Z Sex Forsch 2019; 32(01): 50-51
DOI: 10.1055/a-0835-9335
Bericht
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Transformationen – Vielfalt * Sexualitäten * Lebensweisen

Bericht über die Tagung zum 20-jährigen Jubiläum der Gesellschaft für Sexualpädagogik
Alina Marlene Schmitz
Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Fachgebiet Soziologie der Diversität, Universität Kassel
,
Bernd Christmann
Institut für Erziehungswissenschaft, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
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Publication History

Publication Date:
20 March 2019 (online)

Die Gründungsphase der Gesellschaft für Sexualpädagogik e. V. (gsp) Mitte der 1990er-Jahre war nicht frei von Kontroversen (siehe „pro familia magazin“ 5/1997). Dass die gsp nun am 7. und 8. September 2018 in Kiel ihr 20-jähriges Bestehen feiern konnte, spricht dafür, dass die damals mit der Neugründung einer sexualpädagogischen Fachgesellschaft vorgebrachten Zielsetzungen auf nachhaltige Resonanz gestoßen sind. Ein Kernanliegen der Fürsprecher*innen bestand (und besteht) darin, durch eine Fachgesellschaft die wissenschaftliche und praktische Identität der Sexualpädagogik zu stärken. Und aktuelle soziale und politische Entwicklungen zeigen: Der Begriff der Identität ist gerade im Kontext von Sexualität und Geschlecht bzw. Gender umkämpft. Seit mehreren Jahren formieren sich – zumeist unter der Sammelbezeichnung des Rechtspopulismus subsumierte – Bewegungen und Parteien, die sexualpädagogischen Themen, Angeboten und Methoden die Existenzberechtigung absprechen. Insbesondere die Ablehnung einer offensiven und enttabuisierenden Auseinandersetzung mit sexueller Vielfalt dient diesen Gruppierungen maßgeblich zur Mobilisierung der eigenen Anhänger*innenschaft. Agitationen gegen liberale Bildungspläne und zur Gewalt aufrufende Kampagnen gegen einzelne sexualpädagogische Akteur*innen dokumentieren hierbei die Gefahr einer zunehmenden Radikalisierung. Nicht zuletzt deswegen war die Jubiläumstagung nicht als primär nostalgisch-rückblickende Veranstaltung konzipiert, sondern sollte vor allem auch dazu dienen, den Blick auf sexualpädagogische Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft zu richten.

Den Startschuss der Jubiläumstagung läuteten Vertreter*innen des gsp-Vorstandes mit Christina Vetter als Moderator*in ein. Neben warmen Worten für viele weit angereiste Mitglieder und Interessierte am Tagungsprogramm wurden namhafte Begründer*innen und Wegbegleiter*innen begrüßt. Auch anwesende Vertreter*innen aus langjährigen und wertgeschätzten Kooperationen wie etwa der AIDS-Hilfe, dem Lesben- und Schwulenverband Deutschlands (LSVD), dem Institut für Sexualpädagogik (isp) und dem pro familia Bundesverband beglückwünschten die gsp zu vielen erreichten Meilensteinen und gemeisterten Herausforderungen. Der Blick zurück warf jedoch schnell auch Fragen zum Ausblick auf die Gegenwart und in die Zukunft auf. Gemein haben Rückblick und Ausblick, dass stets unterschiedliche Transformationen die notwendige Essenz für Veränderungen und neue Weichenstellungen waren und sind. Nicht umsonst lautete so auch der thematische Aufhänger der Jubiläumstagung: Transformationen.

Thematisch eingeleitet und umrissen wurde der Begriff mit einem Eingangsinput und einer fachwissenschaftlichen Bilanz von Nicola Döring zu „Herausforderungen der Digitalisierung für emanzipatorische Sexualpädagogik“, einem gelungenen und zukunftsweisenden Thema, das anstelle der ursprünglich vorgesehenen Darstellung des leider erkrankten Martin Dannecker zu den „Dilemmata emanzipatorischer Sexualpädagogik“ referiert wurde. Nicola Döring ordnete nicht nur die Gründung der gsp historisch nach der „sexuellen Revolution und dem Urknall des Internets“ hervorragend ein, sondern machte den Anwesenden eindrücklich bewusst, welchen Herausforderungen die Sexualpädagogik sich mit der fortschreitenden Digitalisierung noch wird stellen müssen. Sie endete mit Antworten wie auch neuen Fragen zu aktuellen und sich abzeichnenden Entwicklungen.

