Drug Res (Stuttg) 2019; 69(S 01): S21-S22
DOI: 10.1055/a-0982-5129
Symposium der Paul-Martini-Stiftung
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Typische Verschreibungskaskaden beim multimorbiden Patienten

Hans Jürgen Heppner
Weitere Informationen

Korrespondenzadresse

Univ.-Prof. Dr. med. Hans Jürgen Heppner, MHBA
Chefarzt Geriatrische Klinik und Tagesklinik
Lehrstuhl für Geriatrie
Universität Witten/Herdecke
Dr.-Moeller-Straße 15
58332 Schwelm

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
15. November 2019 (online)

 

Zum einen bedingt die Multimorbidität des geriatrischen Patienten eine Multimedikation, zum anderen besteht dann immer ein hohes Risiko für Arzneimittelinteraktionen und unerwünschte Arzneimittelereignisse (UAE). International wird immer wieder über Krankenhauseinweisungen aufgrund unerwünschter Arzneimittelereignissen berichtet. Bei den über 75-Jährigen waren 30% aller Krankenhauseinweisungen auf unerwünschte Arzneimittelereignisse (UAE) zurückzuführen [1]. Eine UAE, in der anglo-amerikanischen Fachliteratur als adverse drug reaction (ADR) bezeichnet, ist definiert als schädliches Ereignis, welches im zeitlichen Zusammenhang mit einer Arzneimittelanwendung auftritt. Dies führt dann möglicherweise zur Expression von vermeintlichen Krankheitssymptomen, die dann wiederum eine Arzneimitteltherapie induzieren und nicht selten in der Polypharmazie endet.

Es kommt zu einer sogenannten Verschreibungskaskade. Eine Verschreibungskaskade beschreibt den fehlerhaften Medikationsprozess, bei dem unter der Anwendung eines Medikaments Nebenwirkungen auftreten, die nicht als solche erkannt werden und somit fälschlicherweise als neue Krankheitssymptome eingestuft werden. Dies führt dann zum Ansetzen eines neuen, weiteren Medikaments, um die neuen Krankheitssymptome zu therapieren [2]. Es kommt leider nicht zur Modifikation oder zum Absetzen des auslösenden initialen Medikamentes.

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Abb. 1 Struktur der Verschreibungskaskade (mod. nach [3]).

Daneben gibt es noch andere Risikofaktoren im Medikationsprozess bei geriatrischen Patienten, die die Gefahr einer Verschreibungskaskade erhöhen können. Durch die Veränderungen von Pharmakokinetik und -dynamik in dieser vulnerablen Patientengruppe sind die Wirkungen der Arzneimittel nicht immer gut vorhersagbar. Auch die mangelnde Koordination in der medikamentösen Behandlung lässt viel Freiraum für unerwünschte Arzneimittelwirkungen, -interaktionen und Verschreibungskaskaden. Durch die geteilte fachärztliche, hausärztliche und krankenhausärztliche Behandlung und Verordnung ist es sehr schwierig, den Überblick zu behalten, zumal häufig das Problembewusstsein fehlt ([Tab 1]).

Tab. 1 Medikationsprozess und Risikofaktoren beim geriatrischen Patienten.

Risikofaktor

Ursache

exogen

Informations- und Behandlungsqualität an den Schnittstellen Krankenhaus, Hausarzt, Heim

mangelnde Koordination

fehlendes Problembewusstsein

unkontrollierte Selbstmedikation

endogen

Multimedikation

veränderte Pharmakokinetik/-dynamik

funktionelle Einschränkungen

physiologische Veränderungen

Ältere Menschen und geriatrische Patienten sind hinsichtlich einer Verschreibungskaskade am meisten gefährdet. In dieser Gruppe liegen nun einmal die häufigen Probleme wie Obstipation, Ödementwicklung, Inkontinenz vor, und es ist schwierig zu differenzieren, ob es sich hierbei um UAEs handelt [4]. Oftmals fehlt auch das entsprechende Bewusstsein für diese Risikokonstellation.

