Begriffsbestimmung
Die Orthese stützt, korrigiert und stabilisiert eine vorhandene Gliedmaße/Körperteil.
Prothese
Die Prothese ersetzt eine nicht vorhandene Gliedmaße/Körperteil.
Orthoprothese
Die Orthoprothese ist eine Kombination aus Orthese und Prothese; stützt und korrigiert
den vorhandenen fehlgebildeten Körperabschnitt und ersetzt z. B. den fehlenden Anteil.
Dysmelie
Eine Dysmelie ist eine angeborene Fehlbildung einer oder mehrerer Gliedmaßen. Nach
ICD-10 spricht man von „sonstigen Reduktionsdefekte nicht näher bezeichneter Extremität(en)“
Q73.8. Weitere Fachbegriffe und Differenzierungen rund um die Dysmelie fasst die folgende
Übersicht zusammen.
Übersicht
Fachbegriffe rund um die Dysmelie
Adaktylie
Einzelne oder alle Finger oder Zehen fehlen.
Akromelie
Verkürzung besonders der distalen Extremitätenanteile (Finger oder Zehen).
Amelie
Völliges Fehlen der Gliedmaße(n).
Apodie
Fehlen des Fußes.
Brachydaktylie
Verkürzungen von Gliedmaßen: Finger oder Zehen.
Ektrodaktylie
Fehlbildung des Hand- oder Fußskeletts: Finger oder Zehen sind verkürzt oder fehlen
(Oligodaktylie); wird auch als Spalthand bzw. Spaltfuß bezeichnet.
Ektromelie
Einzelne oder mehrere Röhrenknochen sind nicht oder zu klein ausgebildet.
Kamptodaktylie
Beugekontraktur der Mittelgelenke, meist des Kleinfingers.
Klinodaktylie
Angeborene seitlich-winklige Abknickung eines Fingerglieds im Handskelett.
Mesomelie
Verkürzung der mittleren Anteile der Extremität (Unterarme oder Unterschenkel).
Mirror Foot
Form der Polydaktylie mit partieller Fußdoppelung.
Mikromelie
Angeborene Verkürzung der Gliedmaße(n).
Oligodaktylie
Völliges Fehlen von Fingern oder Zehen.
Peromelie
Transversaler Defekt, amputationsartiger Stumpf.
Perodaktylie
Verkürzte Finger/Stummelfingrigkeit.
Phokomelie
Robbengliedrigkeit: Fehlen der Röhrenknochen der Gliedmaßen mit Ansätzen der Hände
bzw. Füße am Schulter- bzw. Hüftgelenk.
Polydaktylie
Vermehrte Anzahl von Anteilen von Hand- oder Fußgliedmaßen.
Proteus-Syndrom
Regionaler Überwuchs, vielfältiges klinisches Erscheinungsbild. Es entwickeln sich
häufig Tumoren.
Rhizomelie
Verkürzung der proximalen Anteile der Extremität (Oberarme oder Oberschenkel).
Syndaktylie
Häutige, knöcherne oder totale Verwachsung bzw. Nichttrennung von Finger- oder Zehengliedern.
Synostosen
Knöcherne Verbindung (Verschmelzung) zweier Knochen, die zuvor knorpelig oder bindegewebig
verbunden waren.
Tetraamelie
Alle vier Gliedmaßen sind betroffen.
Ätiologie
Die Störung in der Extremitätenentwicklung tritt zumeist während der sensiblen Phase
der Schwangerschaft zwischen dem 29. und 46. Tag durch exogene Noxen auf, z. B.
-
Sauerstoffmangel,
-
bestimmte Pharmaka, z. B. Antiepileptika, Thalidomid
-
Infektionen, z. B. Rubellavirus, Toxoplasmose
-
Mangelernährung,
-
Bestrahlung der Schwangeren,
-
amniotisches-Band-Syndrom.
