Sportphysio 2020; 08(01): 44-46
DOI: 10.1055/a-0965-9295
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„Am Anfang gab’s nur ein Bier“ – Interview mit dem Sportphysiotherapeuten Hannspeter „Hape“ Meier

 

    Hannspeter Meier, genannt „Hape“, ist wohl einer der bekanntesten und profiliertesten Sportphysiotherapeuten Deutschlands. Wie er wurde, was er heute ist, was er von der Physiotherapie im Allgemeinen und der Sportphysiotherapie im Besonderen hält, hat „Sportphysio“-Mitherausgeber Matthias Keller für uns herausgefunden.


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    Hape hat schon immer gerne mit Trainingsgeräten gearbeitet. Hier kontrolliert er die Beinachsen von Fußball-Profi Andi Wolf, damals AS Monaco, bei einem Squat auf der Slackline. (Quelle: Hape Meier)

    Matthias Keller: Wann bist du das erste Mal mit der Sportphysiotherapie in Berührung gekommen?

    Hape Meier: Als Trainer der Volleyball-B-Jugend-Auswahl Bayern im Jahr 1981. Damals hatte man mir einen Sportphysiotherapeuten zur Seite gestellt: Hans-Georg „Hansi“ Reinert. Ich – als junger Student der Germanistik – hatte keine Ahnung, was er genau macht, fand das aber total faszinierend. Meine Spieler waren abends total kaputt, teilweise überlastet, manche hatten auch kleinere Verletzungen – und konnten trotzdem dank ihm am nächsten Tag wieder trainieren. Damit war mir klar: Neben meiner guten Arbeit als Trainer ist das, was der Kollege da macht, das Elementare. Recht bald habe ich mich mit „Hansi“ deutlich mehr ausgetauscht als mit meinen Co-Trainern. Lustigerweise ging ich schon damals mit einem Physio-Koffer auf die Bank und nicht, wie andere Trainerkollegen, mit einer Tasche, die Unterlagen zum Mitschreiben enthielt. Obwohl ich Trainer war, war ich schon damals der Sportphysiotherapie deutlich mehr zugetan.

    MK: Gab es zu dieser Zeit schon den Sportphysiotherapeuten im heutigen Sinne?

    HP: Nein, er war „mein“ Physio. Er war Masseur und kümmerte sich um die verletzten Spieler, daher war er „Sportphysiotherapeut“. Er war schon zu Gange mit Elektrotherapie, hatte Akupunkturnadeln dabei, arbeitete mit Wärme und Kälte. Mit Training und aktiver Therapie hatte er wenig zu tun.

    MK: Du warst Student der Germanistik – standest also vor einer steilen Karriere als Lehrer?

    HP: Mein Ziel war es damals, professioneller Volleyballtrainer zu werden. Ich wusste nicht, dass man damit niemals „g’scheit Geld“ verdienen würde. Es hat mir einfach Spaß gemacht. Parallel dazu habe ich auf Lehramt studiert. Kurz vor dem Examen stellte sich dann die Frage, wie es weitergehen sollte. Ich wusste, dass ich einer der erfolgreichsten Jugendtrainer im Bayerischen Volleyballverband war mit Tendenz zur nationalen Spitze. Ich wurde dann Co-Trainer bei einem der bekanntesten Volleyballtrainer: Stelian Moculescu. Nachdem dieser dann 1987 die Volleyball-Nationalmannschaft übernommen hatte, habe ich nach dem Krankengymnastik-Examen direkt „unter“ ihm als Krankengymnast gearbeitet. In meinem praktischen Jahr, das damals noch Pflicht war. Also mit Null Ahnung. Da der Volleyballverband ja noch nie sehr viel Geld hatte, war ich zudem nicht nur Physiotherapeut, sondern manchmal auch Arzt. Mir blieb also nichts anderes übrig, als mir das notwendige Wissen anzueignen, denn ich musste für die Gesundheit der Spieler geradestehen.

    MK: War deine Ausbildung zum Krankengymnasten inhaltlich sehr weit weg von dem, was du damals als Trainer durch deinen Sportphysio kennengelernt hattest?

    HP: Na ja, natürlich haben auch wir als Krankengymnastikschüler über unsere Krankengymnastikschule geschimpft. Aber eigentlich war die Ausbildung wirklich sensationell gut. Die Schule in Bad Abbach war zudem sehr nahe an München und Regensburg, sodass ich immer dorthin fahren konnte, um Volleyballtraining zu machen. Der damalige medizinische Leiter der Schule hat dies alles geschehen lassen; ich hatte viele Freistunden und Fehlstunden – aber übrigens trotzdem ein gutes Examen.Wir haben sehr vieles in der Ausbildung gelernt, was ich schon von meinem Mannschaftsphysiotherapeuten kannte: Klassische Massage, Sportmassage, Elektrotherapie, Thermotherapie. Auch mit der Anatomie hatte ich als Lateiner recht wenig Mühe. Während der Ausbildung merkte ich, dass genau das mein Fach ist, meine Liebe – und nicht der Beruf des Gymnasiallehrers, den ich davor studiert hatte. Ich wusste, ich würde niemals als Lehrer arbeiten und auch nicht mehr als Trainer beim Volleyball, sondern als Physio. Ich wollte das weitermachen, was ich bei meinem damaligen Kollegen gesehen habe, und zwar auf Basis dessen, was ich auf der Krankengymnastikschule an Theorie gelernt habe.

