ergopraxis 2019; 12(01): 45-47
DOI: 10.1055/a-0732-9188
Perspektiven
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Schwierige Mitarbeiter? Gibt’s nicht! – Führen lernen

Barbara Freitag-Herse

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Publication Date:
04 January 2019 (online)

 

Wir Praxisinhaber und Therapeuten in leitender Funktion sind momentan in einer fantastischen Situation, die uns vermutlich erst in 10 bis 15 Jahren klar wird, wenn wir zurückblicken. Denn: Wir haben keine Ahnung von Führung. Und das ist die beste Chance unserer Zeit!


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Barbara Freitag-Herse

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Barbara Freitag-Herse ist selbstständige Ergotherapeutin, Coach, Dozentin und Kommunikationstrainerin. Seit vielen Jahren begleitet sie therapeutische und pädagogische Teams in Findungs- und Konfliktsituationen. Hier und auch in den Familiencoachings liegt ihr besonders der wertschätzende und gleichwürdige Umgang miteinander am Herzen. „Gemeinsam zu Begeisterung, Lachen und Entwicklung“ ist ihr Grundthema bei Workshops und Seminaren.

„Wie bitte?“, werden Sie jetzt fragen. „Was ist daran denn so wunderbar? Ich weiß nicht, wie ich Mitarbeiterin X dazu bringen soll, das zu tun, was ich will. Ich bekomme die Krise, wenn Mitarbeiter Y nicht endlich aufhört zu motzen und alles schlechtzureden. Und Z quatscht ständig über private Dinge, nur seine Verordnungen bringt er nicht an den Start …“

Ich kenne diese Reaktion. Wenn ich so in einen Workshop für Praxisinhaber starte, bleiben die gewünschte Zustimmung und das ersehnte Lächeln erst mal aus. Es hilft nur eins: Ich bitte die Teilnehmer um Zeit. Zeit haben wir ja heute scheinbar nicht mehr, wir laufen eher in gebeugter Haltung durchs Leben, den Kopf demütig gesenkt über dem omnipräsenten Smartphone oder Tablet. Und doch haben die Teilnehmer den Workshop gebucht, sind angereist – eine gute Chance, dass sie mir und auch sich selbst etwas Zeit schenken. Womöglich auch einen Vertrauensvorschuss …

Ich kenne auch die Sehnsucht nach möglichst schnellen Lösungen. Wir alle kennen sie, wenn wir uns nur die Titelseiten der Zeitschriften ansehen: „15 Kilo in drei Wochen abnehmen“, „In zehn Minuten zum flachen Bauch“ und „Mit einer Stunde Arbeit Millionen verdienen“. Auch die Coaching-Szene ist voll von diesen Drive-in-Versprechen: „Selbstvertrauen in zwei Minuten“, „Mitarbeiter motivieren in zwei Schritten“ und „Umsatz steigern ohne Mühe“.

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Ob Quasselstrippe oder Drückeberger, Ulknudel oder Nörgler – Ihr Respekt vor jedem Einzelnen und Ihre Fähigkeit als Führungskraft machen aus dem „Hühnerhaufen“ ein gut funktionierendes Team.
Abb.: S. Schaaf
Wie konstruktive, langfristige Veränderung gelingt

1 Selbstreflexion
Was genau nervt mich an dem Verhalten von X? Ist er faul? Was empfinde ich als faul? Lebe ich ihm vor, was ich erwarte? Wo können meine Mitarbeiter mich in der Faulheit beobachten? Gibt es Dinge, die ich schon länger aufschiebe, über die ich selbst lieber jammere, als sie zu ändern?