Die Ausbildung der Störung hängt ab vom Zeitpunkt des Einwirkens und der Wirkungsdauer
der Noxen [1]. Es spielen auch genetische Faktoren (Holt-Oram-Syndrom [2] oder TAR-Syndrom) und Spontanmutationen eine Rolle [3], [4], [5].
Ein ätiologischer Zusammenhang zu exogenen Faktoren gelang bisher nur bei Thalidomid
[3].
Orthopädietechnische Versorgungsmöglichkeiten
Die orthopädietechnische Versorgung bei Dysmelien ist sehr individuell. Sie erfolgt
in Abhängigkeit der Einschränkung, der Fehlbildung und der Ansprüche des Patienten
und auch der Eltern.
Tipp
Wichtigster Grundsatz ist, dass Hilfsmittel helfen sollen!
Deshalb nimmt im Rahmen der Versorgung die Hilfsmittelerprobung unter physio- und
ergotherapeutischer Unterstützung einen großen Stellenwert ein.
Bei der Versorgung müssen viele Aspekte berücksichtigt werden:
-
Grunderkrankung.
-
Ziel der Versorgung.
-
Motorisches Niveau (aktuell und angestrebt).
-
Weitere Defizite:
-
Liegen Deformitäten vor? Gegebenenfalls Deformitätenanalyse (z. B. Gelenkwinkel) durchführen.
-
Wie ist die Situation von vorhandenen Gelenken:
-
Wie ist die Rückfußstellung:
-
Liegt eine Beinlängendifferenz vor? Wie ist die aktuelle bzw. wie ist die zu erwartende
Beinlängendifferenz?
-
etc.
Zu berücksichtigen sind, (modifiziert nach Baumgartner [7], [8], [9], [10]) neben den direkt die Krankheit oder den Patienten betreffenden Kriterien zur Indikationsstellung
und Erfolgswahrscheinlichkeit einer Orthesen-/Prothesenversorgung, folgende Gesichtspunkte:
-
der körperliche und psychomotorische Entwicklungszustand,
-
der psychische Zustand,
-
die Umwelt,
-
die Ätiologie der Amputation [Behinderung/Einschränkung],
-
die Höhe der Amputation [Behinderung/Einschränkung],
-
die Frage, ob eine ein- oder mehrfache Amputation [Behinderung/Einschränkung] vorliegt,
-
die Zeitspanne zwischen der Amputation [Behinderung/Einschränkung] und der Prothesenversorgung,
-
die Möglichkeiten der Orthopädietechnik.
Nachfolgend werden die Aspekte nach Baumgartner [7], [8], [9], [10] kurz erläutert:
Körperlicher und psychomotorischer Entwicklungszustand
Zu einer erfolgreichen Versorgung müssen berücksichtigt werden:
-
physische Probleme, z. B.
-
Grunderkrankung,
-
weitere Fehlbildungen,
-
Weichteilverhältnisse,
-
die geistige Entwicklung,
-
körperliche Entwicklung (die Prothese/Orthese muss sich den Entwicklungsphasen anpassen:
Säugling, Krabbelkind, Schulkind oder Jugendliche haben verschiedene Bedürfnisse [11]).
Psychischer Zustand
Merke
„Der psychische Zustand ist wichtiger als der körperliche. Wir versorgen primär den
Patienten, nicht den Stumpf“ resp. die Extremität [8].
Jeder Betroffene und dessen Eltern durchleben den Bewältigungsprozess der Erkrankung:
Schuldgefühle, Schock, Verleugnung, Aggression, Depression, Verhandeln und Akzeptanz.
Dies vollzieht sich in Abhängigkeit von der Ausprägung der Fehlbildung, dem Wesen,
dem Alter und der Reife des Kindes sowie dem sozialen Umfeld [12].
Umwelt
Die Umwelt besteht aus dem sozialen Umfeld, aber auch den kulturellen Traditionen.
Bei kleinen Kindern ist v. a. der funktionelle Wert der Versorgung wichtig. Im Schulalter
tritt der kosmetische Aspekt mehr in den Vordergrund. Es besteht der Wunsch nach Anpassung
des eigenen Erscheinungsbildes an das von Gleichaltrigen.
Ätiologie
Bei Kindern mit angeborenen Defekten sind klare Vorteile die voll erhaltene Sensibilität
am Stumpfende sowie die meist bessere Weichteilpolsterung als bei posttraumatischen
Stümpfen.
Amputationshöhe/Höhe der Behinderung/Einschränkung
Patienten mit einer peripheren Dysmelie (z. B. der Finger oder Zehen) benötigen meist
keine Prothese/Orthese, da sie nur eine sehr geringe Funktionsminderung erfahren.
Je kürzer die Extremität, desto größer ist der Wunsch des Patienten nach einer guten
Versorgung.
Mehrfache Amputationen/Behinderung/
Einschränkung
Die Schwierigkeit ergibt sich aus der fehlenden Möglichkeit zur Kompensation. Die
Anforderungen an die Versorgung sind sehr hoch.
Zeitspanne zwischen Amputation und Prothesenversorgung
Eine späte Versorgung führt zumeist zu einer guten Adaptation und einer schlechten
Hilfsmitteltoleranz.
Orthopädietechnik
Wichtig ist die Qualifikation des Orthopädietechnikers bei einer hoch individuellen
Versorgung. Vor allem das Wissen um die verschiedenen Materialien (z. B. Gießharz,
Carbon, Copolymer, Prepreg, Alcantara) ist von entscheidender Bedeutung für Funktion,
Belastbarkeit und Tragekomfort [13], [14].
Da gerade bei Kindern eine häufige Anpassung der Prothese an das Längenwachstum nötig
ist und Reparaturen ebenfalls häufig vorgenommen werden müssen, ist eine unkomplizierte
Erreichbarkeit des Orthopädietechnikers für die positive Entwicklung der Rehabilitation
des Kindes mit der Prothese/Orthese notwendig [7], [8], [9], [10].
Klinische Beispiele
Klinisches Beispiel 1
Es handelt sich um einen 12-jährigen Jungen mit einer kongenitalen Fehlbildung der
unteren Extremitäten: eine Tibiaaplasie rechts und eine Tibiahypoplasie links. Hinzu
kommt eine schwerstgradige Klumpfußfehlstellung beidseits, eine Hexadaktylie links
sowie eine Knieinstabilität links. An der linken Hand lag am Daumen eine Tendovaginitis
stenosans vor, weshalb im weiteren Befundverlauf eine Ringbandspaltung am linken Daumen
durchgeführt wurde, um die Funktion der Hand zu verbessern. Wegen einer schwergradigen
Außenrotationskontraktur des rechten Hüftgelenks wurden eine subtrochantäre Innenrotationsosteotomie
und ein Rectustransfer durchgeführt. Des Weiteren erfolgte mit Beginn der Pubertät
eine Epiphysiodese der rechten distalen Fibula, eine operative Korrektur des linksseitigen
Klumpfußes sowie die Abtragung der 6. Zehe.
Der Junge ist ein aufgeschlossener 12-jähriger Knabe, der inzwischen ein Gymnasium
besucht. Er möchte im Vergleich mit seinen Altersgenossen konkurrenzfähig sein. Auch
im Freizeitbereich möchte er alle Möglichkeiten nutzen, um selbstständig mobil zu
sein.
Bei den vorliegenden Befunden und zur größtmöglichen Selbstständigkeit stellten wir
die Indikation zur Anfertigung einer rechten Oberschenkel-Orthoprothese, die in Analogie
zu einer Borggreve-Prothese gefertigt wurde. Sie wurde mit einem Kunstfuß als Verkürzungsausgleich
ausgestattet sowie mit einer Knieextensionshilfe.
Links wurde eine Oberschenkel-Orthoprothese nach Gipsabdruck gefertigt, die ebenfalls
über einen Kunstfuß als Verkürzungsausgleich verfügt, sowie über eine integrierte
Prepreg-Carbonfeder und ein unilaterales Kniegelenk.
