3. Ergebnisqualität
Das Messen von Qualität am Ergebnis oder Outcome einer Maßnahme ist
nachvollziehbar und effektiv. Im Rahmen der Mittelohrchirurgie lassen sich mehrere
Erfolgsparameter definieren, an denen die Qualität der Versorgung messbar
ist.
3.1 Graft take-rate
Der Anteil an Patienten oder Operationen, bei denen ein eingebrachtes
Transplantat oder Implantat im Körper verbleibt und dort integriert bzw.
nicht abgestoßen wird, wird als graft take-rate (GTR) bezeichnet.
Dies lässt sich in der Mittelohrchirurgie auf den Erfolg einer
Trommelfellrekonstruktion, einer eingebrachten Ossikuloplastik und den Verbleib
von Obliterationsmaterial in Mastoidhöhlen beziehen. Bei jedem Aspekt
finden sich primäre Ziele, die es zu erreichen gilt, wie bspw. einen
stabilen und dauerhaften Trommelfellverschluss, wenn eine
Trommelfellrekonstruktion durchgeführt wurde. Geeignete
Messgrößen um den Erfolg zu messen sind in diesem Fall der
Anteil an Rezidivperforationen, Retraktionen oder, in begrenztem Maß,
die postoperative Schallleitungsschwerhörigkeit (Air-Bone-Gap (ABG)). Im
Folgenden sollen daher die einzelnen, für eine qualitativ hochwertige
Mittelohrchirurgie zu berücksichtigenden Faktoren genauer beleuchtet
werden.
3.1.1 Trommelfellrekonstruktion
Ziele: stabiler, dauerhafter Paukenhöhlenverschluss, maximale
Schallabsorption Messgrößen: GTR, ABG,
(Schwingungsfähigkeit)
Ziele der Trommelfellrekonstruktion sind der dauerhafte Abschluss der
Paukenhöhle, um das physiologische Mittelohr-Kompartiment
wiederherzustellen und dabei eine maximale Schallabsorption bei gleichzeitig
höchstmöglicher Stabilität zu erreichen. GTR und
Re-Perforationsrate verhalten sich gegenläufig.
Eine aktuelle Meta-Analyse (214 Studien, 26 097 Patienten) weist eine
12-Monats GTR von 86,6% unabhängig von Alter,
Perforationsgröße und Rekonstruktionsmaterial auf [3 ]. Die Analyse einzelner Faktoren zeigt
eine 5,8% höhere Versagensrate bei Kindern. Zudem haben
kleinere Perforationen (<50% der Trommelfellfläche)
eine 6,1% bessere Prognose, wie auch sich Knorpel als
Rekonstruktionsmaterial gegenüber Faszie mit einer 2,8%
höheren Verschlussrate überlegen zeigt. Diesen Unterschied
für Knorpel und Faszie belegt eine weitere Metanalyse (11
prospektive und 26 retrospektive Studien, 3606 Patienten), bei der eine GTR
von 92% mit Knorpel und 82% mit Faszie erzielt
(p<0,001) wurde. Unterschiede im Anteil eines postoperativen
ABG<10dB waren insgesamt zwischen den Gruppen nicht zu verzeichnen.
Die isolierte Betrachtung der prospektiven Studien zeigte jedoch einen
signifikanten Vorteil der Faszien-Rekonstruktion (p=0,02).
Gegenläufig verhält sich dies bei Betrachtung der GTR, bei
der die Knorpel-Rekonstruktion signifikant besser abschnitt
(p=0,001) [6 ].
Eine Otorrhoe zum Zeitpunkt scheint nur in der kurzfristigen Analyse (2 bis 6
Monate) einen nachteiligen Effekt zu haben. Hier zeigen sich 94,4%
der trockenen Ohren verschlossen gegenüber 84,8% der aktiv
entzündeten (p=0,002). Im Langzeitintervall (>12
Monate) sind keine Unterschiede mehr hinsichtlich der GTR feststellbar [3 ]
[7 ]
[8 ].
Eine vorzeitige Erhebung (<12 Monate) der GTR führt zu falsch
hohen Verschlussraten [8 ]. Eine
prospektive Analyse von 837 operierten Ohren in einem einzelnen Zentrum
zeigte 2 bis 6 Monate nach Operation eine GTR von 93,0%, die auf
86,6% nach 12 Monaten absank (p<0,001). Dieser Effekt war
auch nach Adjustierung für alle untersuchten prognostischen Faktoren
mit einer mittleren Abnahme von 6,0% nachweisbar. Ein
Erhebungsintervall von mindestens 12 Monaten ist für eine
verlässliche Angabe der GTR und einen Vergleich mit der
internationalen Literatur nötig.
Angesichts der großen Datengrundlage, auf der die o.g. Ergebnisse
basieren, können diese mit hoher Wahrscheinlichkeit als gesichert
angesehen werden. Die beiden Instrumente Meta-Analyse und Datenbanksystem
sind für die Generierung dieser Ergebnisse erforderlich.
Eine Beurteilung der Schwingungsfähigkeit ist derzeit mit den Mitteln
der etablierten Diagnostik noch nicht möglich. Ein Ansatz, die
postoperative Schwingungsfähigkeit des (rekonstruierten)
Trommelfells zu messen stellt die optische Kohärenz Tomografie (OCT)
dar [8 ]
[9 ]
[10 ].
Neben der prinzipiellen Zugänglichkeit und Beurteilbarkeit des
Trommelfells mit der OCT, konnte in einem Patienten eine Schwingungsanalyse
des Trommelfells mitsamt dem sichtbaren Prothesenteller durchgeführt
werden ([Abb. 1 ]). Dabei zeigte die
Abnahme der Schwingungsamplitude des Prothesentellers der gemessenen
Schalleitungsschwerhörigkeit im Reintonaudiogramm (Morgenstern et
al., 2019 (accepted). Auch wenn es sich hierbei noch um Einzelfallstudien
mit hohem Bearbeitungsaufwand handelt, könnte dieses Verfahren in
Zukunft die Mittelohrdiagnostik um die detaillierte Schwingungsanalyse in
vivo bereichern.
Abb 1 Optische Kohärenztomographie (OCT) zur
Darstellung des Trommelfells. Dargestellt ist der optische
zweidimensionale Schnitt durch die Trommelfellebene im hinteren
oberen Quadranten. a Der Prothesenteller (2,5 mm Titan Clip
Prothese, Typ Dresde, Fa. Kurz, Dusslingen) ist im
Längsschnitt gut erkennbar. b In der 3-dimensionalen
Rekonstruktion ist der Prothesenteller gut erkennbar. Die
Schwingungsanalyse (hier nicht dargestellt) erlaubt Aussagen
über die Amplitude des Trommelfells und des
Prothesentellers.
3.1.2 Ossikuloplastik
Ziele: gute und dauerhafte
SchallübertragungMessgrößen: ABG,
Prothesen-Extrusions-Rate, (Schwingungsfähigkeit)
Die Ergebnisse nach Rekonstruktion des Schalleitungsapparats werden von
vielen Faktoren beeinflusst. Dabei sind die Themen der Biomechanik des
Mittelohres [12 ]
[13 ]
[14 ]
[15 ], die Materialfrage der Prothesen
[16 ]
[17 ]
[18 ] und der Operations- sowie
Rekonstruktionstechniken [13 ]
[15 ]
[16 ]
[19 ]
[20 ] bereits ausführlich
beleuchtet. Im klinischen Diskurs lässt sich die Frage nach einer
erfolgreichen Ossikuloplastik strenggenommen auf die beiden Indikatoren des
postoperativen ABG und der Versagensrate, in diesem Fall die Extrusionsrate
von Mittelohrprothesen, reduzieren. Obgleich einzelne
Rekonstruktionstechniken und -materialien in experimentellen Untersuchungen
Vorteile im Übertragungsverhalten bieten mögen,
führen die Störeinflüsse im pathologisch
veränderten oft zu einer Abschwächung derartiger
Unterschiede [21 ].
Auch hier bietet das Instrument der Metaanalyse die Möglichkeit,
Effekte aus mehreren geeigneten Studien zusammenzuführen und
gebündelt zu betrachten. Die Frage nach qualitativen Unterschieden
zwischen Partial- (PORP) und Totalprothesen (TORP) bezogen auf den
postoperativen ABG und die Extrusionsrate untersuchte 2013 eine Meta-Analyse
von 40 Studien (4311 Patienten; 2344 PORP und 1967 TORP) [22 ]. Dabei zeigten die PORP einen durchweg
geringeren ABG (<20 dB) als die TORP, auch nach Unterscheidung nach
Operationstechnik, Prothesenmaterial und Beobachtungsintervall. Die Autoren
unterstreichen demzufolge die Bedeutung der Stapessuprastruktur für
eine stabile Rekonstruktion. Die Extrusionsrate verhielt sich in hier
analog: PORP waren signifikant weniger von Prothesenextrusionen betroffen
und den verglichen TORP überlegen.
Ein konkreter Vergleich von Titan-Prothesen und Nicht-Titan-Prothesen
erbrachte in einer weiteren Meta-Analyse von 12 Studien (1388 Patienten; 621
Titan-Prothesen und 767 Nicht-Titan-Prothesen) keinen Unterschied gemessen
am postoperativen ABG und der Extrusionsrate [23 ]. Bei der Untersuchung wurde ein verbleibender ABG<20
dB als erfolgreiche Ossikuloplastik gewertet. Eine Aufteilung in PORP und
TORP erbrachte ebenfalls keine Unterschiede im Hörergebnis zwischen
den Gruppen. Gleiches gilt für die Betrachtung der
Prothesen-Extrusionen, bei denen ebenfalls keine Unterschiede in den
Gruppen- bzw. Subgruppen-Analysen auffielen.