Elisabeth Tuider knüpfte daran mit ihrem Vortrag „Vielfalt weiterdenken. Ausgangspunkte – Transformationen – Konzeptualisierungen“ an und richtete ihren Blick auf Vielfalt in gesellschaftlichen wie fachlichen Diskursen. Dabei verwies sie auf Konzepte sozialer Konstruktionen, die angesichts gesellschaftlicher Debatten fachwissenschaftlich neu einzuordnen sind. Sie plädierte dafür, nicht den Dialog „zwischen“ Forschung und Praxis einzufordern, sondern die bereits bestehenden Verbindungen der zwei Arbeitsfelder zu betonen und zu nutzen.

Beide Referent*innen ebneten mit ihren Vorträgen den Einstieg in lebendige und facettenreiche Debatten der anwesenden Mitglieder und interessierten Tagungsteilnehmenden. Am Nachmittag wurde hierfür „*Raum für Perspektiven“ geöffnet. Neun Workshops luden dazu ein, gemeinsam mit Referierenden aus sehr unterschiedlichen thematischen, beruflichen und generationalen Zusammenhängen zu arbeiten und zu diskutieren:

Mirja Beck und Christina Mieruch machten in ihrer Veranstaltung das Spannungsfeld von „Sexualpädagogik UND Gewaltprävention“ zum Gegenstand der Diskussion. Ausgehend von einer zunehmend antagonistischen und einander wechselseitig ausschließenden Gegenüberstellung von Sexualpädagogik und Gewaltprävention im Fachdiskurs stand vor allem die Frage nach einem synergetischen Austausch zwischen beiden Positionen im Raum.

Unter dem Titel „Sexpäd meets Uni“ stellte Bernd Christmann exemplarisch ein Seminarkonzept vor, das angesichts der nach wie vor problematischen und nur sporadisch erfolgenden Implementierung sexualpädagogischer Lehre in die hochschulische Lehre Ideen und Impulse für eine konkrete Umsetzung bereitstellen will.

Ein Forum für eine konstruktive und effektive kommunikative Selbstdarstellung und -behauptung der Sexualpädagogik gerade gegenüber öffentlichkeitswirksamen Anfeindungen und Diffamierungen boten Sebastian Gäns und Kathrin Wegmann in ihrem Workshop mit dem Titel „political framing – Sexualpädagogik in der Öffentlichkeit“. Die neuropsychologischen Grundlagen der Zusammenhänge zwischen der Verwendung bestimmter Begriffe und den dadurch hervorgerufenen Bildern und Emotionen wurden hier erläutert und gemeinsam analysiert.

Ebenfalls Bezug nehmend auf öffentliche Infragestellungen sexualpädagogischer Inhalte und Methoden, warf der von Marco Kammholz geleitete Workshop „Lustbetonung in der Sexualpädagogik“ die Frage nach der „Lust auf Lust“ in sexualpädagogischen Angeboten auf. Der eigenständige Wert von Lustbetonung im Kontext sexueller Bildung wurde dabei als wesentliches Gegengewicht zu einer Dominanz präventiver Zielsetzungen kritisch reflektiert.

Die Problematik von „Nähe und Anerkennung in der sexualpädagogischen Praxis“ diskutierte Dominik Mantey mit den Teilnehmer*innen seines Workshops insbesondere vor dem Hintergrund der von ihm in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe durchgeführten Forschung.

Weniger unter Bezugnahme auf empirische Befunde als vielmehr mit Blick auf persönlich-biografische Erfahrungen widmeten sich Eva Maria Schmitt sowie Salome und Goran Beil der Thematik „Beziehungsgestaltung 3.0 – Pluralisierte Liebe“. Insbesondere die Selbst-Identifikation als polyamorös und die daraus erwachsenden Ansprüche an Beziehungsmodalitäten standen im Fokus.

Ganz dem Tagungsmotto verschrieben war der Workshop „50 Jahre 1968er – Transformationen sexueller Emanzipation“. Mit Annika Valentin und Uwe Sielert (re-)präsentierte das Moderationsteam hier sehr bewusst zwei unterschiedliche generationale Perspektiven der Sexualpädagogik.

Auch wiederum – zumindest teilweise – den gegenwärtigen Konflikten um die Sexualpädagogik geschuldet, machte Konrad Weller das Thema „Zielgruppe Eltern – zum Spannungsfeld zwischen familiärer und professioneller Sexualerziehung“ zum Gegenstand des von ihm geleiteten Workshops.