Selbst wenn Sie bei diesen Fragen an sich selbst keine Antwort finden, ist es gut, sie sich zu stellen, denn dann wissen Sie, dass Sie in diesem Bereich makellos sind. Ich gebe zu, ich bin es nicht …

2 Klare Kommunikation – miteinander nicht übereinander
Habe ich klar kommuniziert, was ich erwarte? Habe ich mich versichert, dass auch angekommen ist, was ich erwarte, oder habe ich das vielleicht mit Worthülsen so verwurschtelt, dass der Mitarbeiter mich nicht verstehen konnte? Habe ich dafür Sorge getragen, dass die wichtigen Abläufe in meiner Praxis einsehbar sind? Habe ich der Mitarbeiterin, die mich durch ihr ständiges Twittern nervt, klar gesagt, dass ich das während der Arbeitszeit nicht will, oder habe ich nur kleine genervte Zeichen und mysteriöse Gesten gemacht in der Hoffnung, dass Sie es doch bitte verstehen möge?

3 Respekt – Spiegel statt Brille macht handlungsfähig!
Dass sich Menschen spiegeln, sollte gerade uns klar sein, ist es doch ein großer Teil dessen, was unsere Therapien ausmacht. Das Wort Respekt steht in jedem Unternehmensleitbild und gilt als selbstverständlich. Scheinbar einfach setzen wir es als gegeben voraus. Unsere Welt sieht jedoch völlig anders aus. Entscheidend dafür ist unter anderem die Unachtsamkeit. Aus Versehen schlüpfen uns Respektlosigkeiten durch die Gedanken und über die Lippen.

Behandle ich mich und den Mitarbeiter respektvoll, wenn ich an ihn als Faulpelz, Drückeberger oder Labertasche denke? Wie respektvoll ist es, einem Mitarbeiter einen Stempel zu geben, an dem er zwar seinen Anteil hat, den er aber selbst nicht entfernen kann? Sie können in der Sache hart argumentieren, aber sobald sie respektlos sind, haben Sie Ihre Führungskompetenz verloren.

Eines der wichtigsten Axiome des Neurolinguistischen Programmierens (NLP) besagt, dass jedes Verhalten positiv motiviert ist. Es gibt also stets einen guten Grund, warum sich ein Mitarbeiter so verhält, wie er es gerade tut. Die Quasselstrippe hat vielleicht die Absicht, etwas mehr Gemeinschaftsgefühl ins Team zu bringen. Der Nörgler hat vielleicht ein hohes Bedürfnis nach Sicherheit und sorgt sich um den langfristigen Fortbestand der Praxis oder um die persönlichen Ressourcen der Mitarbeiter.

Nur mit Respekt vor diesen Bedürfnissen wird sich Ihr Gegenüber gesehen und gehört fühlen. Mit einer Bagatellisierung im Sinne von: „Ach, so schlimm ist das nicht, das kann doch jeder“ werden Sie niemanden erreichen, unter Umständen nur die innere Kündigung beschleunigen.

4 Konsequenz
Klare Regeln und Konsequenzen geben – ähnlich wie die Leitplanken an der Autobahn – Halt und Sicherheit. Einen Mitarbeiter, der durch sein Verhalten trotz allen Respekts und aller Selbstreflexion Ihrerseits und klarer Kommunikation ein Störfaktor im ihrem Team ist, werden sie dauerhaft konsequent behandeln müssen, um ihr restliches Team zu schützen. Das bedeutet in letzter Konsequenz auch Kündigung. Das kann uns menschlich leidtun, jedoch ist es manchmal das letzte und einzige Mittel der Wahl.

5 Zeit
Das Wichtigste, um schwierigen Situationen zu begegnen, ist das, was wir uns selbst am wenigsten gestatten: Zeit nehmen für die eigene Entwicklung. Erlauben Sie sich zu lernen, und erwarten Sie nicht, können zu müssen. Die Entwicklung des eigenen Führungsstils, um sich auch in anstrengenden Gegebenheiten zu positionieren und zu handeln, benötigt Zeit. Atmen Sie durch. Sie müssen das nicht können, Sie dürfen es langsam lernen. Gönnen Sie sich eine kostenlose Fortbildung: Nehmen Sie sich ein Blatt Papier, ein Tagebuch, einen Bierdeckel oder eine Serviette, je nachdem, wo Sie gerade sind. Schreiben sie fünf Dinge auf, die Ihnen heute gut gelungen sind, und eine Sache, die sie beim nächsten Mal anders machen wollen und wie.