Das zusätzliche Überfüttern der Prothesenkopfplatte
mit Knorpel reduziert in mehreren Studien die Exstrusionsrate von
Titan-Prothese [23 ]
[24 ]
[25 ]
[26 ]
[27 ]
[28 ]
[29 ] und kann daher als Standard angesehen
werden.
Die Autoren beider Analysen diskutieren die Limitationen ihrer Untersuchungen
offen. Allerdings sind diese nicht in der Methodik der Meta-Analyse, sondern
in den Quelldaten, also den zur Analyse herangezogenen
Primär-Studien zu suchen. Das Fehlen von generell prospektiven
Studien, wie auch eine hinreichende Beschreibung der Studienpopulationen
sind hier zu nennen. Zudem ist bemerkenswert, dass eine Vielzahl von Studien
nicht berücksichtigt werden konnte, weil die Daten in ihrer
Darstellung nicht Meta-Analyse-fähig waren.
3.1.3 Mastoidhöhlenobliterationen
Ziele: kleines Höhlenvolumen, trockenes Ohr, Selbstreinigung
Messgrößen: Otorrhoe, Infektionen, Arztbesuche, Schwindel,
HRQOL
Eine gute „Höhle“ ist möglichst klein,
überschaubar und selbstreinigend [30 ]
[31 ]
[32 ].
Die Anlage einer offenen Mastoidhöhle durch Wegnahme der hinteren
Gehörgangswand (engl. canal wall down, CWD) ist eine oft notwendige
und vorgenommene Praxis in der sanierenden Ohrchirurgie. Unabhängig
von einer präferierten Operationsstrategie wird, wenn
möglich, die entstandene Kavität im gleichen Eingriff oder
später obliteriert. Erste technische Beschreibungen verwendeten
Knochenspäne und Knochenmehl zur Obliteration [33 ]
[34 ]. Zahlreiche Gründe sprechen
für die Obliteration offener Mastoidhöhlen. Für die
Patienten stehen unaufwendigere Nachsorgen aufgrund der
Selbstreinigungstendenz [35 ]
[36 ]
[37 ] und weniger thermische Nebenwirkungen
durch Wind, Wasser und saugende Reinigungsmanöver [38 ] im Vordergrund. Audiologisch erzielen
obliterierte Mastoidhöhlen bessere Ergebnisse, da die
Schallübertragung bei offener Höhle und damit maximal
erweitertem Gehörgang akustomechanisch zu einem geringen Schalldruck
vor dem Trommelfell führt [39 ]
[40 ]
[41 ]. Dies resultiert in bis zu 10dB
schlechteren Hörergebnissen [37 ]
[42 ]
[43 ]. Zudem spielen obliterierte
Mastoidhöhlen bei der Druckregulation im Mittelohr keine Rolle mehr
und haben damit auch keinen negativen Einfluss durch die resultierende
Schleimhaut-Oberflächenverkleinerung [44 ]
[45 ]
[46 ]. Aus diesem Grund werden
Obliterationen auch bei Erhalt der hinteren Gehörgangswand
durchgeführt [47 ]
[48 ]
[49 ]. Nicht zuletzt sind
ökonomische Vorteile einer erfolgreichen Obliteration zu nennen, da
weniger Arztbesuche und seltener lokale Behandlungen oder gar
Revisionsoperationen nötig sind [50 ]
[51 ].
Eine erfolgreiche und stabile Mastoidobliteration ist daher als
Qualitätsindikator für eine sanierende Ohroperation zu
werten und Obliterationstechnik wie Materialauswahl beeinflussen direkt das
Ergebnis. Heute stehen neben den autologen eine Reihe von alloplastischen
Materialien zur Verfügung, die insbesondere bei Revisionsoperation
und im Falle von biologisch minderwertigem körpereigenem Gewebe
deutliche Vorteile besitzen. Bindegewebige Obliterationen [33 ] oder Fett [52 ]
[53 ] unterliegen aufgrund von
Resorptionsvorgängen oft erhebnlichen Volumenreduktionen, was den
Obliterationseffekt zunichtemacht [54 ]
[55 ]
[56 ]. Die Verwendung von
Muskel-Faszien-Bindegewebslappen, vorrangig aus dem M. temporalis geformt
[55 ]
[57 ]
[58 ]
[59 ]
[60 ]
[61 ]
[62 ]
[63 ], haben eine verringerte
Schrumpfungstendenz, langfristig können partielle Atrophie und
Volumenminderung jedoch nicht vermieden werden [51 ]
[63 ]
[64 ]
[65 ].
Weitere körpereigene biologische Gewebe sind Knochen in Form von
Knochenmehl (auch Bohrmehl oder engl. bone pâté, bone dust)
oder Chips [54 ]
[64 ]
[66 ]
[67 ]
[68 ]
[69 ]
[70 ]
[71 ]
[72 ]
[73 ]
[74 ] bzw. Knorpel aus Tragus
und/oder dem Cavum conchae [75 ]
[76 ]
[77 ]
[78 ], die während der Operation
gewonnen werden. Bei der Verwendung von autologem Knochen wird die
Erfolgsrate einer dauerhaften Obliteration entscheidend von den
Entnahmeparametern und der Spenderkonstitution beeinflusst. Der mittels
Fräse gewonnene Knochen wird in eine pastenartige Mischung aus
Zellen, Kollagenbestandteilen, Wasser, Blut und extrazellulärer
Matrix zerlegt, in der die Menge an vitalen Zellen über die
Fähigkeit der Mineralisierung entscheidet. Jede Kontamination mit
Cholesteatomgewebe muss vermieden werden. Durch die Gewinnung mittels
Fräse in einem zerspanenden Verfahren entstehen je nach
Fräsengeometrie (Durchmesser und Schneidenabstand) unterschiedlich
große Knochenspäne. Anpressdruck, Umdrehungsgeschwindigkeit
und Kühlung bedingen durch die resultiere Hitze zudem den Anteil
vitaler Zellen im Knochenmehl. Große (7,0 mm) und grobe
Fräsen, die nicht mit mehr als 15 000 U/min
verwendet werden, zeigen bei histologischen Untersuchungen den
höchsten Anteil vitaler Zeller im nativen Knochenmehl [79 ]. Alternativ können
größere Knochenpartikel auch gesammelt und einer
Knochenmühle zerkleinert werden. Tierexperimentell weisen
Obliterationen von Defekten nicht-kritischer Größe mit
schonend gewonnenem autologem Knochen 2 Wochen nach Operation radiologisch
wie histologisch die beste osteogene Durchsetzung auf [80 ]. Da auch Spender-spezifische Faktoren
wie Alter, Hormonstatus und Stoffwechselerkrankungen die Qualität
des autologen Knochentransplantats negativ beeinflussen, können auch
bei sorgfältiger und kontrollierter Knochenmehlgewinnung partielle
Abstoßungen bzw. Resorptionen nicht sicher vermieden werden [71 ]
[72 ]
[81 ]
[82 ]
[83 ]
[84 ]
[85 ].
Die Gewinnung eines qualitativ hochwertigen Materials für die
autologe Knochenmehlobliteration setzt daher kontrollierte Drehzahlen bis
maximal 15 000 U/min bei großem
Fräsendurchmesser und grober Scheidengeometrie voraus. Die
Beimengung von Antibiotika in das Knochenmehl vor der Reimplantation kann
das Infektionsrisiko reduzieren. Unmittelbar postoperative Infektionen des
eingebrachten Knochenmehls können durch eine
unsachgemäße Gewinnung mit großen Anteilen avitalen
Gewebes, oder einer ungeeigneten Entnahmestelle
zurückzuführen sein. Kortikaler Knochen bietet, wohl
aufgrund seines höheren Zellgehalts, bessere Voraussetzungen
für die Obliteration. Walker und Kollegen konnten so die
postoperative Infektionsrate von 10% (9/90) auf 3,6%
(7/195) senken [86 ].
Körpereigener Knorpel kann alleinig oder in Kombination mit
Knochenmehl oder anderen Materialien eingesetzt werden. Die biologischen und
mechanischen Eigenschaften machen seinen Einsatz als stabiles
Rekonstruktionsmaterial oder als flexible, aber dennoch dichte Abdeckung von
zusätzlich verwendetem Obliterationsmaterial. Die Entstehung von
prominenten Kanten und Stufen muss zur Verhinderung von
Plattenepithelinvaginationen vermieden werden [51 ].
Alloplastische Materialien konkurrieren im OP-Saal naturgemäß
mit autologen Materialien, deren Biokompatibilität,
Verfügbarkeit, Kosteneffizienz und Akzeptanz bei Patient und Chirurg
unbestritten sind. Daher müssen alloplastische Materialien in der
Gesamtschau deutliche Vorteile bieten, die ihre Verwendung attraktiv machen.
Verwendung finden u. a. Keramiken [81 ]
[83 ]
[84 ]
[85 ]
[87 ]
[88 ]
[89 ]
[90 ]
[91 ]
[92 ]
[93 ]
[94 ]
[95 ]
[96 ]
[97 ], Methylmethacrylat [98 ], Silikon [99 ], Hydroxylapatit [58 ], und
Bioaktives Glas (BAG S53P4; BonAlive ® )[100 ]
[101 ]
[102 ]
[103 ].
