retten! 2020; 9(05): 367-370
DOI: 10.1055/a-1013-7786
Mein Einsatz

Ein absoluter Notfall

Lisa Raß

Wenn Rettungskräfte auf einen desorientierten Patienten treffen, der sich nicht untersuchen lassen will, wird es schnell schwierig. Wichtig zu wissen: Hinter eher unspezifischen Beschwerden wie Verwirrtheit, niedrigem Blutdruck und Tachykardie kann sich ein absoluter Notfall verbergen.

Kommentar

Von Karlheinz Pfaff, Schulleiter der Franz Anton Mai Schule des ASB Baden-Württemberg in Mannheim und Mitherausgeber von retten!

Der geschilderte Fall spiegelt rettungsdienstliche Realität in Deutschland gleich aus vielen unterschiedlichen Perspektiven. Es imponiert natürlich der außergewöhnliche Notfall, der mit typischen Attributen rettungsdienstlichen Alltags beginnt – „Schlechter Allgemeinzustand“ – und einen äußerst dramatischen Verlauf nimmt. Neben der zwangsläufigen Frage, ob man das Problem hätte früher erkennen müssen, imponiert das Arbeitsumfeld abseits des nächsten Notarztstandorts im ländlichen Deutschland, ohne die Möglichkeit, zeitnah im Team mit einem Notarzt tätig zu werden. Sehr eindrücklich schildert der Autor, dass neben der medizinischen Handlungskompetenz kommunikative Befähigungen erforderlich sind, um mit verwirrten oder unkooperativen Patienten erfolgreich zu interagieren. Die wenigen vorhandenen Informationen und Parameter zwingen den Notfallsanitäter zu rein symptomatischem Handeln, ohne dieses auf eine konkrete Arbeitsdiagnose abstimmen zu können. Natürlich könnte man jetzt mutmaßen, dass die Atemfrequenz des Patienten ≥ 22 betragen habe und sich, gepaart mit der Vigilanzminderung, ein qSOFA-Score von 2 ergeben hätte. Der Notfallsanitäter hatte jedoch zunächst keinen Hinweis für eine Sepsis, zumal auch die Körperkerntemperatur ein Infektgeschehen nicht in den Fokus rückte. Es bleibt natürlich die Frage nach der therapierefraktären Hypoglykämie eines Patienten ohne anamnestische Hinweise auf einen Diabetes mellitus. Muss ein Notfallsanitäter in dieser Situation ein septisches Leberversagen vermuten?

Letztlich wurde der Patient zügig der klinischen Diagnostik und Therapie zugeführt, und es erscheint fraglich, ob das Stellen der Verdachtsdiagnose „Sepsis“ in diesem fortgeschrittenen Stadium eine entscheidende positive Wendung erbracht hätte. Unabhängig davon muss der Leser jedoch zu der Feststellung kommen, dass ein nicht zu unterschätzender Teil unseres Wissens Erfahrungswissen ist, das wir uns im Einsatz aneignen. Daher sollte man die Erfahrung des Kollegen im beschriebenen Fall dankbar annehmen und das eigene Handeln in ähnlich gearteten Situationen kritisch reflektieren. Der „unklare“ Patient kann durch Aufmerksamkeit für allgemeine Infektionszeichen und Anwendung des qSOFA-Score frühzeitig der Verdachtsdiagnose einer Sepsis zugeordnet werden. Damit werden die entscheidenden Weichen für eine frühzeitige, spezifische klinische Abklärung und antibiotische Abdeckung gestellt.

Der Beitrag gibt Anlass, grundsätzlich über die epidemiologische Kompetenz des Rettungsdienstes nachzudenken. Die fokussierte Untersuchung unserer Patienten im Hinblick auf infektiöse Geschehen, Sepsis oder gar septischen Schock muss akzentuiert werden. Handlungsempfehlungen und Algorithmen (z. B. Musteralgorithmus Sepsis des DBRD, Handlungsempfehlungen des RKI bezüglich konkreter Infektionserkrankungen) stehen zur Verfügung und müssen gerade immer dann konsequent zur Anwendung kommen, wenn wir mit Herausforderungen abseits der rettungsdienstlichen Routine konfrontiert werden.



Publication History

Article published online:
27 November 2020

© 2020. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany