Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2019; 54(09): 562-570
DOI: 10.1055/a-0989-8769
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Status thymolymphaticus“ – ein Risiko bei Narkosen?

“Status Thymolymphaticus” – a Risk of Anaesthesia?
Michael Goerig
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Publication Date:
16 September 2019 (online)

Zusammenfassung

Die Verabreichung von Narkotika wie Äther und Chloroform zur Schmerzbekämpfung bei operativen Eingriffen wurde von Beginn an von schwerwiegenden, häufig fatal verlaufenen Zwischenfällen überschattet. Auch die Verwendung der als weniger gefahrenvoll gepriesenen Lokalanästhetika verlief nicht so komplikationslos wie zunächst erhofft und endete nicht selten tödlich. Untersuchungen zu den vielseitigen Ursachen der Narkosezwischenfälle erfolgten schon frühzeitig, führten aber meist zu keinen eindeutigen Ergebnissen. Die bei der Verabreichung von Narkotika involvierten Ärzte machten sich in diesen Fällen die Erklärungsversuche der österreichischen Ärzte Arnold Paltauf und Rudolf Ritter von Kundrat zu eigen, die Ende der 1880er-Jahre unerklärliche Narkosezwischenfälle bei scheinbar gesunden Individuen mit dem Vorliegen einer Konstitutionsanomalie erklärten: des sog. „Status thymicus, lymphaticus bzw. thymolymphaticus“. Wurde bei einem tödlichen Narkosezwischenfall das Geschehen auf das Vorliegen dieser Anlageanomalie zurückgeführt, sprach man zuweilen auch vom „Thymustod“ und verzichtete auf weitergehende gerichtliche Untersuchungen. Entsprechende Aussagen erlangten daher eine große forensische Bedeutung, da nun ebenfalls in Fällen einer „Mors subita“ bei Säuglingen oder Kleinkindern im häuslichen Bereich zu Unrecht Beschuldigte beim Vorliegen einer Thymushyperplasie strafrechtlich nicht weiter verfolgt wurden. In der operativen Medizin war der „Status thymolymphaticus“ jahrzehntelang ein Thema, insbesondere bei dem mit der Narkosedurchführung betrauten Personenkreis, sodass ein historischer Rückblick zu dem gefürchteten vermeintlichen Syndrom bei operativen Eingriffen gerechtfertigt erscheint.

Im 19. Jahrhundert wurde eine Vielzahl „neuer“ Krankheiten und Krankheitsbilder entdeckt. Einige fanden umgehend in Fachjournalen und Lehrbüchern Berücksichtigung, wurden detailliert beschrieben, dann aber als irrelevant und später als nicht existent eingeschätzt und wieder vergessen. So auch der „Status thymolymphaticus“, der für eine Vielzahl plötzlicher, unerklärlicher Todesfälle, aber auch für fatale Narkosenzwischenfälle verantwortlich gemacht wurde.

Abstract

The administration of narcotics such as ether and chloroform to combat pain during surgery was overshadowed from the beginning by serious, often fatal incidents. Even the use of local anaesthetics, which were praised as being less dangerous, was not as uncomplicated as had initially been hoped for and was often fatal. Investigations into the various causes of anaesthetic incidents were carried out at an early stage, but usually did not lead to clear results. In these cases, the physicians involved in the administration of narcotics adopted the explanation attempts of the Austrian physicians Arnold Paltauf and Rudolf Ritter von Kundrat, who at the end of the 1880s also explained inexplicable narcosis incidents in apparently healthy individuals with the presence of a constitutional anomaly: the so-called “status thymicus, lymphaticus or thymolymphaticus”. If, in case of a fatal anaesthetic incident, the event was attributed to the presence of this anomaly, one also spoke of “thymus death” and usually refrained from further legal investigations. Corresponding statements therefore acquired a great forensic significance, since now also in cases of a “mors subita” in infants or small children in the domestic sphere unjustly accused persons in the presence of a verifiable thymus hyperplasia did not have to be prosecuted further under criminal law. In operative medicine, the “status thymolymphaticus” has become a topic for decades, especially among the persons performing the anaesthesia, so that a historical review of the feared alleged syndrome appears justified.