Diese Fortbildung kostet Sie zehn Minuten, jedoch täglich! Starten Sie heute und schreiben mir in vier Wochen, was sich verändert hat, was sie erlebt haben. Ich liebe diese Rückmeldungen, die immer wieder bei mir eintrudeln. Es ist einfach wunderbar, wie sich Menschen selbst und ihr Team entwickeln können, wenn sie sich den Raum und die Zeit dafür geben.

Sicher verstecken sich in solchen Beiträgen gute Tipps und Anregungen. Aber mal im Ernst: Sagen Sie einem Patienten, der sich mit den Auswirkungen seines Apoplex oder einer Handverletzung herumschlägt, tatsächlich: „Zehn Minuten üben reichen aus“? Ja, das tun Sie – mit dem entscheidenden Zusatz: „täglich“! Warum erwarten wir dann von uns, dass wir das mit dem Führen von Mitarbeitern, dem Betriebsklima und den Konflikten sofort und dauerhaft checken? Es ist ein Lernprozess, und Sie werden es lernen, genauso, wie Sie laufen gelernt haben: mit der Sehnsucht nach dem Überblick.

Ich behaupte: Schwierige Mitarbeiter gibt es nicht!

Mir ist klar, dass ich damit polarisiere, denn der Arbeitsalltag sieht für viele Praxisinhaber völlig anders aus. Es zeigen sich in den Teams die Quasselstrippe, die nervige Ulknudel, der „Low-Performer“, wie man im Businessdeutsch zu Faulpelzen sagt, und der ewige Nörgler. Wenn wir uns als Führungskraft auf diese Kategorien fokussieren, passiert allerdings Folgendes: Wir betonieren ein Verhalten und setzen uns selbst eine Brille auf, durch die wir den Mitarbeiter betrachten. Selbst wenn der Nörgler nun ein halbes Jahr nicht mehr gemeckert hat, erleben wir bei seiner nächsten, möglicherweise gerechtfertigten Kritik einen Flashback: „Ach, der alte Nörgler wieder.“ Nun, Respekt und Reflexionsfähigkeit sehen anders aus.

Ich kenne das gut. Mit Yvonne habe ich Abi gemacht. Sie war schrecklich. Sie hatte immer alle Hausaufgaben, gute Noten, spielte Tennis und war auch noch nett. Furchtbar! Also wurde sie bei mir zum „Streber“, zum „Schleimer“, um damit zu rechtfertigen, dass meine Hausaufgaben oft im Reich der guten Vorsätze blieben. Dann habe ich Yvonne wiedergetroffen. Sie war bei der neuen Arbeitsstelle die erste Kollegin, die mich herzlich begrüßte. Mist! Mist? Nein, ich bin dem Leben und auch Yvonne dafür dankbar, denn ich habe gelernt, dass ich die Verantwortung für mich und mein Tun abgegeben hatte. Durch den Stempel, den ich ihr verpasst hatte, war ich nicht mehr reflexionsfähig, gefangen im Limbischen System zwischen Angriff oder Flucht.

Als Führungskraft wäre es jedoch wirklich schlau, sich aus dem archaischen Verhalten in Richtung Verstand zu bewegen. Sonst führen Sie nicht, sondern werden geführt. Sie werden geführt von Ihrem Kopfkino, das sich in unzähligen Szenarien ausmalt, wie alles den Bach hinuntergeht.

