Zeitschrift für Phytotherapie 2019; 40(02): 49-50
DOI: 10.1055/a-0827-8690
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

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Publication Date:
08 May 2019 (online)

In Deutschland hat der Gesetzgeber seit 1992, als bei der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ein Fehlbetrag von über 10 Milliarden DM  offenbar wurde, zahlreiche Schritte unternommen, um die Kosten im Gesundheitswesen zu senken. So verloren auch fast alle zum Selbstmanagement von Krankheiten durch die Bevölkerung geeignete Maßnahmen zunehmend ihre Erstattungsfähigkeit durch die GKV, der verbleibende Rest wurde bei den Ärzten strikt budgetiert. Im Jahr 2004 büßten bekanntlich dann noch die nicht rezeptpflichtigen Arzneimittel, z. B. fast alle Phytopharmaka, die Erstattungsfähigkeit ein. Die Folge war ein massiver Einbruch bei denjenigen Berufsgruppen, die diese Leistungen einschließlich der diesbezüglichen Beratung der Patienten bisher erbracht hatten. Zum Selbstmanagement gehört jedoch, zielsicher qualitativ hochwertige und wirksame Produkte in dem zunächst kaum gesetzlich regulierten Sammelsurium nicht erstattungsfähiger Gesundheitsleistungen, die unter dem Begriff „der zweite Gesundheitsmarkt“ zusammengefasst wurden, nicht nur zu identifizieren, sondern auch deren Sinnhaftigkeit im Individualfall zu bewerten. Um die durch die weitgehende Ausschaltung der Ärzte und der anderen betroffenen Leistungserbringer entstandene Informationslücke zum Selbstmanagement zu füllen, übernahmen Krankenkassen, medizinische Fachgesellschaften, Apotheker und andere Akteure im Gesundheitswesen die Information und Beratung der Bevölkerung. In den letzten Jahren werden Gesundheitsinformationen zudem in den Medien, insbesondere im Fernsehen und im Internet einschließlich einer unüberschaubaren Anzahl von Apps, sehr oft aus rein wirtschaftlichen Interessen angeboten.

Über viele Jahre wurden diese Schritte jedoch vollzogen, ohne den Informationsbedarf, die Lernvoraussetzungen und die Präferenzen der Bevölkerung, d. h. deren Gesundheitskompetenz, genau zu kennen oder zu beachten. Tatsächlich gehen diese Maßnahmen deshalb offenbar häufig an den Adressaten vorbei oder führen bei ihnen sogar zu Abwehrreaktionen. Die aktuell publizierte Studie „Euroaspire“, in der über 8200 Herzpatienten aus 81 Regionen von 27 Ländern Europas 6 Monate nach dem kardialen Ereignis untersucht und zu persönlichen Risikofaktoren befragt wurden, zeigt dies in aller Deutlichkeit. Immerhin 19 % der Patienten gaben an, weiter zu rauchen, 82 % waren übergewichtig und 34 % bewegten sich zu wenig. Die Mehrheit der Raucher hatte zudem nie versucht, mit dem Rauchen aufzuhören und plante es auch zukünftig nicht. Jeder sechste Raucher gab an, dass man ihm noch nie Hilfe bei der Rauchentwöhnung angeboten habe, fast jeder zweite Befragte hatte nach eigener Aussage noch nie Ratschläge zur Integration von Bewegung in den Alltag erhalten [1].

Ein weiteres Beispiel für diese Problematik ist der Diabetes mellitus Typ 2, bei dem das Selbstmanagement durch gezielte Lebensstilinterventionen sowohl in der Prävention als auch nach Eintritt der Erkrankung eine ganz entscheidende Rolle beim Verlauf spielt. In Deutschland sind derzeit mindestens 7,2 % der Bevölkerung erkrankt. Unter Einbeziehung von zukünftigen Entwicklungen bei Prävalenz, Mortalität, Inzidenz und der steigenden Lebenserwartung von 2015 bis 2040 wurde eine relative Zunahme der Typ-2-Diabetes-Fälle um 54 % bis 77 % errechnet, d. h. im Jahr 2040 werden 10,7 bis 12,3 Millionen Menschen betroffen sein [2]. Da jeder zehnte Euro der deutschen Gesundheitsausgaben bereits jetzt für die direkten medizinischen Kosten verwendet wird und die diabetesbezogenen Kosten bei 16,1 Mrd. Euro / Jahr liegen, besteht dringender Handlungsbedarf [3]. Von Diabetikern wird vor diesem Hintergrund von verschiedenen Seiten ein hoher Einsatz beim Selbstmanagement gefordert. Der damit assoziierte starke psychologische Stress wird als „Diabetes Distress“ bezeichnet. In Längsschnittuntersuchungen wurde inzwischen gezeigt, dass die Inzidenz depressiver Symptome bei Vorliegen eines erhöhten Diabetes Distress um das 2,5-fache ansteigt [4].

Auch andere chronische Krankheiten gehen mit vielfältigen Anforderungen an die Krankheitsbewältigung und mit einem hohen und immer wieder sich verändernden Bedarf an qualifizierter Information, Kommunikation und Unterstützung durch Angehörige von Gesundheitsberufen einher. Der Anteil mit eingeschränkter Gesundheitskompetenz ist jedoch andererseits mit fast 73 % bei chronisch Kranken besonders hoch [5]. So kann bei ihnen eine mangelnde Therapieadhärenz einschließlich der gänzlichen Ablehnung auch Ausdruck eines unzureichenden Verständnisses für die Maßnahmen des Arztes sein. Untersuchungen, ob dies auch für Maßnahmen des Selbstmanagements einschließlich der Selbstmedikation zutrifft, existieren übrigens derzeit nicht.

Eine neuere Entwicklung, um diese Probleme sachgerecht zu lösen, sind Patientenleitlinien. Die bieten eine gute Option, um den Patienten das fehlende Wissen über ihre Krankheit zu vermitteln und sie in ihrer Gesundheits- und damit Entscheidungskompetenz stärken, wodurch sie besser vorbereitet in das Gespräch mit ihrem Arzt eintreten können. Als vorbildliches Beispiel kann die aktuelle Patientenleitlinie zur Diagnose und Behandlung der Adipositas dienen, bei der die Inhalte der zugehörigen S3-Leitlinie von 2014 den Bedürfnissen der Betroffenen professionell angepasst wurden [6]. Auch für andere medizinische Leitlinien für häufige chronische Krankheiten werden zunehmend die entsprechenden Patientenleitlinien erarbeitet werden, in denen insbesondere auch die empfohlenen Maßnahmen des Selbstmanagements, d. h. gegebenenfalls auch die Optionen der Phytotherapie, erläutert werden.

Dies ist für alle Beteiligten eine große Chance, die genutzt werden sollte.

Karin Kraft