Bei seiner letzten klinischen Untersuchung zeigte der Junge mit seiner orthoprothetischen
Neuversorgung ein flüssiges, alternierendes und insgesamt dynamisches Gangbild, das
hinsichtlich seiner Gehgeschwindigkeit deutlich variiert werden kann. Das Gangbild
ist nahezu unauffällig, wenn sich dem Betrachter durch das Tragen von Kleidungsstücken
der Blick auf die Orthoprothesen verschließt.
Neben der oben beschriebenen orthoprothetischen Versorgung steht dem Patienten auch
eine wasserfeste Gehhilfe zur Verfügung. Der Junge ist mit seiner aktuellen orthoprothetischen
Versorgung sogar in der Lage, ein Hoverboard zu nutzen ([Abb. 1 a]).
Abb. 1 Klinisches Beispiel 1: beidseitig Tibiahypoplasie/-aplasie mit 6-strahligem Fuß rechts.
a Hoverboard.
b Klinischer Aspekt der unteren Extremität.
c Linksseitiger Klumpfuß und 6-strahliger Fuß.
d Mit orthoprothetischer Versorgung mit rechts Aufbau in Analogie zu einer Borggreve-Prothese
mit Kunstfuß als Verkürzungsausgleich und Knieextensionshilfe. Links Oberschenkel-Orthoprothese
mit ebenfalls einem Kunstfuß als Verkürzungsausgleich, sowie mit integrierter Prepreg-Carbonfeder
und einem unilateralen Kniegelenk.
Klinisches Beispiel 2
Der Junge ist 14 Jahre alt und wurde mit einem fehlgebildeten linken Fuß geboren.
Dabei handelt es sich um einen 4-strahligen Fuß mit einer Beinverkürzung von ca. 6 cm.
Die weitere Diagnostik ergab eine Fibulaaplasie links mit einer im weiteren Wachstum
fortschreitenden kontrakten Pes-equinovarus-Fehlstellung. Im Röntgenbild besteht ein
sogenannter Flat-Top-Talus links.
Der Junge war in der 35. SSW entbunden worden. Bei den Eltern bestand der Wunsch,
möglichst auf operative Interventionen zu verzichten, in Abhängigkeit der Befundentwicklung.
Aufgrund einer rechtsbetonten bilateralen periventrikulären Leukomalazie, die erst
im Alter von 3 Jahren diagnostiziert wurde, entwickelte der Junge eine spastische
Hemiparese links, die nach dem Gross Motor Function Classification System (GMFCS)
in den Level I einzustufen ist, was bedeutet, dass der Junge frei und unabhängig gehfähig
ist.
Demzufolge wurde der Junge zunächst mit einer Unterschenkelorthese in Prepreg-Technik
nach Hafkemeyer versorgt, die über eine vollkontaktige Fußfassung und eine tibiale
Kondylenumgreifung verfügt und dorsal mit einer Prepreg-Carbonfeder ausgestattet ist,
die eine dynamische Fußabwicklung erlaubt ([Abb. 2]). Die varische Rückfußfehlstellung konnte vollständig korrigiert werden, indem die
Ferse in Neutralstellung eingestellt wurde. Der Spitzfuß konnte nur über eine ausgeprägte
Fersensprengung funktionell ausgeglichen werden [13], [14], [15].
Abb. 2 Klinisches Beispiel 2: Pes equinovarus, Fibulaaplasie.
a Klinischer Aspekt a.–p.
b Korrigierbarkeit des Rückfußes mit Fersensprengung (als Verkürzungsausgleich).
c Dynamische Unterschenkelorthese in Prepreg-Technik nach Hafkemeyer.
d Unterschenkelorthese in seitlicher Ansicht.
e Restausgleich der Beinverkürzung.
f Orthesenschuhe.
