. Man
führt eine Behandlung als Dialog so lange, bis der Patient für sich an den richtigen
Punkt gekommen ist. Dies kann manchmal schnell gehen, aber manchmal braucht es auch
lange, weil es nicht nur auf den „enorm qualifizierten“ Osteopathen ankommt, sondern
im Wesentlichen auf den Patienten und sein Vermögen zu reagieren.
Da die menschliche Komplexität als offenes System unbegrenzt und unüberschaubar ist,
fordert die osteopathische Methode im besonderen Maße zur ständigen Fortbildung heraus,
um das Verständnis für die menschlichen Abläufe ständig zu erweitern.
Systemische Interaktion
Die verschiedenen Dimensionen des Menschen stehen untereinander in systemischer Wechselwirkung
und machen ihn in seiner Gesamtheit aus ([Abb. 2]). Dies wird u. a. durch die Physiologie wissenschaftlich beschrieben, wobei die
Osteopathie die funktionellen und psychophysikalischen Wechselwirkungen konsequent
und direkt für den therapeutischen Einsatz ihrer speziellen Techniken nutzt. Die roten
Pfeile in [Abb. 2] stehen für eine unterschiedliche Dynamik der Dimensionen. Sie zeigen sowohl das
individuelle Dysfunktionsmuster an als auch den Versuch, diese Dysbalancen dynamisch
im Gleichgewicht zu halten. Je mehr Aspekte des Zusammenspiels wir berücksichtigen,
umso mehr verstehen und begegnen wir dem Menschen als einem individuellen Ganzen.
Solange der Mensch lebt, ist Balance zu finden.
Behandlungsziel ist die freie Bewegung in möglichst allen Dimensionen, wodurch sich
eine freie Dynamik entfalten kann: im Allgemeinen, im Speziellen, im Gewebe, Organen
und Funktionskreisläufen, sowie beim ganzen Menschen.
Abb. 2 Verschiedene Dimensionen und individuelle Ausprägung des Individuums. (aus: [4])
Balance
In der osteopathischen Ausbildung ist die Praxis und Selbsterfahrung ein elementarer
Bestandteil, da Dialoge ein praktisches Können erfordern und nicht theoretisch erlernt
werden können. Eine biomechanische Dysfunktion sollte biomechanisch angesprochen und
gelöst werden können, bei einer emotionalen Dysfunktion braucht es die Fähigkeit,
eben dort resonanzfähig und aktiv sein zu können. Elektromagnetische Vorgänge im Patienten
stehen in Wechselwirkung mit elektromagnetischen Prozessen im Therapeuten (z. B. das
elektromagnetische Feld des Herzens mit einem messbaren Radius von 2 m).
Die Dysfunktionen der verschiedenen Dimensionen verschieben den Balancepunkt des Menschen
und stellen überdies sein Funktionsmuster dar ([Abb. 2]). Dies umfassend wahrnehmen und im Sinne einer Behandlung damit in „physikalische
Resonanz“ treten zu können, ist Grundlage der therapeutischen Tätigkeit. Während solche
Dialoge beim Laien meist unbewusst erfolgen, muss man für therapeutische Ausbildungen
fordern, dass hier klare Analysen den Untersuchungs- und Behandlungsmodus professionalisieren.
Dialoge sind nicht kontrollierbar oder vorhersehbar, genau wie Gespräche zwischen
freien Partnern. Während des therapeutischen Prozesses sollte der Osteopath den Dialog
aufnehmen können. Notwendig ist dazu Wahrnehmungsfähigkeit sowie weiterhin die Fähigkeit,
eigene Impulse als Anregungen frei und produktiv einsetzen zu können. Dieser freie
Einsatz von Behandlungsimpulsen ist von der eigenen Balance abhängig. Die eigene Balance
ist ein Feld steter Übung und Arbeit an sich selbst.
Es scheint manchen Osteopathen unmöglich zu sein, eine balancierte, d. h. neutrale
und objektive Haltung zu entwickeln. Zugegebenermaßen, dies mag schwierig bzw. höchst
anspruchsvoll sein, aber es gibt keine akzeptable Alternative, da wir den goldenen
Standard von randomisierten Doppelblindstudien nicht bei offenen physiologischen Prozessen
in vivo einsetzen können. Studien sind auf bestimmte Fragestellungen hin geformt und
zugespitzt, während komplexe menschliche Prozesse stets variablen Anforderungen durch
die Umwelt ausgesetzt sind. Es ist unbedingt anzuerkennen, dass Leben in seiner Komplexität
nun mal ein Prozess eines offenen Systems ist.
Um eine neutrale Haltung zu entwickeln, ist Balance nötig. Die Analyse der einfachen
Grundgesetze, auf denen das Balance-Konzept beruht, zeigt, dass es sich lohnt, diese
Grundgesetze für sich selbst zu erkunden.