Das gleichsam „klassische“ sexualpädagogische Spannungsfeld „Intimität und Beschämung – die Doppelseitigkeit der Scham“ präsentierten schließlich Christina Witz und Helge Jannink und verdeutlichten, welche Transformationsprozesse in diesem Kontext beispielsweise in der Arbeit mit geflüchteten Menschen zu beobachten sind und einer entsprechenden professionellen Bearbeitung bedürfen.

Der Samstag begann früh mit der ordentlichen Mitgliederversammlung der gsp, der bis dato teilnehmer*innenreichsten in der Geschichte der Gesellschaft. Der am Vortag in den Vorträgen und Diskussionsbeiträgen auf unterschiedliche Weise markierten Zielsetzung, die Rolle der gsp als streitbare und relevante Akteur*in zu stärken und offensiver in Debatten und Kontroversen um sexualpädagogische Themen einzubringen, wurde auf diese Weise sichtbar Ausdruck verliehen. Bei den Vorstandwahlen wurden Uwe Sielert, Stefan Timmermanns, Anja Henningsen und Tom Scheel einstimmig wiedergewählt. Daniela Kühling wurde sehr emotional verabschiedet. Für sie rückt Maika Böhm als Beisitzer*in in den Vorstand nach.

Am Nachmittag wurden die Mitglieder wie auch teilnehmenden Interessierten der Jubiläumstagung eingeladen, nach Belieben und eigenen thematischen Präferenzen zu unterschiedlichen Themen und Entwicklungen der Sexualpädagogik in Open-Space-Lounges in Austausch zu treten. Der mutige Blick in die Zukunft wurde angesichts acht vielfältiger Themen gewagt, die Anja Henningsen in einem kurzen Input vorstellte: We make Sexpäd sexy again; Sexualpädagogik als Mainstream-Bildungsthema; Sexual realities – „Alexa schalt’ den Vibrator ein!“; „Da geht noch mehr“ – Körper in der Sexualpädagogik; Adam, Eva, A, Pan, Solo, Mono, Poly, Demi, Bi…; Reifungsprozesse von Sexualpädagog*innen; Moralen – Wertekorsetts aufgeschnürt; Politische Strategien in der Sexualpädagogik.

Themenübergreifend setzte sich ein Arbeitsprozess durch, in dem die Interessierten sich zu einem oder mehreren Themen in formeller oder informeller Weise austauschen und nach Belieben ihre Impressionen auf Wand- oder Tischplakaten festhalten konnten. Die thematische Auseinandersetzung wurde dabei nicht angeleitet oder spezifisch eingegrenzt. Herausgebildet hat sich auf diese Weise ein lebendiges Miteinander an kontroversen wie auch zustimmenden Haltungen, revolutionären wie auch konservativen Sichtweisen zum Beispiel auf politische Strategien in der Sexualpädagogik. Übergreifend wurde sichtbar, dass die Flexibilität, Reflexivität und Dynamik, die praktisch tätigen Sexualpädagog*innen abverlangt werden, als Teil des professionellen Handelns und gleichzeitig auch als Wesens- wie Spielarten in der Sexualpädagogik verstanden werden.

Die Dynamik, welche sich aus dem Austausch an professionell Handelnden, Theoretiker*innen und Forscher*innen sowie Vertreter*innen einschlägiger Verbände ergeben hat, bezeugt eine lebendige Debattenkultur, gesunde Streitlust und wohlwollende Anerkennung und Wertschätzung aller engagiert Teilnehmenden. Gewachsen aus der Rückblicks- und Gegenwartsanalyse formierte die Jubiläumstagung der gsp Stärke, Mut und Zusammenhalt für den Blick in die Zukunft. Nicht zuletzt anhaltende Angriffe auf die emanzipatorische Sexualpädagogik und rechtspopulistische Bewegungen in der Gesellschaft erfordern ein regelmäßiges (Rück-)Besinnen auf die Werte, für die es einzustehen gilt. Auch da positioniert sich die gsp mit dem Slogan im Titel der Tagung: „Vielfalt * Sexualitäten * Lebensweisen“. Gemeinsam in Bündnissen aus Verbänden, engagierten Mitgliedern und mit fachwissenschaftlicher Unterstützung wird es auch in Zukunft eine starke Verzahnung der Kompetenzen und Ressourcen, der Netzwerke und Kontakte geben (müssen) – national wie international. Transformationen werden dabei als Antrieb, Zielsetzung und Herausforderung zugleich wahrgenommen. Hierzu hat sich die gsp auf der Tagung und Mitgliederversammlung im Rahmen des Jubiläums deutlich bekannt.