Im Alter von 13 Jahren erfolgten dann eine operative Stellungskorrektur des linken
Unterschenkels sowie eine Z-förmige Achillessehnenverlängerung. Dieses führte zu einer
verbesserten orthopädietechnischen Versorgungsmöglichkeit und zu einem insgesamt zufriedenstellenden
Korrektur- und Mobilisationsergebnis. Ein halbes Jahr später war eine temporäre Epiphysiodese
der kniegelenknahen Wachstumsfugen rechts durchgeführt worden, um die Beinlängendifferenz
weiter auszugleichen.
Versorgt wurde der Junge zuletzt wegen eines linksbetonten Innenrotationsgangbildes
mit einer handwerklich gefertigten Derotationsbandage sowie mit einer dynamischen
Unterschenkelorthese in Prepreg-Technik für links, die über eine tibiale Kondylenfassung,
eine vollkontaktige Fußbettung in maximaler Rückfußkorrektur und einer dorsalgeführten
individuellen Carbonfeder verfügt. Rechtsseitig wurde eine Ausgleicheinlage gefertigt.
Der Junge nutzt seine Orthese in Verbindung mit Orthesenschuhen sowie wahlweise auch
mit Konfektionsschuhen.
Klinisches Beispiel 3
Die inzwischen 19-jährige Patientin ist seit früher Kindheit in unserer Behandlung.
Sie leidet an einer sogenannten VACTERL-Assoziation (s. a. [Infobox „Hintergrundwissen“]) mit zahlreichen Fehlbildungen innerer Organe:
Hintergrundwissen
Akronym VACTERL
V – vertebrale Anomalien
A – anale und aurikuläre Anomalien
C – Herzfehler (engl.: cardiac Defects)
T – tracheoösophageale Fistel
E – Ösophagusatresie
R – renale Fehlbildung
L – Fehlbildung der Gliedmaßen (engl.: Limb)
Neurologisch bestehen eine partielle Balkenagenesie sowie ein nicht shuntpflichtiger
Hydrocephalus internus. Weitere Fehlbildungen im Bewegungsapparat waren eine Agenesie
des Os sacrum, eine Segmentationsstörung der Thorakalwirbel Th5 und Th6 sowie der
Lendenwirbel L2 bis L5. Die unteren Extremitäten zeigten beidseitig eine schwergradige
Klumpfußfehlstellung, die operativ behandelt werden musste. Wegen einer Adduktorenkontraktur
wurde eine offene Adduktorentenotomie durchgeführt. Des Weiteren bestehen ein ausgeprägter
Innenrotationsdrehfehler des linken Unterschenkels, eine Außenrotationsfehlstellung
des rechten Unterschenkels und ein Klumpfußrezidiv links ([Abb. 3]).
Abb. 3 Klinisches Beispiel 3: VACTERL-Assoziation.
a Rotationsfehlstellung der Unterschenkel (ARO rechts, IRO links) ohne Belastung – klinischer
Aspekt im Sitzen.
b Klinischer Aspekt liegend.
c Maßschuhe zum Transfer.
d Orthoprothetische Versorgung von ventral.
e Orthoprothetische Versorgung von dorsal.
f Orthoprothesen im Adaptiv-Rollstuhl mit anatomisch angepasster Sitz-Rücken-Einheit
nach Vakuumabdruck.
g Orthoprothesen-Neuversorgung nach Wachstum, Kunstfüße als Verkürzungsausgleich (im
Liegen ohne Belastung).
h Stehend.
Die Patientin ist seit früher Kindheit bei uns in Behandlung. Der Wunsch nach Mobilität
war äußerst groß, operative Maßnahmen im Bereich des Skelettsystems sollten auf Wunsch
der Eltern und später auch des Kindes nicht durchgeführt werden. Dennoch wollte das
Mädchen eine größtmögliche Mobilität erreichen, mit der Möglichkeit zumindest transferfähig
zu sein und kurze Wegstrecken innerhalb der Wohnung selbstständig zurücklegen zu können.