Misst man den Erfolg der Obliteration an der postoperativen
Entzündungskontrolle, respektive der Otorrhoe, so können bis
zu 97% (n=37/38) beschwerdefreie Ohren nach
Obliteration mittels Knochenmehl und Knorpel [87 ] erzielt werden. In einem retrospektiven, direkten Vergleich
von obliterierten und nicht-obliterierten Mastoidhöhlen nach
Resektion der hinteren Gehörgangswand konnten Harun und Mitarbeiter
nach 6 Monaten trockene Verhältnisse in 77,8%
(14/18) und 71,1% (41/45) (p=0,590)
erzielen. Im weiteren Verlauf stiegen diese Werte auf 88,9%
(16/18) und 91,1% (41/45) (p=0,786) an, so
dass hier insgesamt kein Vorteil einer Obliteration hinsichtlich des
„trockenen Ohres“ belegt werden konnte. Auch nach
Stratifizierung in primäre und sekundäre Obliterationen
konnte kein signifikanter Unterschied erzielt werden [104 ]. Auch die Anzahl der postoperativen
Arztkonsultationen zeigte keinen Unterschied in den beiden Gruppen.
Ein weiterer für den Patienten wichtiger Aspekt ist die
Schwindelkontrolle. Hier haben die Obliterationen einen eindeutig positiven
Effekt, nach dem in bis zu 56% nach der Obliteration kein Schwindel
bei alltagsbedingter thermischer Reizung auftritt [38 ]
[66 ].
Dass die Patienten durch die Obliteration einen Benefit verspüren,
lässt sich mittels Glasgow Benefit Inventory (GBI) erfassen [36 ]
[105 ]
[106 ]
[107 ]
[108 ] ([Abb.
2 ]). Dieses Messinstrument zur Nutzenbewertung nach HNO-Eingriffen
wird im Kapitel 3.7 vorgestellt.
Abb. 2 Nutzenbewertung nach Mittelohreingriffen bewertet mit
dem Glasgow Benefit Inventory. Der Glasgow Benefit Inventory (GBI)
trägt Verbesserungen nach oben und Verschlechterungen
(jeweils auf maximal 100 Punkte skaliert) auf. In den dargestellten
Studien konnte jeweils ein positiver Nutzen nach
durchgeführter Intervention von den Patienten angegeben
werden [35 ]
[36 ]
[105 ]
[107 ]
[108 ]
[140 ]
[199 ]
[200 ].
3.2 Rezidivrate (Cholesteatomrezidive, -residuale)
Ziele: Eradikation der Erkrankung Messgrößen: Residual- und
Rezidiv-Rate
Die Frage nach „der richtigen“ Strategie oder Operationsmethode
in der Cholesteatom-Behandlung hat in den vergangenen Jahren eine intensive
Bearbeitung in der Literatur erfahren. Problematisch gestaltete sich hierbei,
dass in der Nomenklatur von Techniken Unschärfen bestanden. Die
Definition anhand des Zustandes der erhaltenen (engl. canal wall up, CWU) und
weggenommenen (engl. canal wall down, CWD) hinteren Gehörgangswand hat
sich über die Jahre durchgesetzt. Zudem wird die neue Klassifikation der
Tympanomastoid-Chirurgie hoffentlich noch mehr Schärfe in die Definition
von Vorgehen und Ausprägung der chirurgischen Technik bringen [109 ].
Die umfassendste Untersuchung stellt aktuell die Meta-Analyse aus dem Jahr 2013
dar. Dabei wurden 13 Studien bewertet (4720 Patienten; 2761 CWU und 1959 CWD)
[110 ]. Im Ergebnis reichten die
Rezidivraten von 9 bis 70% in der CWU und 5 bis 17% in der CWD
Gruppe. Daraus ergab sich ein fast 3-fach höheres Risiko ein Rezidiv zu
erleiden, wenn die hintere Gehörgangswand intakt belassen wurde (CWU) in
Vergleich mit der CWD-Gruppe. Die Limitationen der Studie und
zusätzliche Einflussfaktoren wurden von den Autoren intensiv diskutiert.
Insbesondere die Unterschiede im Nachbeobachtungszeitraum, die oftmals fehlende
Unterscheidung in Rezidiv- bzw. Residual-Cholesteatome und die
Durchführung von 2nd look Operationen. Abschließend kommen die
Autoren jedoch zu der Empfehlung, dass die CWD-Technik
großzügiger angewendet und letzten Endes auch bevorzugt werden
sollte. Daraus leitet sich auch die Empfehlung eines mindestens 2- eher
5-jährigen Intervalls zur abschließenden Beurteilung von
Cholesteatom-Rezidiven (-Residuen) ab [35 ]
[109 ]
[110 ]
[111 ]
Besonderes Augenmerk gilt es der einzeitigen Obliteration bei CWD-Technik zu
widmen, da die Gefahr einer Versprengung von Cholesteatom-Gewebe in die
Obliteration besteht. Hinsichtlich des Auftretens von Residual- oder
Rezidiv-Cholesteatomen scheint sich die einzeitige Mastoid-Obliteration jedoch
positiv auszuwirken [114 ]. Im systematischen
Vergleich von 13 Studien mit insgesamt 1534 Ohren konnte eine Rezidivrate von
4,6% (0–12%) und eine Residualrate von 5,4%
(0–12,5%) bei obliterierten Mastoidhöhlen identifiziert
werden, unabhängig von einer offenen (CWD) oder geschlossenen (CWU)
Technik. Demgegenüber stehen Rezidiv- und Residualraten von 4 bis
17% bei offener Operationstechnik (CWD) und 9 bis 70% in Studien
mit geschlossener Operationstechnik [104 ]. Ob
eine Verwendung autologen oder alloplastischen Materials einen Unterschied im
Auftreten von Residual- oder Rezidiv-Cholesteatomen macht, kann noch nicht
abschließend beurteilt werden. Die Residualraten waren zwar nahezu
identisch bei 5,5% (n=73; autologe Obliteration) und
4,7% (n=10; alloplastische Obliteration), während die
Rezidivraten bei 5,3% (n=70; autologe Obliteration) und
0,5% (n=1; alloplastische Obliteration) lagen. Allerdings
lässt die Anzahl der alloplastisch obliterierten Höhlen (212
Patienten in 3 Studien [110 ]
[115 ]
[116 ]) einen Bias vermuten. Zusammenfassend
lässt die derzeitige Studienlage den Schluss zu, dass eine einzeitige
Mastoidobliteration im Rahmen der Cholesteatom-Operation die Residual- und
Rezidivrate, im Vergleich zur zweizeitigen, nicht beeinflussen.
3.3 Hörergebnisse
Die Dokumentation von Hörergebnissen nimmt naturgemäß bei
der Ergebnisbeschreibung von Mittelohroperationen eine zentrale Rolle ein. Daher
haben sich audiologische Ergebnisse als Qualitätsindikatoren in der
Mittelohrchirurgie bewährt und international durchgesetzt. Die
Qualität der Therapie kann zum Teil an der Änderung der
Hörleistung gemessen werden. Der primär durch eine
Mittelohroperation beeinflussbare Anteil der Schwerhörigkeit ist die
Schallleitungsschwerhörigkeit, bei deren Beschreibung die folgenden
Ziele verfolgt werden (modifiziert nach[117 ]):
Möglichkeit der Erfolgsprognose für Patient und Arzt
Beurteilung einer Operationsmethode oder einer Rekonstruktionstechnik
Vergleich der Ergebnisse mit anderen Fallserien und Studien
Schaffung einer Datengrundlage für weiterführende
Meta-Analysen.
Qualitativ hochwertige Berichts- und Dokumentationsstandards müssen, um
national und international vergleichbar und anschlussfähig zu sein,
folgende Voraussetzungen erfüllen:
Anwendbarkeit: Bei der Definition der Parameter muss auf die
Verhältnismäßigkeit von gewünschtem
Erkenntnisgewinn und zeitlich wie ökonomisch machbarer Umsetzung
geachtet werden. Dies erhöht die Akzeptanz und die Anwendung
eines Dokumentationsstandards.
Validität: Die definierten Parameter müssen den Erfolg
der Intervention nachgewiesenermaßen abbilden. Dies betrifft
insbesondere psychometrische Messinstrumente.
Vollständigkeit: Nach Möglichkeit sollten alle Parameter
erfasst werden, die einen Einfluss auf den Interventionserfolg haben
und/oder ihn widerspiegeln. Dies erfordert eine Kombination von
Bewertungskriterien und Messmethoden (anamnestische, klinische und
intraoperative Befunde, Funktionsergebnisse).
Übertragbarkeit: Die zur Erfolgsbeschreibung herangezogenen
Parameter sollten die international verwendeten Parameter beinhalten, um
sie im internationalen Kontext diskutieren zu können. Dies
trifft für Messmethoden, -instrumente und Standards in der
Ergebnisberechnung, bzw. -darstellung zu.
Vergleichbarkeit: Die Studienpopulationen müssen
möglichst genau beschrieben sein, damit Vergleiche der
Erfolgsparameter nicht durch zu große Unterschiede in der
Kohortenzusammensetzung entkräftet werden.
Zur Bewertung der Hörveränderung nach Mittelohreingriffen wird in
den meisten Fällen die Veränderung der
Schallleitungsschwerhörigkeit herangezogen. Diese ist mittels
Reintonaudiometrie leicht ermittelbar. Das Reintonaudiogramm stellt somit nach
wie vor das wichtigste psychoakustische Messinstrument dar. Seine intuitiv
interpretierbare Aussage in Form von Luft- und
Knochenleitungshörschwellen (in dB) ist leicht darstellbar, auszuwerten
und einem mathematischen Vergleich zugänglich. Sein tonaler Charakter
erlaubt darüber hinaus auch vergleichende Aussagen über
Sprachgrenzen hinweg, was das Reintonaudiogramm in der internationalen Literatur
unersetzlich macht. Auch aufgrund seiner nachgewiesenen Validität wird
es als Korrelationsgrundlage für andere Outcome-Parameter herangezogen
[118 ]. Die Sprachaudiometrie weist
für die Nutzenbewertung in der Mittelohrchirurgie einige Besonderheiten
auf, die ihren Einsatz erläuterungswürdig machen.