Mittels Balance-Konzept [1], [2] kann man komplexe Systeme in einen einzigen Balancepunkt verdichten und der einfachen
Interpretation zugänglich machen. Die Besonderheit des Konzepts ist die Synthese von
logischem Verständnis und einfacher Wahrnehmung. Ratio und direkte wie subjektive
Wahrnehmung stehen nicht mehr im Widerspruch zueinander. Es ist eine, wenn nicht sogar
die Möglichkeit, komplexen Systemen geordnet zu begegnen und sie einfach zu handhaben.
Die Erfahrung dieser Normalität, die einem natürlichen und freien Fluss der Prozesse
entspricht, bedeutet Einfachheit. Eine Einfachheit, die im Gegensatz zur Trivialität
eine meisterliche Fähigkeit ist.
Kennen und Können
Die Anerkennung dieses Umstands führt zu Demut, die auf klarer Sicherheit der Kompetenz
ruht. So berichtet ein Schüler Rollin Beckers von einer ungewöhnlichen Unterrichtsbegebenheit.
Dieser erhielt beim Stellen einer Frage als Antwort einen Stoß, der ihn gegen eine
Glastür prallen ließ. Dabei ging es wohl um die Möglichkeit, durch den plötzlichen
Impuls aus all seinen Gewohnheiten herauszufallen und in eine ungewohnte Normalität
hineinzugleiten. Diese individuelle Unterrichtssituation ist vergleichbar mit einer
Freisetzung von allen Hindernissen, wie man es einem Patienten wünschen würde. Glücklicherweise
hat Beckers Schüler diesen Vorgang weder empört noch beleidigt, sondern überrascht
aufgenommen. Er hat so viel Offenheit aufbringen können, dass er das Essenzielle des
Impulses als Nachhall mit sich trägt. Er besteht in ihm weiter als ein wichtiges Ereignis
in seinem Erlebnisraum und kann wegen dieser Wertschätzung wohl einfach im Verborgenen
in ihm weiterarbeiten. Vielleicht arbeitet es weiter an seinem „Vorhängeschloss“,
bis dieses endlich die Tür zum Aufspringen freigibt. Dabei kann man beim feinen und
klaren Becker das eher seltene Vermögen meisterlichen Handelns vermuten.
Obwohl Rollin Becker einer der berühmtesten Lehrer ist, gab es anscheinend auch Schüler,
die ihn nicht verstanden haben. Sie waren nicht bereit, ihr eigenes Denkmuster infrage
zu stellen, ihre eigenen Vorannahmen aufzugeben und sich neuen Informationen, neuen
Welten zu öffnen. Rollin Becker ist dafür bekannt, dass er besonders effektiv osteopathisch
behandeln konnte und für Viele Türen geöffnet hat – zu einem größeren Verständnis
und einem vergrößerten Behandlungspotenzial. Es ist erstrebenswert, sich fruchtbaren
Hilfestellungen und Informationen zu öffnen, um diese in die eigene Professionalität
und Menschlichkeit zu integrieren.
Zugleich konkret und abstrakt
Zugleich konkret und abstrakt
Wenn auch diese weit fortgeschrittenen Fähigkeiten faszinierend sind, so bauen sie
doch im professionellen Handeln auf einem Fundament des Kennens und Könnens auf. „Es
ist noch kein Meister vom Himmel gefallen“, ist der Satz, mit dem man zum handwerklichen
Üben aufgefordert wird. Es ist die Kunst eines Meisters, die das handwerkliche Können
mit der höchsten Qualität ausstattet. Es ist der Griff eines Meisters, der ein Werkstück
so fasst, dass alles richtig sitzt.
Was bedeutet das, wenn das Werkstück lebendiges Gewebe ist? Es ist die rätselhafte
Balance, in die ein Mensch dann kommt, eine Balance die nichts Verfälschendes, nichts
extra beinhaltet. Doch diese Einfachheit ist höchster Anspruch in einer Behandlung
– zugleich konkret und abstrakt. Eine Frage bleibt steter Begleiter: Was ist neben
einem therapeutischen Impuls wegzulassen, damit der therapeutische Prozess von einem
Osteopathen fruchtbar begleitet oder auch geführt werden kann? Welche widersprüchlichen
Impulse führe ich unwillkürlich und von mir selbst unbemerkt zeitgleich aus schlechter
Angewohnheit aus? Diese widerstreitenden Impulse behindern den einfachen therapeutischen
Prozess bzw. Dialog und sollten von uns weggelassen werden. Dies fordert einen Osteopathen,
seine Dialogfähigkeit lebenslang zu erweitern.
Der Lernprozess in der Osteopathie ist Herausforderung und Chance für die ständige
wissenschaftliche wie auch persönliche Entwicklung, oder wie man es psychologisch
ausdrücken könnte, menschliche Reife. Es sind Werte wie Integrität der Persönlichkeit,
Aufrichtigkeit und menschliche Wärme, die das Vertrauen des Patienten in den Therapeuten
rechtfertigen.
In der Entwicklung und Pflege der Fähigkeiten von Wahrnehmung und Behandlung liegt
eine große Verantwortung. Eine profunde Ausbildung und fortwährende Fortbildung sollten
der Verantwortung gerecht werden und verpflichtend sein.