Die orthopädietechnische Versorgung besteht aktuell in einer Unterschenkelorthoprothese
für rechts und einer Oberschenkelorthoprothese für links.
Des Weiteren verfügt das Mädchen über einen Adaptivrollstuhl mit Aufnahmemöglichkeit
für ein Handbike sowie über eine anatomisch angepasste Sitz-Rücken-Einheit nach Vakuumabdruck.
Die Transfermöglichkeit unter Nutzung der orthoprothetischen Versorgung erfolgt in
Verbindung mit Unterarmgehstützen.
Klinisches Beispiel 4
Bei dem Jungen handelt es sich um ein bei der Erstvorstellung 2-jähriges Kind, das
uns als Flüchtling aus Syrien vorgestellt wurde. Wegen der eingeschränkten medizinischen
Möglichkeiten bei ungeklärtem Flüchtlingsstatus war eine rasche orthopädietechnische
Versorgung notwendig, um die statomotorischen Möglichkeiten des Kindes zu fördern.
Erstes Ziel war es, selbstständige Steh- und Gehfähigkeit zu ermöglichen, obwohl die
Kniegelenkbeweglichkeit rechts lediglich einen Beuge-/Streckumfang von 100 – 90 – 0°
aufwies. Wegen einer kongenitalen Fehlbildung des rechten Unterschenkels befand sich
der Fuß in einer extremen Spitzfüßigkeit, sodass nur umfangreiche und mehrfache operative
Behandlungsschritte eine langfristige Korrektur und Belastungsfähigkeit des rechten
Beines möglich machen würden ([Abb. 4]).
Abb. 4 Klinisches Beispiel 4: komplexe Fehlbildung der unteren Extremität bei einem 2-jährigen
Jungen mit Tibiaaplasie rechts mit Kniebeugekontraktur und ausgeprägtem Spitzfuß bei
nicht vorhandenem Sprunggelenk.
a, b Eingeschränkte Beuge-Streck-Fähigkeit rechts, Streckdefizit 90°, ausgeprägter Spitzfuß
bei nicht vorhandenem Sprunggelenk.
c Steh- und Gehfähigkeit durch die prothetische Versorgung mit einem Knieruhebein.
d Knieruhebein.
Aufgrund der eingeschränkten medizinischen Behandlungsmöglichkeiten zum Zeitpunkt
des eingeleiteten Asylverfahrens wurde die Indikation zur Anfertigung eines sogenannten
Knieruhebeins gestellt, das durch die differenzierten OP-Möglichkeiten und durch die
Entwicklungen der orthopädietechnischen Produkte inzwischen nicht mehr zur „Standardversorgung“
zählt.
Mit der prothetischen Versorgung war der Junge spontan steh- und gehfähig, wobei er
durch ein diskretes Streckdefizit des rechten Hüftgelenks ein noch leicht auffälliges,
jedoch alternierendes und dynamisches Gangbild zeigt.
Klinisches Beispiel 5
Der Junge kam mit einer angeborenen Fehlbildung der rechtsseitigen Tibia auf die Welt.
Es handelt sich dabei um einen longitudinalen Reduktionsdefekt rechts mit einem dreistrahligen
Fuß im Sinne einer Gabelbildung im Sprunggelenkbereich und Transformation der distalen
Fibula bei Lastübernahme. Klassifiziert nach Jones ist es der Typ 4, nach Weber Typ
2 und nach Kalamchi und Dawe Typ 3. Es besteht klinisch eine ausgeprägte Beinverkürzung,
die im Rahmen des Wachstums sukzessive zugenommen hat.
Die Diagnose der kongenitalen Fehlbildung war sonografisch während der Schwangerschaft
gestellt worden. Damals bestand der Verdacht eines Klumpfußes. Klinisch zeigte sich
unmittelbar nach der Geburt eine Dysplasie des rechten Fußes. Klinisch vermutete man
eine unauffällig ausgestaltete Fibula und Tibia, was sich in der Röntgenkontrolle
später jedoch nicht bestätigte.