3.3.1 Reintonaudiometrie
Die Bestimmung der Differenz von Knochen- und Luftleitungshörschwelle
(engl. air-bone gap, ABG) ist der durch eine Tympanoplastik beinflussbare
Aspekt der Hörstörung. Messtechnisch sind die beiden
Schwellen in der Regel leicht zu ermitteln und somit der ABG, gemittelt
über die verwendeten Prüffrequenzen, nicht nur rasch
berechnet, sondern ein zentraler Parameter der bei der
Qualitätsbewertung. Eine unkritische Verwendung verbietet sich
dennoch, weil eine Abnahme des ABG auch durch einen postoperativen Anstieg
der Knochenleitungshörschwelle
(„Knochenleitungsabfall“) bei unveränderter
Luftleitungshörschwelle (engl. air conduction, AC) entstehen kann
[117 ]
[118 ]
[119 ].
Um diese falsch positive Abnahme des AGB auszuschließen
müssen entweder zusätzlich die Veränderung der
Knochenleitungshörschwelle (engl. bone conduction, BC) im
prä-post-OP-Vergleich angegeben werden, oder aber zusätzlich
eine Rechenoperation durchgeführt werden, bei der von der
postoperativen Luftleitungshörschwelle die
präoperative Knochenleitungshörschwelle
subtrahiert wird
(ABGeff =ACpost −BCprä )
[122 ].
Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass für den Patienten die
Veränderung der Luftleitungshörschwelle von entscheidender
Bedeutung ist, stellt sie für ihn doch die Nettoleistung der
hörverbessernden Operation dar. Somit muss bei der Formulierung von
Qualitätsindikatoren, neben dem chirurgisch interessanten ABG auch
die resultierende Luftleitungshörschwelle aus Sicht des Patienten
berücksichtigt werden, da sie auch die resultierende
Lebensqualität stark beeinflusst.
Die Auswahl der Prüffrequenzen sollte sich zur internationalen
Vergleichbarkeit von Ergebnissen nach den Empfehlungen der amerikanischen
Fachgesellschaft (American Acadamy of Otolaryngology – Head and Neck
Surgery, AAO-HNS) richten und folglich 0,5; 1; 2 und 3 kHz beinhalten [123 ]. Angegeben werden Mittelwert und
Standardabweichung des Reintonmittelwerts (engl. pure-tone average, PTA). Im
deutschsprachigen Raum sind anstelle von 3 eher 4 kHz verbreitet. In den
Zeiten der digitalen Datenverarbeitung sollte die Angabe beider Mittelwerte,
sowie einer über alle gemessene Frequenzen gemittelten Wertes,
problemlos möglich sein. Da die Auswahl der berücksichtigten
Frequenzen einen Einfluss auf die Ergebnisse hat [124 ], ist in jedem Fall die getroffene Wahl
derselben mit anzugeben.
3.3.2 Sprachaudiometrie
Die Ergebnisse der Sprachaudiometrie sind zur Beurteilung der
Schallleitungsschwerhörigkeit von eingeschränktem Nutzen.
Ein dem ABG der Reintonaudiometrie vergleichbarer Parameter der
Sprachaudiometrie existiert bisher nicht. Ähnlich der
Luftleitungshörschwelle fassen die die sprachaudiometrischen
Ergebnisse multiple Teilaspekte des Hörens zusammen, die jedoch
für die Bewertung der Funktionseinschränkung bzw. der
-wiedererlangung bedeutend sind [125 ].
Die international bestehenden methodischen Unterschiede und
Bewertungsdifferenzen lassen direkte Vergleiche nicht zu. Auch der im
anglo-amerikanischen Raum bevorzugte Wort-Verständnis-Wert (engl.
Word Recognition Score, WRS), gemessen bei 40 dB über der
individuellen Sprachverstehensschwelle [126 ]
[127 ], muss als methodisch unbrauchbar
eingestuft werden. Bei individueller und damit variabler Festlegung des
Darbietungsschalldrucks wird aufgrund und Ausmaß der vorliegenden
Schwerhörigkeit entweder die Unbehaglichkeitsschwelle bzw. die
Pegelgrenze des Audiometers erreicht oder die Ergebnisse entsprechen nicht
dem maximalen Sprachverstehen [128 ]
[129 ]. Demgegenüber haben die
Veränderungen des Sprachverstehens bei konstanten Schalldruckpegeln
signifikant größere Unterschiede geliefert, sodass konkret
die Angabe des prozentualen Freiburger Einsilber-Verstehens bei 65 und 80 dB
als methodisch überlegen angesehen werden muss [128 ].
Somit ist die Einbeziehung sprachaudiometrischer Ergebnisse zur
Qualitätsbeschreibung von hörverbessernden
Mittelohroperationen prinzipiell wünschenswert, allerdings sind die
nationalen wie internationalen methodischen Differenzen für die
Aussagen limitierend. Insbesondere muss vor diesem Hintergrund die 2012
erfolgte Modifikation der AAO-HNS Empfehlungen zum Berichtsstandard [130 ] äußerst kritisch
bewertet werden. Danach sollen Hörergebnisse immer als
2-dimensionale Parameterkombination aus Ton- und
Sprachaudiometrie-Ergebnissen (sog. Verteilungsdiagramm, engl. scattergramm)
dargestellt werden. Die o.g. Ausführungen lassen jedoch allein
bereits die methodische Vorbedingung (Messung bei 40 dB SL) als nicht
geeignet erscheinen, um Veränderungen durch hörverbessernde
Operationen verlässlich abbilden zu können [128 ]. Zudem stellt sich die Frage, wie
anhand des propagierten Scattergramms eine Fallzahlschätzung
für klinische Studien erfolgen soll. Seine zudem verpflichtende
Nutzung als Voraussetzung für Publikationen in einigen Zeitschriften
muss daher als bedenkenswert eingestuft werden.
3.3.3 Erhebungszeitpunkte
Neben der obligaten präoperativen Messung sind die Zeitpunkte der
postoperativen Erhebung der audiometrischen Ergebnisse wenig standardisiert.
Die AAO-HNS Empfehlungen sehen ein Intervall von 12 Monaten für
aussagekräftige Hörergebnisse vor [123 ]. Ein Konsens über definierte
Zeitintervalle, die Kurz- von Langzeitergebnissen unterscheiden, existiert
nicht. Zeitintervalle>36 bis>60 Monate können
jedoch, ähnlich wie in der Cholesteatom-Chirurgie [37 ]
[111 ]
[112 ]
[113 ], relativ sicher als Langzeitaussage
gewertet werden.
In der klinischen Routine sind die ersten Wochen und Monate nach der
Operation – auch audiometrisch – am besten dokumentiert, was
an der vergleichsweise engen Bindung des Patienten an den Operateur in
diesem Zeitraum liegt. Daher existieren oft
Funktionsüberprüfungen zum Zeitpunkt der Detamponade bzw.
kurz danach. Durch die noch nicht abgeschlossene Wundheilung, ist die
Belastbarkeit der Ergebnisse jedoch gering und eher schlechter als
abschließend zu erwarten. Ein Intervall von 3 Monaten scheint aus
der klinischen Erfahrung heraus praktikabel zu sein. Wie bei jedem anderen
Parameter auch, ist in jedem Fall die Angabe des berichteten Zeitintervalls
unerlässlich.
Wie so oft scheitern die Bemühungen um eine lückenlose
Dokumentation leider allzu oft an den Gegebenheiten der
Versorgungsrealität. Wie im Abschnitt „Erfassungs- und
Dokumentationssysteme“ ausgeführt werden wird, ist die Menge
an „missing data“ der Länge des postoperativen
Beobachtungszeitintervalls direkt proportional. Dieses Phänomen
lässt sich auch nur bedingt durch gesteigerte Anstrengungen des
Operateurs in Praxis oder Klinik beheben, da die Compliance der Patienten
ihrerseits direkt proportional zum Beschwerdeausmaß, respektive dem
Leidendruck ist [8 ]. Dies führt
zudem zu einer Verzerrung im Datenpool hin zu einer
überrepräsentierten Abbildung von besonders langwierigen und
ggf. komplikationsbehafteten Verläufen. Die betroffenen Patienten
verbleiben länger in der klinischen Beobachtung und erhalten
häufiger Funktionskontrollen, als ihre regulär genesende
Vergleichsgruppe.
3.4 Lebensqualität
Die Zahl an Lebensqualitätsmessinstrumenten, mit denen die
Beeinträchtigung von Erkrankten und der Therapieerfolg von behandelten
Ohrpatienten gemessen werden kann, ist beachtlich und weiter steigend [131 ]. Auch wenn die Fülle der
beschriebenen Bewertungsinstrumente auf den ersten Blick unnötig
erscheint, so ist sie für eine differenzierte Beurteilung dennoch
erforderlich. In der Vergangenheit wurden häufig selbsterstellte
Fragelisten für Patienten und Symptomdokumentationslisten als
Ergänzung zu objektiven oder funktionellen Parametern herangezogen [131 ]
[132 ]
[133 ]
[134 ]
[135 ]. Die Bemühungen, mit diesen
Listen eben solche Faktoren zu erfassen und messbar zu machen, die sich nicht in
ABG oder prozentualen Heilungsraten abbilden lassen, sind nachvollziehbar und
korrekt. Allerdings erfüllen sie nicht die Gütekriterien
wissenschaftlicher Messinstrumente und haben daher lediglich ergänzenden
Charakter.