Um aus diesen Ressourcen zerstörenden Schleifen auszubrechen, kann uns als erstes die Sprache helfen. Überlegen Sie einmal, was sich ändert, wenn Sie nicht an einen „schwierigen Mitarbeiter“ denken, sondern an eine „schwierige Situation“. Eine Situation, die sich für Sie schwierig darstellt, ist anstrengend, das mag sein, aber sie ist nicht schlimm, nicht ausweglos. Sie werden wieder handlungsfähig, reflexionsfähig und können die fünf Punkte umsetzen, die eine konstruktive und langfristige Veränderung ermöglichen (WIE KONSTRUKTIVE, LANGFRISTIGE VERÄNDERUNG GELINGT).


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Nutzen Sie die Chance der Zeit, in der wir momentan leben!

In unserer Zeit und in unserem Beruf liegt gerade jetzt eine fantastische Chance bereit. Denn in der gesamten wirtschaftlichen Unternehmenswelt geht ein Wandel vor. Es gab noch nie so viele Vorträge, Seminare und Workshops zu gesundem Führen, achtsamem Miteinander und respektvoller Kommunikation wie in dieser Zeit. Das ist gut so! Es hat sich herumgesprochen und es wurde erlebt, dass Unternehmen, die nur auf Umsatz, Positionierung und Wachstum ausgelegt sind, auf Dauer ein Problem haben. Entweder laufen denen die Mitarbeiter weg oder diese werden dauerhaft krank.

Nun stellen Sie sich vor, sie säßen in der Führungsetage eines großen Industrieunternehmens und wollten das verändern. Mit wie vielen alten Strukturen der Respektlosigkeit und der verbalen Gewalt müssten Sie es aufnehmen? Wie viel Kraft brauchen Menschen, die hier einen Paradigmenwechsel anstoßen und steuern wollen? Alle, die das versuchen, haben meinen tiefsten Respekt und meine Dankbarkeit.

Wir Therapeuten haben gerade jetzt die Möglichkeit, ein völlig neues Selbstverständnis von gesundem Führen zu etablieren, weil es eben noch keine so festgefahrenen Strukturen gibt, weil wir erst neu lernen, wie Führen gehen kann. Wir können festlegen, zu was wir „Ja“ sagen können und was wir nicht wollen. Wir sind doch diejenigen, die sich mit Gesundheit auskennen! Genau dafür sind wir die Profis, auf muskulärer, psychischer und mentaler Ebene. Wir können gesellschaftliche Vorreiter werden und zeigen, wie es gehen kann, dass man gern zur Arbeit geht, dass man sich gern und respektvoll begegnet, dass man keine Angst vor dem Chef haben muss und dass wir unseren Mitarbeitern vertrauen können. Wir Chefs können dazu beitragen, dass unsere Berufe wieder beliebter werden, trotz aller gesetzlichen Umstände. Wir können dazu beitragen, dass die Therapeuten von morgen die Patienten von morgen menschlich, professionell und respektvoll behandeln. Wir können dazu beitragen, dass irgendwann einmal bei einer Statistik der Krankenkassen auffällt, dass der Krankenstand in den therapeutischen Berufen signifikant niedriger ist als in anderen Sparten. Nicht weil wir Prämien für ein „Nicht-krank-Werden“ verteilen, sondern weil wir uns einfach mit den Gesetzen der Gesundheit auf allen Ebenen auskennen und diese umsetzen.

Wir Arbeitgeber können dazu beitragen, dass sich ein therapeutischer Selbstwert in unserem Beruf entwickelt. Wir können dazu beitragen, dass sich unsere Welt tatsächlich Stück für Stück zu einem besseren Ort verwandelt.

Das geht nicht in zehn Minuten, aber ich freu mich drauf!


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Ob Quasselstrippe oder Drückeberger, Ulknudel oder Nörgler – Ihr Respekt vor jedem Einzelnen und Ihre Fähigkeit als Führungskraft machen aus dem „Hühnerhaufen“ ein gut funktionierendes Team.
Abb.: S. Schaaf