Aggraviert wird die Situation dann dadurch, dass die Patienten, die im Regelfall nicht nur einen Arzt aufsuchen, besonders gefährdet sind, weil die Ärzte oft im Unklaren gelassen werden, welche Medikamente der Patient einnimmt. Es wird nicht dezidiert nachfragt oder der Patient gibt auf Nachfrage keine klare Auskunft. Substanzen aus der Arzneimittelgruppe der Antipsychotika, der Benzodiazepine, der Hypnotika, der Sedativa und der Diuretika haben ein besonders hohes Potenzial für UAEs. Meist zeigen sich die Ereignisse innerhalb der ersten Wochen nach Therapiebeginn [5].

So wird beispielsweise eine Therapie mit einem nicht-steroidalen Antiphlogistikum (NSAR) initiiert, und im Laufe der länger andauernden Behandlung kommt es zu einem Blutdruckanstieg beim Patienten. In der Folge wird die antihypertensive Therapie erhöht bzw. erweitert, anstelle das NSAR abzusetzen.

Oftmals ist es auch auf den ersten Blick nicht einfach zu erkennen. So ist die Wirkung von Pregabalin oder Gabapentin bei geriatrischen Patienten in manchen Indikationen nicht unumstritten, die Substanzen werden dennoch häufig verordnet. Bei herzgesunden älteren Menschen ist diese Medikation mit dem Risiko eines neu auftretenden Vorhofflimmerns assoziiert). Die Folge ist dann meist der Beginn einer Verschreibungskaskade mit oraler Antikoagulation und einer Betablocker-Therapie, die dann im weiteren Verlauf noch zu weiteren UAEs führen kann [6]. Hier wäre das Absetzen von Pregabalin oder Gabapentin dringend indiziert.

Ein weiteres Beispiel für eine Verschreibungskaskade ist die Cholinesterasehemmer-Anticholinergikum-Kaskade. Cholinesterasehemmer wie Donepezil, Galantamin oder Rivastigmin werden bei Demenzsymptomen verordnet. Durch die Wirkung auf das autonome Nervensystem können sie unter anderem eine Dranginkontinenz fördern [7]. Die Inkontinenz wird in der Folge mit einem Anticholinergikum behandelt, anstatt die Dosis des Cholinesterasehemmers zu reduzieren oder diesen ganz abzusetzen. Die nun neu entstandene „Kombinationsbehandlung“ kann zudem noch den erwünschten Effekt des Cholinesterasehemmers teilweise oder ganz zunichtemachen und somit den Behandlungserfolg verhindern. Gleichzeitig kann aber eine neu auftretende oder sich verschlechternde Inkontinenz auch Teil des natürlichen Verlaufs der Demenz sein. Das birgt ein hohes Risiko für eine Fehlentscheidung im Medikationsprozess, wenn die Harnwegssymptomatik nicht als Arzneimittelnebenwirkung erkannt wird.

Im Frühjahr 2016 lief in bayerischen Apotheken eine Aufsehen erregende Pseudocustomer-Aktion: Der „Kunde“ verlangte ein Medikament gegen Reizhusten. Die Aufgabe für die Apotheke bestand darin, herauszufinden, dass er Ramipril als weiteres Arzneimittel einnahm, und das in einer, erst vor kurzem, erhöhten Dosis. Wer den Reizhusten als Nebenwirkung des ACE-Hemmers herausfinden konnte, dem Kunden eine entsprechende Aufklärung und Beratung anbot und ihn für eine mögliche Änderung der Arzneimitteltherapie zum Arzt schickte, dem bescheinigte die Bayerische Landesapothekerkammer die maximale Punktzahl. Wer einen Hustenstiller ohne entsprechende Rückfragen oder ein Beratungsgespräch abgab, war durchgefallen und erhielt einen belehrenden Brief mit der Aufforderung, eine verbesserte Beratungsqualität sicherzustellen. Ob das der richtige Lösungsansatz ist, bleibt aber noch offen.

