Nervenheilkunde 2019; 38(08): 589
DOI: 10.1055/a-0930-5552
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Die Vermessung der Psychiatrie. Täuschung und Selbsttäuschung eines Fachgebiets

Peter Brieger
,
Susanne Menzel
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Publication History

Publication Date:
01 August 2019 (online)

Stefan Weinmann. Die Vermessung der Psychiatrie. Täuschung und Selbsttäuschung eines Fachgebiets. Köln: Psychiatrie Verlag 2019. 288 Seiten, broschiert, 25,00 Euro, ISBN 978–388–414–931–7

Dieses Buch weckt Emotionen. Stefan Weinmann stellt in einem kritischen Diskurs Fragen zu den Grundfesten von Psy­chiatrie und Psychotherapie. Seine Grundthese ist, dass wir einer Selbsttäuschung aufsitzen, wenn wir meinen, dass psychische Erkrankungen biologische Erkrankungen sind, die im individuellen „Gehirn“ sitzen, und als solche auch mit „objektiven“, z. B. pharmakologischen Mitteln zu bewältigen wären. Vielmehr arbeitet Weinmann aus vielen Richtungen herkommend heraus, dass psychosoziale Aspekte und Faktoren psychische Erkrankungen selbst, aber auch psychiatrische Sichtweisen und Behandlungsstrategien wesentlich beeinflussen und mitbedingen. Er mahnt an, sich dessen bewusst zu sein, dass die Ordnungsfunktion, die die Psychiatrie als einziges Gesundheitsfach hat, einen erheblichen Einfluss auf diese Sichtweisen und auf die Beziehungsgestaltung und die Handlungsorientierungen in der Psychiatrie hat. Neben Armut, gesellschaftlicher Ungleichheit, Vereinsamung (er nennt dies eindrücklich „Konstrukt der sozialen Niederlage“) stellt er auch Aspekte wie Traumatisierung durch psychiatrische Maßnahmen dar.

Er beschreibt eindrucksvoll die soziale Konstruktion der psychiatrischen Institution mit der Betonung der Passivität der Patientenrolle und mit dem sich selbst immer weiter bestätigenden Machtmonopol der Institution gegenüber der „pathologischen Aggression“ des Kranken, welche im schlechtesten Fall immer weiter in krankhaftes, dadurch weiterhin von der Psychiatrie abhängiges Verhalten führt anstatt aus ihr heraus in Richtung Genesung. Es macht traurig daran zu denken, dass dieselben Gedanken schon seit der Mitte des letzten Jahrhunderts von Goffman und anderen Kritikern der damaligen Psychiatrie, und in zunehmend pointierter Form von den Protagonisten der Psychiatrie-Reform der 1970er-Jahre, formuliert wurden, ohne dass sich ein vielfach angekündigter Paradigmenwechsel wirklich vollzogen hätte.

Weinmann setzt sich kritisch mit vermeintlichen und tatsächlichen Erkenntnissen zur medikamentösen Therapie auseinander. Die Wirklichkeitskonstruktion der modernen Psychiatrie habe den „Praxistest nicht bestanden“, weil im Bereich des Psychischen eben nichts so einfach und linear zu betrachten und darzustellen sei wie in anderen Wissenschaften. Trotz immer wieder gegenlautenden Meldungen habe es in der pharmakologisch orientierten Psychiatrie keinen Durchbruch gegeben und könne es auf dem Hintergrund einer vereinfachenden biologistischen Sichtweise auch nicht geben. In diesem Zusammenhang kritisiert Weinmann auch die Logik der Verteilung von Forschungsgeldern, die keine andere Handhabung erlaubt. Dies alles belegt Weinmann mit dem Hinweis auf eine Vielzahl von Studien jüngerer Zeit, die die Misserfolge der Pharmakotherapie so deutlich belegen wie andere Studien ihre Erfolge preisen. Kritisieren könnte man ihn an dieser Stelle für den Gebrauch derselben Methodik, die er zuvor eindrucksvoll als Täuschung und Selbsttäuschung entlarvt hat; dass er selbst natürlich auch Gefangener desselben Denkmodells ist und folgerichtig sein muss, hätte er vielleicht noch deutlicher hervorheben können.

Weinmann kritisiert neben der biologischen Psychiatrie aber auch die gemeindepsychiatrische Haltung vieler Akteure als zur Chronifizierung neigend und stellt dem ein Krisenkonzept entgegen. Aber auch der Aspekt des Global Mental Health erfährt einen kritischen Diskurs. Weinmann diskutiert unter Bezugnahme auf viele spannende Quellen die Kulturgebundenheit psychischer Phänomene und prangert den „Westzentrismus“ der psychiatrischen Meinungsbildner an.

Letztlich fordert er einen Paradigmenwechsel am ehesten im Sinne einer „Postpsychiatrie“, die verschiedene Perspektiven gleichrangig integriert. Er bezieht sich dabei auf eine kritische Hinterfragung der Diagnosen, einen kritischen Diskurs zu Medikamenten. Er fordert Bettenabbau in der klassischen stationären Psychiatrie, eine Öffnung und Flexibilisierung der Angebote er fordert Transparenz der Meinungsführer im psychiatrischen Versorgungssystem, fordert die Förderung von Arbeit und Beschäftigung gerade für psychisch Kranke, die Einbeziehung von Nutzern (z. B. im Sinne von Ex-In) nicht nur im Sinne eines Feigenblatts, sondern als tatsächliche Meinungsbildner und Überbringer innovativer Haltungen und Zugänge zum Menschen, und entsprechende Veränderungen von Steuerungs- und Vergütungssystemen.

Weinmann gelingt es mit vielen Fakten und sorgfältig ausgewählter Empirie das Bild einer „anderen Psychiatrie“ zu entwerfen: Die aktuelle erscheint ihm entsprechend des Buchtitels „vermessen“. Er kritisiert aber auch die „Vermessung“ seelischer Funktionen und bezeichnet sie als pseudowissenschaftliches Grundparadigma. Das Buch provoziert zum Widerspruch. Wenn er dem „psychiatrischen Establishment“ den Vorwurf macht, dass im Sinne der Selbsttäuschung manche Strategie unzureichend belegt und wenig überzeugend ist, so könnte man auch bei einigen seiner Quellen in kritische Diskussion einsteigen – das mindert aber den Wert des Buchs keinesfalls, vielmehr handelt es sich um eine gezielte „Provokation“ unserer etablierten Denksysteme hin zu einer „neuen Psychiatrie“ zu hinterfragen.

Wir gestehen, dass wir dieses Buch nach anfänglicher Skepsis mit immer größerem Gewinn gelesen habe und dass gerade auch die offenkundigen Brüche und Widersprüche eine Stärke des Buchs sind. Wir brauchen den kritischen Diskurs, um Menschen mit psychischen Problemen besser zu helfen und dafür ist dieses Buch wertvoll.