Daher war die Einführung validierter Messinstrumente konsequent und ist
für die Beschreibung der Ergebnisqualität eine Bereicherung.
Für die Ohrchirurgie war im Jahr 2000 mit dem „Chronic Ear
Survey (CES)“ erstmals ein Ohr-spezifisches Messinstrument in englischer
Sprache zur Lebensqualitätsmessung verfügbar [136 ]. Der COMOT-15 (Chronic Otitis Media
Outcome Test 15) war im Jahr 2009 das erste deutsche Ponton [132 ].
3.4.1 Generische und spezifische Messinstrumente
Im Vergleich zu generischen Lebensqualitätsmessinstrumenten
fokussieren krankheitsspezifische auf eben die körperlichen Symptome
und psychischen Beeinträchtigungen, die durch eine bestimmte
Erkrankung entstehen. Daher benötigt man für die
strukturierte Erfassung der Beschwerden bei der Otosklerose [137 ] auch ein anderes Frageninventar als
bei der chronischen Otitis media. Ferner erklärt diese
Spezifität auch, warum Ohr-erkrankungsbedingte
Beeinträchtigungen in generischen QOL-Messinstrumenten zumeist nicht
abgebildet werden können, da sie zu umfassend ausgerichtet sind.
Zu den in der HNO-Heilkunde krankheitsübergreifend eingesetzten
generischen Messinstrumenten zählt der Short Form 36 (SF-36) und der
GBI. Auch wenn der SF-36 in den bisherigen Studien zu Mittelohroperationen
keine Verbesserung der HRQOL belegen konnte, weisen doch Patienten mit einer
chronischen Otitis media signifikante Einschränkungen in 4 Subskalen
(von insgesamt 8) auf [138 ]
[139 ]
[140 ]. Insbesondere vor dem
krankheitsübergreifenden Charakter auch jenseits des HNO-Fachgebiets
ist die zusätzliche Verwendung des SF-36 zur Bewertung bei
Mittelohroperationen zu empfehlen. Somit sind unter Umständen eine
Einordnung von Mittelohr-spezifischen Einschränkungen
und/oder Veränderungen nach der Therapie nicht nur
longitudinal, sondern auch Entitäten übergreifend
möglich.
Der GBI wurde ebenfalls als Krankheits- und Therapie-übergreifendes
Messinstrument entwickelt, um den allgemeinen Nutzen von HNO-Eingriffen zu
messen [140 ]. Ursprünglich war die
Darstellung der Ergebnisse mit Zahlenwerten von −100 (starke
Verschlechterung) bis+100 (starke Verbesserung) vorgesehen, um die
relative Veränderung durch die Intervention abzubilden. Oft werden
die mittels GBI gemessenen Daten jedoch mit den statistischen Maßen
von Mittelwert und Standardabweichung angegeben. Ungeachtet dessen eignet er
sich ebenfalls, um den Nutzen eines, bzw. die Veränderung durch
einen mittelohrchirurgischen Eingriff abzubilden und zusätzlich
Vergleiche zu GBI-Messungen bei anderen Interventionen zu ziehen. Nicht
unerwähnt soll bleiben, dass die deutsche Version des GBI bisher
nicht für die Nutzenmessung nach Tympanoplastik validiert ist.
Einsatz fand der GBI in der Mittelohrchirurgie bisher bei der Bewertung von
Radikalhöhlenrevisionen und Stapes-Operationen. Die [Abb. 2 ] stellt Studien, in denen der
Nutzen mittels GBI gemessen wurde nebeneinander.
3.4.2 HRQOL-Messinstrumente in der Mittelohrchirurgie
Bei der Nutzenbewertung von Mittelohreingriffen kann zusätzlich
zwischen der Bewertung der Sinnesqualität
„Hören“ und den krankheitsspezifischen
Beeinträchtigungen unterschieden werden. Einige der
krankheitsspezifischen Messinstrumente haben nochmals Subskalen zur
Hörbewertung integriert.
Die Bewertung des Hörverlusts bzw. einer postinterventionellen
Änderung ist Gegenstand der Evaluation von operativen Verfahren, wie
der Tympanoplastik, aber auch der Hörsystemversorgung.
Messinstrumente, die speziell den Hörverlust bewerten sind in der
Vergangenheit vorrangig eingesetzt worden, um den Nutzen von konventionellen
Hörgeräteversorgungen sowie Hörimplantaten
abzubilden. Ihre Stärke liegt darin, dass sie eine Erfassung der
tatsächlichen, individuellen Beeinträchtigung erlauben, die
durch eine Höreinschränkung besteht. Somit ergänzen
sie in besonderem Maße die psychophysischen Testverfahren und sind
nicht als Surrogat-Parameter zu betrachten. In den letzten Jahren wurden
einige bereits eingesetzt, um die Hörverbesserung nach
Mittelohreingriffen zu bestimmen.
Zur reinen Bewertung des Hörverlusts stehen u. a. die
folgenden Inventare und Messinstrumente zur Verfügung:
Hearing Satisfaction Scale (HSS)
(modified) Amsterdam Inventory of Auditory Disability and Handicap
((m)AIAD)
Hearing Handicap Inventory for Adults (HHIA)
Abbreviated Profile of Hearing Aid Benefit (APHAB)
Zudem lässt sich die empfundene Klangqualität
über
Um die subjektive Beeinträchtigung durch eine spezifische
Ohrerkrankung messen zu können, ist die Verwendung von
multidimensionalen krankheitsspezifischen Bewertungsinstrumenten
erforderlich. Wie alle bisher beschriebenen Messinstrumente auch, ist ihr
Einsatz zur Beschreibung des Ist-Zustands möglich. Dies macht sie zu
einem wertvollen Instrument in der klinischen Routine. Die entsprechenden
Item-Listen fragen die speziellen Symptome der jeweiligen Erkrankung ab und
stehen somit in engem Zusammenhang mit der systematischen ärztlichen
Anamnese, ergänzen diese jedoch durch die Dimension der subjektiven
skalierten Bewertung der Beeinträchtigung.
Zusätzlich besteht die Möglichkeit des individuellen
longitudinalen Einsatzes zum Vergleich der
prä-/post-therapeutischen Veränderung. Analog zur
Ergebnisbewertung des Operationserfolges einer hörverbessernden
Operation anhand der ABG-Abnahme kann somit die subjektive
Beeinträchtigung durch die Symptome der Krankheit be- und
ausgewertet werden.
Die [Abb. 3 ] gibt einen Überblick
der zur Verfügung stehenden Messinstrumente, die zur Erfassung der
subjektiven Beeinträchtigung bei Mittelohrerkrankungen eingesetzt
werden können und sich gleichzeitig zur Nutzenbewertung von
therapeutischen Maßnahmen im Verlauf eignen ([Abb. 4 ]).
Abb. 3 Messinstrumente zur Nutzenbewertung von
Mittelohroperationen
Abb. 4 Beeinflussung der HRQOL durch die psychische
Gesundheit. Aufgeschlüsselt nach den Einflussfaktoren stellt
die Depressivität den größten Anteil an der
postopertiv empfundenen Lebensqualität dar. Die Abnahme der
Luftleitungshörschwelle, wie auch die zusätzlichen
somatischen Erkrankungen haben einen deutlich geringen Einfluss..
(ZCMEI-21: Zurich chronic middle ear inventory 21; COMOT-15: Chronic
otitis media outcome test 15; OOPS: Ossiculoplasty outcome staging
index, ΔLL-Hörschwelle: Veränderung der
Luftleitungshörschwelle)
3.4.3 Weitere Einflussfaktoren auf die HRQOL
Die Beobachtung, dass Patienten das Ergebnis ihrer Operation unterschiedlich
bewerten trotz gut vergleichbarem objektivem Outcome lässt die Frage
nach zusätzlichen, ggf. übergeordneten Einflussfaktoren
aufkommen. Insbesondere gegenläufige Bewertungen mit guten Werten
der objektivierbaren Ergebnisparameter (verschlossenes Trommelfall,
trockenes Ohr und ABG<10 dB) und dennoch stark
eingeschränkter spezifischer Lebensqualität legen die
Vermutung nahe, dass HRQOL Messungen einem intraindividuellen Bias
unterliegen. In einer Untersuchung zum Einfluss der psychischen Gesundheit
auf die krankheitsspezifische HRQOL bei Patienten mit chronischer Otitis
media konnte gezeigt werden, dass die Depressivität der
Haupteinflussfaktor für den postoperativ empfundenen Nutzen einer
Mittelohroperation ist [141 ].
Einhundert Patienten mit OMC zeigten mit dem COMOT-15 und dem ZCMEI-21
signifikante Verbesserungen im prä-/post-OP-Vergleich bei
unveränderter generisch gemessener Lebensqualität (SF-36).
Bei Stratifizierung nach der präoperativ gemessenen
Depressivität war mit allen Messinstrumenten die HRQOL bei den
Patienten mit depressiven Symptomen stärker eingeschränkt.
Auch nach Adjustierung auf die Änderung der absoluten
Hörschwelle, dem Ausmaß der Mittelohrpathologie und den
somatischen Begleiterkrankungen blieb dieser statistisch signifikante
Zusammenhang bestehen. Somit können präoperative
Depressionssymptome als prospektiv mit einer schlechteren
krankheitsspezifischen Lebensqualität sechs Monate nach einer
sanierenden Mittelohroperation assoziiert angesehen werden ([Abb. 3 ]).