Unbestritten ist, dass eine gründliche Medikamentenanamnese beim multimorbiden geriatrischen Patienten unerlässlich ist und neu aufgetretene Beschwerden und Symptome nicht unreflektiert einer neuen, vermeintlich therapiebedürftigen, Erkrankung zugeordnet werden. Auch eine bessere Patienteninformation und entsprechende Beratung vor der ärztlichen Verordnung eines neuen Medikamentes kann durchaus das Risikobewusstsein beim Anwender stärken und somit die Verschreibungskaskade möglicherweise durchbrechen.


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Autorinnen/Autoren

Hans Jürgen Heppner

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Univ.-Prof. Dr. med., Chefarzt Geriatrische Klinik und Tagesklinik, Lehrstuhl für Geriatrie, Universität Witten/Herdecke

Interessenkonflikt

Forschungsunterstützung: ThermoScience, Forschungskolleg Geriatrie der Robert-Bosch-Stiftung, Wissenschaftsforum Geriatrie, Deutsche Bank, Innovationsfonds des G-BA. Vortragshonorare: Pfizer Pharma, Bayer Health Care, Mundipharma, Astellas Pharma, MSD, BLÄK, AO Trauma Europe, Dr. Pfleger GmbH, Grünenthal, Novartis.

  • Literatur

  • 1 Chan M, Nicklason F, Vial JH. Adverse drug events as a cause of hospital admission in the elderly. Intern Med J 2001; 31: 199-205
  • 2 Gill SS, Mamdani M, Naglie G. et al. A prescribing cascade involving cholinesterease inhibitors and anticholinergic drugs. Arch Intern Med 2005; 165: 808-813
  • 3 Berthold HK, Steinhagen-Thiessen E. Arzneimitteltherapie im Alter. Internist 2019; 50: 1415-1424
  • 4 Nguyen PV, Spinelli C. Prescribing cascade in an elderly woman. Can Pharm J (Ott) 2016; 149: 122-124
  • 5 Kalisch LM, Caughey GE, Roughead EE. et al. The prescribing cascade. Aust Prescr 2011; 34: 162-166
  • 6 Rochon PA, Gurwitz JH. Optimising drug treatment for elderly people: the prescribing cascade. BMJ 1997; 315: 1096-1099
  • 7 Salahudeen MS, Hilmer SN, Nishtala PS. Comparison of anticholinergic risk scales and associations with adverse health outcomes in older people. J Am Geriatr Soc 2015; 63: 85-90

Korrespondenzadresse

Univ.-Prof. Dr. med. Hans Jürgen Heppner, MHBA
Chefarzt Geriatrische Klinik und Tagesklinik
Lehrstuhl für Geriatrie
Universität Witten/Herdecke
Dr.-Moeller-Straße 15
58332 Schwelm

  • Literatur

  • 1 Chan M, Nicklason F, Vial JH. Adverse drug events as a cause of hospital admission in the elderly. Intern Med J 2001; 31: 199-205
  • 2 Gill SS, Mamdani M, Naglie G. et al. A prescribing cascade involving cholinesterease inhibitors and anticholinergic drugs. Arch Intern Med 2005; 165: 808-813
  • 3 Berthold HK, Steinhagen-Thiessen E. Arzneimitteltherapie im Alter. Internist 2019; 50: 1415-1424
  • 4 Nguyen PV, Spinelli C. Prescribing cascade in an elderly woman. Can Pharm J (Ott) 2016; 149: 122-124
  • 5 Kalisch LM, Caughey GE, Roughead EE. et al. The prescribing cascade. Aust Prescr 2011; 34: 162-166
  • 6 Rochon PA, Gurwitz JH. Optimising drug treatment for elderly people: the prescribing cascade. BMJ 1997; 315: 1096-1099
  • 7 Salahudeen MS, Hilmer SN, Nishtala PS. Comparison of anticholinergic risk scales and associations with adverse health outcomes in older people. J Am Geriatr Soc 2015; 63: 85-90

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Abb. 1 Struktur der Verschreibungskaskade (mod. nach [3]).