    MK: Wie ging es nach deiner Ausbildung weiter?

    HP: Im Nordschwarzwald arbeitete ich dann mit Hansi Reinert im REHA FIT Center in Schömberg mit einer Krankengymnastin, die mich angestellt hat. Denn damals musste man erst 2 Jahre im Angestelltenverhältnis arbeiten, bevor man sich selbstständig machen durfte. In dieser Zeit war ich ein halbes Jahr in der Praxis und 160 Tage als Sportphysiotherapeut mit der Volleyball-Nationalmannschaft unterwegs. Zuvor, während meines Praktischen Jahres, habe ich am Vormittag im Krankenhaus gearbeitet und nachmittags in der freien Praxis – bis 22 Uhr. Diese Stunden, glaube ich, haben mir sehr gutgetan, um Erfahrung zu sammeln.

    MK: Gibt es so eine Leidensfähigkeit heute noch? Ist heute noch jemand bereit, 16 Stunden pro Tag, 7 Tage die Woche für den Sport zu geben?

    HP: Bei meinen jungen Kollegen sehe ich ein sehr großes Interesse an meinem Beruf. Wenn es aber in 7 Stunden geht statt in 9, dann nehmen sie lieber die 7. Der Faktor Freizeit und Geld wird zudem heute sehr großgeschrieben. Man übernimmt heute eine Mannschaft nur, wenn dabei mindestens soundso viel Geld herauskommt. Ich habe damals im Schwarzwald jedes Wochenende irgendeine Mannschaft – Fußball, Basketball, Volleyball – betreut, bekam das Tapematerial und die Massagecreme gestellt und war Samstag und Sonntag mit diesen Sportlern unterwegs – „für umme“, wie der Berliner sagt. Wenn, dann bekam der „Österreicher“ – so haben sie mich damals im Schwarzwald genannt, denn sie konnten Österreich und Bayern nicht auseinanderhalten – vielleicht ein Bier. Das war dann die Bezahlung. Aber die Erfahrung, die ich damals gesammelt habe, war unbezahlbar. Später durfte ich dann Tapekurse für eine Firma geben – wieder „für umme“. Das Tapematerial durfte ich dann auch für meine Sportler nehmen. Ich habe zu der Zeit mit meinem Beruf nur das verdient, was die Nationalmannschaft gezahlt hat. Das waren 50 Mark am Tag. Dazu kam nur noch das Halbtages-Salär für meine Arbeit im Rehazentrum.

    MK: Aber an Erfahrung hast du gewonnen.

    HP: Das, was unseren Beruf ausmacht, ist: Talent, Wissen und Erfahrung. Erfahrung bekommt man über Stunden. Und Stunden bekommst du nur, wenn du den Tag mit Stunden füllst. Berufserfahrung hängt nicht davon ab, wie alt jemand ist, sondern wie lange er sich mit Händen, Augen und Ohren mit dem Beruf beschäftigt.

    MK: Wo steht denn die Physiotherapie deiner Meinung nach heute?

    HP: Noch lange nicht da, wo sie stehen könnte. Das liegt an uns Therapeuten, an unserer politischen Situation, daran, dass wir immer noch medizinischer Assistenzberuf sind. So, wie es aktuell läuft, befürchte ich, dass wir immer ein medizinischer Hilfsberuf bleiben werden, egal, ob wir akademisiert sind oder nicht.Mein Vorschlag wäre, die Physiotherapie aus dem Kassensystem herauszunehmen und die Therapeuten dazu zu zwingen, mit Leistung zu überzeugen. Dann landet vielleicht die Hälfte der Therapeuten beim Arbeitsamt, aber diejenigen, bei denen die Patienten bereit sind, für ihre Leistungen zu zahlen, werden sich durchsetzen. Die Bezahlung wird adäquat, und wir haben die Chance, im medizinischen Bereich das zu gelten, was wir anstreben – und was die Guten heute wahrscheinlich auch schon sind.

    MK: Wie stehst du hierbei zum Thema Akademisierung? Ist sie aus deiner Sicht ein wichtiger Schritt für die Sportphysiotherapie?