Da nach diesen Ergebnissen Patienten mit gesteigerter Depressivität
die postoperative HRQOL signifikant schlechter bewerten (auch
unabhängig von somatischen Begleiterkrankungen, dem Ausmaß
der Mittelohrpathologie und der postoperativen
Luftleitungshörschwelle) wird die Notwendigkeit weiterer
Untersuchungen zur Identifikation zusätzlicher Einflussfaktoren, wie
etwa Persönlichkeitsmerkmalen, deutlich. Gleichzeitig
veranschaulichen die Daten die Komplexität bei der Verwendung
psychometrischer Messinstrumente, die – wie andere Messergebnisse
auch – immer im Gesamtkontext der Messbedingungen gesehen werden
müssen. Zur Beratung der Patienten und für eine realistische
Erwartungshaltung bei Patient und Arzt können diese
Zusammenhänge einen wertvollen Beitrag leisten.
3.4.4 Empfehlungen zu Auswahl und Einsatz von
HRQOL-Messinstrumenten
Bisher existieren für die Auswahl und den Einsatz dieser
Messinstrumente keine nationalen oder internationalen Empfehlungen. Auswahl
und Einsatz sind standort-abhängig und noch nicht
flächendeckend verbreitet. Zudem gibt es mittlerweile auch in
deutscher Sprache scheinbar konkurrierende Bewertungsinstrumente, wie
beispielsweise für die chronische Otitis media der COMOT-15 und der
ZCMEI-21. Durch Abweichungen in den beiden Frageninventaren unterscheiden
sie sich in der Gewichtung der Aussage, was die Autoren und Anwender in den
jeweiligen Arbeiten hervorheben und für ihre Anwendungsfälle
als vorteilhaft bewerten. Dennoch zieht die individuelle Auswahl eines
Messinstruments die nicht mehr vorhandene Vergleichbarkeit von Ergebnissen
nach sich. Verschärft wird die Situation durch individuelle
Übersetzungen von anderen, vorzugsweise englischen Messinstrumenten,
die bisher in deutscher Sprache nicht validiert und publiziert sind.
Als otologische Gemeinschaft sehen wir daher einer Entwicklung entgegen, die
auf eine wachsende Diversität zustrebt und gleichzeitig einer
nationalen wie internationalen Anschlussfähigkeit der Ergebnisse
entgegenwirkt. Aus dem Blickwinkel der Qualitätssicherung ist daher
dringend die Erarbeitung von Empfehlungen zur Auswahl und dem Einsatz von
Lebensqualitätsmessinstrumenten gefordert. Nur so können
zukünftig qualitativ hochwertige und national wie international
vergleichbare Studienergebnisse produziert werden. Zur Verwendung von HRQOL
Messinstrumenten bei der Nutzenbewertung in der Mittelohrchirurgie kann
daher festgehalten werden:
Routinemäßige Verwendung von HRQOL Messinstrumenten
zur Bewertung der Beeinträchtigung und Beurteilung des
individuellen Behandlungsergebnisses
Auswahl und Verwendung eines generischen und eines
krankheitsspezifischen Messinstruments, welches in möglichst
vielen Sprachen validiert ist
Einsatz prä- und mindestens sechs Monate postoperativ
Abgleich mit psychophysischen, audiometrischen Messergebnissen
(Reintonaudiometrie)
HRQOL-Messinstrumente erweitern die Sichtweise und komplettieren die
Krankheitsbewertung eines Individuums durch die Verbindung von spezifischen
Beschwerden mit einer mess- und vergleichbaren Skalierung. Somit wird die
Lücke zwischen messbaren Funktionseinschränkungen und
subjektiv empfundener, krankheitsbedingter Beeinträchtigung
geschlossen [142 ].
3.5 Ergebnisqualität als Abwesenheit von Komplikationen (ein
Paradigmenwechsel)
Instinktiv liegt der Therapiebewertung die Verbesserung eines
eingeschränkten Gesundheitszustandes zugrunde. Auch die vorliegende
Arbeit hat sich bisher vorrangig mit Indikatoren unter dem Gesichtspunkt
beschäftigt, den Erfolg und die Qualität der Behandlung an deren
Verbesserung abzulesen und zu messen. Obgleich jeder erhobene Parameter auch
eine Verschlechterung unter der Therapie abzubilden in der Lage ist, wird a
priori eine Verbesserung als Ausdruck einer erfolgreichen Behandlung zu
recht antizipiert.
Eine grundlegend andere Betrachtungsweise, die einem Paradigmenwechsel in der
Bewertung gleichkommt, ist die Definition des Qualitätsbegriffs
über die Abwesenheit unerwünschter Nebenwirkungen bzw.
Komplikationen. Interessanterweise ist es die Furcht vor eintretenden
Komplikationen, die Patienten im Alltag einer Operation kritisch
gegenüberstehen lassen. Auch das ärztliche
Aufklärungsgespräch widmet sich in erheblichem Maß der
Erklärung und realistischen Abwägung der
Eintrittswahrscheinlichkeit von Komplikationen. Daher scheint der
Perspektivenwechsel nicht nur nachvollziehbar, sondern auch notwendig.
Es existieren ausführliche Arbeiten über Handlungsanweisungen zum
Vorgehen beim Auftreten von Komplikationen intra- wie auch unmittelbar
postoperativ [143 ]
[144 ]
[145 ]. Schick und Dlugaiczyk haben 2013 in
ihrem Referat „Fehler und Gefahren: Ohrchirurgie und Chirurgie der
lateralen Schädelbasis“ an gleicher Stelle eine umfassende
Arbeit zu den möglichen Komplikationen bei Ohrchirurgischen Eingriffen
abgefasst [144 ]. Diese und andere Arbeiten
haben maßgeblich zur Entwicklung eines offenen Umgangs mit
Komplikationen und Fehlern beigetragen. In diesem Zug sei auch auf die 2013
erstmals in das Programm des Jahreskongresses 2013 aufgenommene Rubrik
„Fehler und Gefahren“ bzw. „Lernen am Fall“
verwiesen.
In der Gesamtheit ist diese Entwicklung uneingeschränkt zu
begrüßen. Als Konsequenz aus dieser sich positiv entwickelnden
Fehlerkultur darf zusätzlich der Wunsch nach einer
routinemäßigen, standardisierten und prospektiven Erfassung von
Komplikationen geäußert werden. Denn alle in den
Übersichtsarbeiten zitierten Quellen stellen Erfahrungsberichte,
Einzelfallbeschreibungen oder retrospektive Analysen von Patientenpopulationen
dar. Diese können zur Identifikation möglicher Komplikationen
selbstverständlich herangezogen werden und können auch erste
Hinweise auf die Auftretenswahrscheinlichkeit bzw. -häufigkeit von
Komplikationen geben. In einem nächsten Schritt sind jedoch prospektive
Untersuchungen unerlässlich, die auf der Grundlage einer
standardisierten Erfassung aller durchgeführten Operationen und der
Identifikation von komplikationsbehafteten Verläufen möglichst
unverfälschte Ergebnisse liefern.
3.5.1 Zur Definition der Begrifflichkeiten „Fehler“ und
„Komplikation“
An dieser Stelle muss eine kurze Schärfung der Begrifflichkeiten
folgen, da im alltäglichen Sprachgebrauch der Verwendung der beiden
Begriffe „Komplikation“ und „Fehler“ oft
synonym und unkritisch erfolgt. Dem Wunsch, die Fachdiskussion mit einer
einheitlichen Nomenklatur zu unterstützen wurde durch die
Erarbeitung des „Glossars Patientensicherheit/Fehler in der
Medizin“ durch das „Ärztliche Zentrum für
Qualität in der Medizin“ Rechnung getragen. In diesem
Glossar – erarbeitet von Experten aus Deutschland, der Schweiz und
Österreich – wurden 2005 die im nationalen und
internationalen Sprachraum gebräuchlichen Begriffe aus dem Bereich
Patientensicherheit und Fehler in der Medizin zusammengeführt und
entsprechend erläutert [146 ].
Komplikation: Nicht geplanter und/oder unerwarteter Verlauf,
der die Heilung erschwert, beeinträchtigt oder vereitelt (auch
unerwünschtes Ereignis). Eine Komplikation kann auch auftreten als
schicksalhafter Krankheitsverlauf, etwa bei Verschlimmerung einer Erkrankung
oder als Folge einer diagnostischen oder therapeutischen
Maßnahme.
Fehler: Ein richtiges Vorhaben wird nicht wie geplant
durchgeführt, oder dem Geschehen liegt ein falscher Plan zugrunde.
Hier sind weitere Unterscheidungen zwischen Behandlungsfehlern,
Zwischenfällen und Versagen zu treffen.
Hier soll und kann jedoch weder ein juristischer noch ein semantischer Exkurs
folgen. Die prinzipielle Unterscheidung ist dennoch von Bedeutung, weil im
Folgenden eben ausschließlich auf die „nicht
geplanten“ und „unerwarteten“ Verläufe Bezug
genommen werden soll. In der angelsächsischen Literatur werden zum
Teil andere Begriffe und diese abweichend definiert, was wiederum zu
differenten Kategorisierungen und damit zwangsläufig zu
Unschärfe in der Diskussion führt. Die dortige Einteilung in
und Definition von Operationsfolgen (engl. sequelae), Behandlungsmisserfolg
(engl. failure to cure) und Komplikationen (engl. complications) sind daher
ebenso Gegenstand kontroverser Diskussionen [147 ]
[148 ], wie im deutschsprachigen Raum [144 ]
[145 ].
Das Augenmerk muss aber gerade auf jene Verläufe gerichtet werden,
bei denen der unerwünschte Verlauf unvorhersehbar eintritt.
