PSYCH up2date 2019; 13(01): 3
DOI: 10.1055/a-0753-9322
Editorial
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Schweregradbeurteilung psychischer Störungen – oft zu wenig berücksichtigt

Rolf-Dieter Stieglitz
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Publication Date:
04 January 2019 (online)

Die Diagnostik psychischer Störungen anhand der aktuellen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-5 ist zentraler Bestandteil psychiatrischer Diagnostik. Im Hinblick auf Behandlungsplanung und -evaluation reichen Diagnosen jedoch oft nicht aus. Sie liefern alleine nicht genügend Informationen über den Patienten, u. a. nicht im Hinblick auf den Schweregrad der Störung. Patienten mit derselben Diagnose können sich aufgrund des polythetischen Ansatzes (nicht alle Kriterien müssen erfüllt sein) beträchtlich unterscheiden. Es bedarf daher des Einsatzes von Instrumenten, meist Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren, zur Quantifizierung des Schweregrades der Symptomatik (generell wie störungsspezifisch). Hierfür gibt es verschiedene Argumente. So wird z. B. in Leitlinien zur Depression darauf hingewiesen, dass zu Behandlungsbeginn der Schweregrad der Störung zu berücksichtigen sei [4]. Schweregradbeurteilungen sind aber auch generell von großer Bedeutung hinsichtlich von Therapieentscheidungen, der Wahl der Art der Intervention sowie der Beendigung oder Fortsetzung der Behandlung [5]. Dazu können Ratingskalen hilfreich eingesetzt werden. Waszcuk et al. [3] konnten z. B. zeigen, dass sich Kliniker in der Entscheidung für eine medikamentöse Behandlung mehr an der Symptomatik als an Diagnosen orientieren und folgern daraus, dass die klinische Nützlichkeit psychiatrischer Diagnosen eher begrenzt ist: „most of the examined medications were transdiagnostic, as they were associated with symptoms of different disorders“ (p. 86), was in Übereinstimmung mit der klinischen Erfahrung steht. Dimensionale Beschreibungen der Symptomatik mittels Ratingskalen sind informativer über den Patienten als traditionelle Diagnosen und haben den Vorteil, das Problem der Heterogenität und Komorbidität zu reduzieren.

 
  • Literatur

  • 1 Stieglitz RD, Freyberger HJ, Hiller W. Evidence-Based Assessment (EBA) in Psychiatrie, Klinischer Psychologie und Psychotherapie. ZPPP 2018; 66: 145-155
  • 2 Tinnerby N, Andersen JH, Sǿndergaard S. et al.. A systematic review of the clinimetric properties of the 6-item version of the Hamilton Depression-Rating Scale (HAM-D6). Psychother Psychosom 2017; 86: 141-149
  • 3 Waszcuk MA, Zimmerman M, Ruggero C. et al.. What do clinicians treat: Diagnoses or symptoms? The incremental validity of a symptom-based, dimensional characterization of emotional disorders in predicting medication prescription patterns. Compr Psychiatr 2017; 79: 80-88
  • 4 Zimmerman M, Martinez JH, Friedman M. et al.. How can we use depression severity to guide treatment selection when measures of depression categorize patients differently?. J Clin Psychiatry 2012; 73: 1287-1291
  • 5 Zimmerman M, Morgan TA, Stanton K. The severity of psychiatric disorders. World Psychiatry 2018; 17: 258-275