    HP: Auch wenn du es vielleicht nicht glaubst: Ich sehe die Akademisierung als extrem wichtig an. Ich komme von der Universität, ich habe wissenschaftliches Arbeiten gelernt, erlebt und gelebt und denke, es ist sehr wichtig. Denn je mehr ich weiß, desto mehr kann ich davon mit meinen Händen umsetzen. Genauso wichtig sind in unserem Beruf aber das Talent und die Erfahrung. Es wird immer Physiotherapeuten geben, die nicht das spüren, was andere spüren. Es gibt auch Therapeuten, die werden sich nie vorstellen können, wie ein Schultergelenk sich wirklich dreidimensional bewegt. Erfahrung braucht es unter anderem, um zu spüren, ob ein Patient zu mir passt, ob meine Technik zum Patienten passt und auch, ob eine Technik zu mir passt. Ein Beispiel dazu ist die Lymphdrainage: Ich habe sie erlernt, aber wenn du mich dabei siehst, bekommst du Angst. Erstens: Ich habe nicht die Ruhe dazu. Zweitens: Nach dem fünften stehenden Kreis bin ich suizidgefährdet. Ich kann es einfach nicht, ich bin darin nicht gut. Darum mache ich es nicht. Aber um das zu merken, muss ich damit arbeiten. Nach dem 4-Wochen-Kurs denkt jeder, er könne Lymphdrainage, genauso wie jeder nach dem dritten manualtherapeutischen Extremitätenkurs denkt, er könne jedes Gelenk mobilisieren. Aber erst mit Erfahrung merkst du, ob das wirklich so ist.

    MK: Würdest du, wenn du heute noch mal 20 wärst, alles gleich machen?

    HP: Ja. Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht. Wer kann das schon von sich behaupten? Deswegen freue ich mich darauf, so lange am Menschen zu arbeiten, bis man mich mit den Füßen voran aus dieser Kabine herausträgt. Diese Arbeit ist immer ein Hobby für mich, es war nie ein Beruf und auch fast nie Stress. Am Patienten arbeiten, Fortbildungen geben, mich im Sport bewegen, zu Olympiaden fahren, mit der Nationalmannschaft unterwegs sein … ein Traumberuf, den ich sofort wieder genauso machen würde.

    MK: Wenn ein junger Therapeut zu dir käme und dich fragen würde, was er machen soll, um Sportphysiotherapeut zu werden – was würdest du ihm antworten?

    HP: Es muss ihm klar sein, was Sportphysiotherapie bedeutet – nämlich, auch heute noch, einen langen, mühsamen Weg und erst dann ordentliches Geld verdienen, wenn du wirklich ganz oben bist. Es wird immer vor allem ein Hobby und eine Berufung sein, einem Sportler zu helfen. Es ist wirklich wunderschön, und ich persönlich wollte die ganzen sportlichen Events nicht missen wollen. Aber die allermeisten werden es nicht schaffen, sich damit die Taschen voll zu machen. Das steht fest.

    MK: Hast du Empfehlungen für junge Therapeuten, in welche Richtungen sie sich weiterbilden sollten, um als Sportphysiotherapeut erfolgreich zu werden?

    HP: Es gibt drei Systeme, die uns als Sportphysiotherapeuten wichtig sind: das arthroligamentäre, das myofasziale und das neuromeningeale. In diesen Bereichen muss ich stark sein: Ich muss „Elektriker“ sein, um das Nervensystem zu verstehen, mich auskennen mit Durchblutung und Stoffwechsel, also auch noch „Installateur“ sein, bei den Gelenken Bescheid wissen, die Wundheilung kennen. Wenn ich mich dort auskenne, brauche ich Techniken, um diese Systeme zu beeinflussen: Manuelle Therapie, Massage, aktive Therapien und so weiter – auch je nachdem, in welche Richtung ich mich ggf. spezialisieren möchte. Wichtig ist, zu verstehen, dass Techniken alleine noch nie einen Menschen gesund gemacht haben. Mit Dingen wie Flossing, Foam Rolling und so weiter werde ich immer nur den Körper anstoßen können. Dazu muss ich aber wissen, was der Körper will. Das ist die Basis. Noch ein kleiner Tipp von mir: Ich kenne viele junge Therapeuten, die sagen: „Jetzt mache ich erst einmal 3 Jahre Fortbildungen, dann bin ich gut.“ Nein! Mach eine Fortbildung, werde gut in dieser Technik, und dann mache erst die nächste. Es dauert einfach seine Zeit. Nur durch Lernen kann man handwerklich nicht besser werden.

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    Hape Meier behandelt die Schulter von Pascal Grünwald, Fußball-Torwart von Austria Wien. (Quelle: Hape Meier)

    Das Gespräch führte Mitherausgeber Matthias Keller

    HAPE MEIER
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    Hannspeter „Hape“ Meier hat sein Examen 1986 gemacht. Als Sportphysiotherapeut hat er lange Jahre die Volleyball-Nationalmannschaft und Vereinsmannschaften betreut. Später wurde er Mitglied im DOSB-Lehrteam. Er ist Gründer des Rehazentrums Valznerweiher in Nürnberg mit eigener Weiterbildungsakademie sowie Buchautor.


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    Publikationsverlauf

    Artikel online veröffentlicht:
    07. Februar 2020

    © Georg Thieme Verlag KG
    Stuttgart · New York

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    Hape hat schon immer gerne mit Trainingsgeräten gearbeitet. Hier kontrolliert er die Beinachsen von Fußball-Profi Andi Wolf, damals AS Monaco, bei einem Squat auf der Slackline. (Quelle: Hape Meier)
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    Hape Meier behandelt die Schulter von Pascal Grünwald, Fußball-Torwart von Austria Wien. (Quelle: Hape Meier)
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