Beispielsweise die Fazialisparese, ohne Bohrarbeit oder Manipulation in
topographischer Nähe zum Nerven, der Abfall der
Knochenleitungshörschwelle ohne Arbeit an der Ossikelkette oder die
Nachblutung trotz subtiler intraoperativer Blutstillung. Das technisch, wie
ethisch und moralisch einwandfreie Handeln ist in diesem Moment der
ärztlichen Tätigkeit immanent. Eben diese Verläufe
sollen im Folgenden unter dem Begriff der Komplikationen zusammengefasst und
betratet werden.
3.5.2 Spezifische Komplikationen nach Ohroperationen
Nicht alle möglichen, nach einer Mittelohroperation auftretenden
Komplikationen sind zur spezifischen Qualitätsbewertung geeignet.
Zweifelsohne lässt das gehäufte Auftreten von postoperativen
Tiefenbeinvenenthrombosen eine Aussage über die Qualität des
perioperativen Managements zu. Dennoch stehen sie nicht in einem direkten
Zusammenhang mit der spezifischen chirurgischen Maßnahme einer
Mittelohroperation. Anderseits sind Nachblutungen und Wundinfektionen nicht
Ohroperationsspezifisch aber als lokale, im zeitlichen und
ursächlichen Zusammenhang zur Operation auftretende
unerwünschte Verläufe geeignet, das spezifische
Behandlungsergebnis zu bewerten.
Ausgenommen von der Komplikationsbetrachtung sind zudem alle Rezidive, also
bspw. die erneute Perforation, die erneute Retraktion bzw. das
Cholesteatom-Rezidiv und dergleichen. Diese stellen eigene Parameter der
Qualitätsbewertung, eher im Sinne des genannten
Behandlungsmisserfolgs (engl. failure to cure) dar und sind an
entsprechender Stelle abgehandelt worden.
3.5.3 Retrospektive Komplikationsbetrachtung und prospektive
Komplikationserfassung
Die [Abb. 5 ] fasst wichtige Komplikationen
zusammen, die nach mittelohrchirurgischen Eingriffen auftreten
können. Eine feinere Untergliederung in frühe (<48
Stunden nach Operation) und im späteren Verlauf (>48 Stunden
nach Operation) auftretende Komplikationen ist zudem sinnvoll.
10-1055-a-1021-6427-i10216427-0001
Abb 5 Darstellung der definierten Major- und
Minor-Komplikationen
Wie bereits erwähnt, ist die prospektive Studienlage zu diesem Thema
nicht existent. Es konnten bisher keine publizierten Daten gefunden werden,
die mittels einer prospektiven, strukturierten Registrierung einer
Grundgesamtheit an Operationen und der darin zu verzeichnenden
Häufigkeitsverteilung von Komplikationen generiert wurden. Folglich
beziehen sich Häufigkeitsangaben und -verteilungen immer aus der
retrospektiven Analyse von Krankenakten. Linder und Lin fassen die
Problematik und Aussagekraft treffend zusammen: „Zudem
genügt es nicht, lediglich die (…) vordefinierten
Op.-Checklisten auszuwerten. Da kaum jemand die Zeit aufbringt, alle
Op.-Berichte sorgfältig zu lesen (und aus dem fremden Text auch noch
das Wichtigste zu erfassen), verkommen viele Langzeitstudien mit
großen Fallzahlen zu wenig aussagenden
Allgemeinplätzen“ [145 ].
Aufgrund dieser und weiterer Limitationen werden in der eigenen Abteilung
(HNO-Universitätsklinik Dresden) nunmehr alle Ohroperationen
routinemäßig registriert. Dabei erfolgt die Kennzeichnung
aller komplikationsbehafteten bzw. nicht erwünschten
Verläufe nach einem einheitlichen Schema der Parametererfassung. Die
Auswahl derselben war das Ergebnis einer ersten retrospektiven Analyse, bei
der die Komplikationen in Major- und Minor-Komplikationen eingeteilt wurden
([Abb. 5 ]). Dabei wurden 377
Mittelohroperationen über einen 12-Monats-Zeitraum ausgewertet und
hinsichtlich des Auftretens von Komplikationen in den ersten 6 Wochen nach
Operation untersucht. Weiterhin wurden in dieser Studie Risikofaktoren
erfasst und deren Korrelation mit dem Auftreten von Major- und
Minor-Komplikationen untersucht. Diese Risikofaktoren waren der
allgemeinchirurgischen Literatur entlehnt [149 ]. Hierbei konnte gezeigt werden, dass die aus der
Allgemeinchirurgie bekannten Risikofaktoren in der Ohrchirurgie eine
nachgeordnete Rolle spielen. Für die definierten
Major-Komplikationen konnte generell kein statistischer Nachweis von
Risikofaktoren identifiziert werden. Lediglich die arterielle Hypertonie
stellt ein Risiko für postoperative Knochenleitungsabfälle
dar (RR=2,2; p=0,041).
[Tab. 1 ] zeigt eine Zusammenfassung des
Auftretens, der Häufigkeit und dem Verlauf einzelner Komplikationen,
nach der erwähnten prospektiven Erfassung über einen
Zeitraum von neun Monaten (HNO-Universitätsklinikum Dresden). Die
Kombination mit der Verlaufsbeurteilung rückt die Daten der reinen
Eintrittshäufigkeit in ein differenziertes Licht. So mussten
beispielsweise 32/419 (11%) Patienten mit einem
Knochenleitungsabfall (definiert als Abfall in 3 Frequenzen>15dB,
bzw. 2 Frequenzen>20dB) in der unmittelbar postoperativen Phase
identifiziert werden, davon haben sich jedoch bis zum Zeitpunkt der Analyse
n=21/419 vollständig bzw. teilweise regredient
gezeigt. Bei n=11/419 (2,6%) blieb der KL-Abfall bis
zum Analysezeitpunkt unverändert bestehen. Eine Ertaubung war nicht
zu verzeichnen. Ähnlich verhält es sich mit der Affektion
des N. fazialis. Alle drei aufgetretenen Affektionen haben sich im selben
Beobachtungszeitraum von 9 Monaten vollständig oder bereits
teilweise zurückgebildet. Aufgrund der
Beobachtungsfortführung ist mit einer weiteren Regredienz der noch
teilweise vorhandenen Paresen zu rechnen.
prozentualer Anteil an allen Mittelohroperationen (n
= 419) 09/2018 bis 05/2019 (9
Monate) (Universitätsklinikum Dresden)
Vollständig regredient
Teilweise regredient
Nicht regredient
n=
%
n=
%
n=
%
n=
%
major
46
11%
24
5,7
10
2,4%
12
2,9%
Knochenleitungsabfall
32*
7,6%*
14
3,3%
7
1,7%
11
2,6%
Schwindel mit Reiz-/Ausfallnystagmen oder SPN
11
2,6%
9
2,1%
1
0,2%
1
0,2%
Fazialisparese
3
0,7%
1
0,2%
2
0,5%
0
minor
18
4,3%
17
4,1%
1
0,2%
0
Hämatom (retroaurikulär)
7
1,7%
7
1,7%
0
0
Tinnitus
6
1,4%
5
1,2%
1
0,2%
0
Nachblutung
1
0,2%
1
0,2%
0
0
Schmeckstörung
0
0
0
0
Schwindel ohne Nystagmen
4
1%
4
1%
0
0
später eingetretene Komplikationen (>48h
post OP, bzw. nach dem stationärem
Aufenthalt)
n=
%
n=
%
n=
%
n=
%
major
22
5,3%
13
3,1%
1
0,2%
8
1,9%
Knochenleitungsabfall
14*
3,3%*
7
1,7%
1
0,2%
6
1,4%
Tinnitus
4
1,0%
3
0,7%
0
1
0,2%
Fazialisparese
3
0,7%
3
0,7%
0
0
Surditas
1
0,2%
0
0
1
0,2%
minor
57
13,6%
51
12,2%
2
0,5%
3
0,7%
Stenose
25
5,9%
22
5,2%
0
3
0,7%
Wundinfektion ohne notwendige Revision
17
4,1%
15
3,6%
2
0,5%
0
Dehiszenz
5
1,2%
5
1,2%
0
0
Otorrhoe
7
1,7%
6
1,4%
0
0
Taubheitsgefühle (Ohrmuschel, Zunge)
1
0,2%
1
0,2%
0
0
Schwindel ohne Nystagmen
1
0,2%
1
0,2%
0
0
Wundinfektion oder -heilungsstörung mit
Notwendigkeit operative Revision
1
0,2%
1
0,2%
0
0
Gesamt
143
34%
105
25%
13
3,1%
22
5,3%
*Definition eines Knochenleitungsabfalles: 3
Frequenzen>15dB, bzw. 2 Frequenzen>20dB Abfall.
Die Aufteilung in Früh- (<48h post-OP) und
Spätkomplikationen (>48h post-OP) macht zudem deutlich, dass
ein Teil der insgesamt zu beobachtenden unerwünschten
Verläufe erst nach der Entlassung auftritt. Weitere
n=14/419 (3,3%) Knochenleitungsabfälle waren
zu beklagen, von denen wiederum n=8/419 vollständig,
bzw. teilweise regredient und n=6/419 (1,4%) bis zum
Ende des Analysezeitraums bestehen blieben. Somit sind von den 419
durchgeführten Mittelohroperationen in diesem Kollektiv insgesamt
n=46/419 (10,9%) postoperative
Knochenleitungsaffektionen aufgetreten, von denen sich 17/419
(4,0%) als persistent erwiesen. Auch unter allen registrierten
Fällen war keine Ertaubung zu verzeichnen.