Um die klinische Klumpfußfehlstellung zu korrigieren, wurde eine Oberschenkellagerungsorthese
für rechts gefertigt, die über eine ca. 30°ige Knieflexion und über eine supinierende
Fußeinstellung in 20° Plantarflexion verfügte. Damals war die Beinverkürzung rechts
unmittelbar postpartal nur sehr diskret. Mithilfe der Oberschenkelorthese konnte eine
wachstumslenkende Korrektur während der Nacht sichergestellt werden.
Die Vertikalisierung des Kindes erfolgte erstmalig im April 2016 nach Anfertigung
einer Unterschenkelorthese mit Spitzfußausgleich für rechts. Hier konnte durch die
Einstellung des Fußes die Beinlängendifferenz ausgeglichen werden. Im August 2016
wurde die Indikation gestellt für eine knöchelübergreifende, halbwadenhohe Sprunggelenkorthese
in 10° Abduktion und 25° Plantarflexion rechts bei vollkontaktiger Fußfassung. Ein
Verkürzungsausgleich von 25 mm rechts war integriert worden. Mit dieser Orthese zeigte
der Junge ein breitbasiges, selbstständiges und dynamisches Gangbild.
Im April 2017 wurde eine dynamische Unterschenkelorthese in Prepreg-Technik nach Gipsabdruck
für rechts mit tibialer Kondyleneinbettung, vollkontaktiger Fußfassung in Spitzfußstellung
und maximaler Rückfußkorrektur (Neutralstellung) verordnet – ein integrierter Verkürzungsausgleich.
Zu diesem Zeitpunkt war die Beinlängendifferenz weiterhin 2,5 cm. Zu der Orthese wurden
Orthesenschuhe genutzt. Wachstumsbedingt musste im November 2017 eine neue dynamische
Unterschenkelorthese angefertigt werden, mit der der Junge ein Laufrad bedient ([Abb. 5]).
Abb. 5 Klinisches Beispiel 5: angeborene Fehlbildung der rechtsseitigen Tibia.
a Röntgenbefund mit 4 Monaten: dreistrahliger Fuß, Fibula und Tibia rechts dysplastisch.
b Klinischer Befund mit 5 Monaten.
c Klinischer Befund mit 15 Monaten.
d Orthoprothese mit Oberschenkelschaft und frei beweglichem unilateralem Kniegelenk.
e Orthoprothese mit Oberschenkelschaft und frei beweglichem unilateralem Kniegelenk.
f Orthoprothese mit Oberschenkelschaft und frei beweglichem unilateralem Kniegelenk.
g Orthoprothese im Alltagseinsatz in der Wohnung.
h Orthoprothese im Alltagseinsatz im Freien.
i Das Kind mit Orthoprothese auf dem Laufrad.
Unter Steh- und Gehbedingungen hatte der Junge eine deutliche Wachstumsentwicklung
gezeigt, sodass bereits im Januar 2018 eine knieübergreifende Ortho-Prothese für rechts
angefertigt werden musste, die über ein frei bewegliches Kniegelenk verfügt mit kurzer
knieübergreifender Oberschenkelhülse und Einbettung des dreistrahligen Fußes in Verlängerung
der Unterschenkelachse. Hierdurch war ein funktioneller Beinlängenausgleich vollständig
möglich. Neben der orthopädietechnischen Versorgung wurde der Junge physiotherapeutisch
behandelt, einschließlich einer Galileo-Vibrationstherapie, um tonusverbessernd einzuwirken.
Inzwischen trägt der Junge einen Kunstfuß als Verkürzungsausgleich, da die Beinlängendifferenz
weiter zugenommen hat. Im Oktober 2017 war zuungunsten der rechten Seite eine echte
knöcherne Beinlängendifferenz von 8 cm festzustellen. Prognostisch besteht bei dem
Jungen eine prospektive Differenz bei Wachstumsende von ca. 18 cm. Langfristig sollte
hier eine operative Verlängerung durchgeführt werden.