Somit zeigt die routinemäßige, prospektive und strukturierte
Komplikationserfassung erfreulicherweise, dass Major-Komplikationen
insgesamt selten sind und sich der Großteil einmal beobachteter
unerwünschter Verläufe wieder zurückbildet. Im
Vergleich mit den wenigen publizierten retrospektiven Daten kann
festgestellt werden, dass ähnlich detaillierte Aufstellungen bisher
fehlen. [Tab. 2 ] zeigt, dass die
Parameterauswahl im Vergleich gering ausfällt. Hinsichtlich der
Knochenleitungsabfälle werden von Kazikdas et al.
n=18/51 (35%) beschrieben [150 ]. Von Phillips et al. werden
retrospektive Daten zu Fazialisparesen, vestibulären Affektionen und
Tinnitus, sowie Wundheilungs- und Schmeckstörungen geliefert. Die
hier zu beobachtenden Differenzen sind am ehesten durch das retrospektive
Studiendesign zu erklären. Die hierbei bekannten Limitationen kommen
auch in den eigenen Auswertungen voll zum Tragen und unterstreichen die
Notwendigkeit einer dauerhaften, in die klinische Routine implementierten
Registrierung und Erfassung von unerwünschten Verläufen. Nur
so können valide Qualitätsbewertungen erfolgen, die im
besten Fall als sich selbst generierende Kenngrößen
innerhalb einer Abteilung zu jedem beliebigen Zeitpunkt heranziehen
lassen.
Major Komplikationen
n
Knochenleitungsabfall
Fazialisparese
Vestibuläre Reizung (mit
Reiz-/Ausfallnystagmen)
Tinnitus (mit Knochenleitungs- affektion)
Wundheilungs- störung (mit operativer
Revision)
Liquorrhoe
intrakranielle Komplikationen
Hörverlust
Gesamt
retrospektiv
Lailach et al. 2019 [148 ]
377
29 (7,5%)
14 (3,7%)
9 (0,3%)
0
1 (0,3%)
1 (0,3%)
0
0
54 (14,3%)
Kazikdas et al. 2015 [149 ]
51
18 (35%)
-
-
-
-
-
-
-
18 (35%)
Özgür et al. 2015 [185 ]
53
-
1 (1,9%)
-
-
-
-
-
-
1 (1,9%)
Salvinelli et al. 2004 [186 ]
580
-
7 (1,2%)
-
-
-
-
-
-
7 (1,2%)
Safdar et al. 2006 [187 ]
219
-
1 (0,9%)
-
-
-
-
-
-
1 (0,9%)
Kuo & Wu 2017 [188 ]
131
-
0
-
-
7 (5,3%)
-
-
-
7 (5,3%)
Zhou et al. 2015 [189 ]
1420
-
16 (1,1%)*
-
-
-
-
-
-
16 (1,1%)
Jolink et al. 2018 [190 ]
61
-
1 (1,6%)
-
-
-
-
-
-
1 (1,6%)
Fiedler et al. 2013 [191 ]
1037
-
55 (5,3%)
116 (11,1%)
31 (3%)
26 (2,5%)
-
1 (0,1%)
81 (7,8%)#
282 (27,2%)
prospektiv
Komplikationsregister Universitätsklinikum
Dresden
419
43 (10,3%)
7 (1,7%)
12 (2,9%)
0
1 (0,2%)
0
0
0
63 (15%)
James 2017 [192 ]
267
-
-
-
-
3 (1,1%)
-
-
-
3 (1,1%)
Yiannakis et al. 2018 [193 ]
103
-
1 (1,0%)
-
-
-
-
-
1 (1,0%)
2 (1,9%)
Phillips et al. 2015 [194 ]
495
-
0,0%
0,4%
0,6%
-
-
-
-
1%
Berglund et al. 2019 [195 ]
3775
-
-
-
-
-
-
-
-
-
Meta-Analyse
Bae et al. 2019 [196 ]
17461
-
111 (0,6%)
-
-
-
-
-
-
111 (0,5%)
Minor Komplikationen
n
Schwindel (ohne Nystagmus)
Wundheilungsstörung (ohne Revisionsop.)
Tinnitus (ohne Knochenleitungsaffektion)
Gehörgangsstenose
Wunddehiszenz
Schmeckstörung
Otorrhoe
Gesamt
retrospektiv
Lailach et al. 2019 [148 ]
377
-
-
-
-
-
-
-
110 (29%)
Kazikdas et al. 2015 [149 ]
51
-
-
-
-
-
-
-
-
Özgür et al. 2015 [185 ]
53
-
-
-
1 (1,9%)
-
1 (1,9%)
-
2 (3,8%)
Salvinelli et al. 2004 [186 ]
580
-
-
-
-
-
-
-
-
Safdar et al. 2006 [187 ]
219
-
-
-
-
-
-
-
-
Kuo & Wu 2017 [188 ]
131
-
7 (5,3%)
-
-
3 (2,3%)
0
-
10 (14,5%)
Zhou et al. 2015 [189 ]
1420
-
-
-
-
-
-
-
-
Jolink et al. 2018 [190 ]
61
1 (1,6%)
3 (4,9%)
-
-
-
2 (3,3%)
-
6 (9,8%)
Fiedler et al. 2013 [191 ]
1037
-
-
-
-
-
-
-
-
prospektiv
Komplikationsregister Universitätsklinikum
Dresden
419
5 (1,2%)
16 (4,1%)
10 (2,4%)
25 (6,0%)
5 (1,2%)
1 (0,2%)
7 (1,7%)
70 (16,7%)
James et al. 2017 [192 ]
267
-
2 (0,75%)
-
-
-
-
-
2 (0,75%)
Yiannakis et al. 2017 [193 ]
103
4 (3,9%)
7 (6,8%)
1 (1%)
-
-
1 (1%)
-
13 (12,6%)
Phillips et al. 2015 [194 ]
495
-
1,4%
-
-
-
1,2%
-
2,6%
Berglund et al. 2019 [195 ]
3775
-
-
44 (1,2%)
-
-
10 (0,5%)
-
54 (1,4%)
Meta-Analyse
Bae et al. 2019 [196 ]
17461
-
-
-
-
-
-
-
-
*nur späte Paresen (7.4 ± 1.8 Tage
postop.)
# sensorineuraler Hörverlust
– Parameter nicht erhoben
Neben der bereits eingangs erwähnten sich weiter entwickelnden
Fehlerkultur können abteilungs- und klinik-interne prospektive
Erfassungen von Komplikationen daher enorm zu einer direkten Steigerung der
Dokumentationsqualität und indirekt zu einer Verbesserung der
Behandlungsqualität beitragen.
4. Prozess- und Strukturqualität
In dieser Kategorie können die Bereithaltung und Nutzung von Berichts- und
Dokumentationssystemen zusammengefasst werden.
4.1 Dokumentationsqualität
Berichts- und Dokumentationsqualität sind essentielle Eckpfeiler in der
klinischen Versorgung und der wissenschaftlichen Bewertung von klinischen
Ergebnissen. Daher entscheidet die Güte, mit der Indikatoren der
Ergebnisqualität beschrieben werden, direkt über die
Belastbarkeit von formulierten Aussagen. Da in der klinischen Forschung eine
Vielzahl von Faktoren das Ergebnis beeinflussen, kommt der Beschreibung der
Ausgangs- und Beurteilungsbedingungen eine enorme Rolle zu. Alle im Vorfeld
beschriebenen Qualitätsindikatoren der Mittelohrchirurgie sind in
höchstem Maß von der Güte ihrer Erfassung, Beschreibung
und Auswertung, sowie ihrer Interpretation abhängig.
4.1.1 Unterschiede in Krankenversorgung und Forschung
Für den einzelnen Patienten mögen nicht standardisierte Mess-
und Dokumentationsbedingungen weniger ins Gewicht fallen, wenn systematische
Einflussfaktoren konstant gehalten und „nur“ individuelle
Verläufe, longitudinal betrachtet werden. Aber bereits der Wunsch
eine eigene, überschaubare Patientenkohorte zu bewerten setzt eine
detaillierte und damit standardisierte Charakterisierung voraus, um Aussagen
über das Individuum hinweg treffen zu können. Für
klinische Studien mit dem Anspruch Evidenz zu generieren müssen die
beeinflussenden Hauptfaktoren klar definiert werden.
Für die rekonstruktive Mittelohrchirurgie lassen sich folgende
Minimalkriterien zur Dokumentation festgehalten:
Studienpopulation (Art und Ausmaß der behandelten
Pathologie)
Intervention (Art und Umfang der Behandlung/Operation)
Ergebnisbeurteilung (Art, Umfang und Zeitpunkte der Erhebung)
Kurz gesagt, gelten hier die Grundsätze guten wissenschaftlichen
Arbeitens, nach denen beschrieben wird „was“,
„wie“ und „wann“ gemacht wird. Auch wenn die
Medizin immer wieder allgemeinhin als „nicht exakte“
Wissenschaft bezeichnet wird, sollte diese Aussage auf der
Berücksichtigung weit streuender individueller Abweichungen im
biologischen System „Mensch“ beruhen, aber nicht auf einer
Nachlässigkeit in der Erhebung und im Umgang mit Quelldaten und
Messergebnissen. Die Anwendung grundlegender naturwissenschaftlicher
Kenntnisse bei der Ergebnisbeschreibung darf nach Abschluss eines
Hochschulstudiums unausgesprochen vorausgesetzt werden. Daher mag auf den
ersten Blick die alltägliche Routinedokumentation in der
Krankenversorgung von den Ansprüchen wissenschaftlichen Arbeitens
abweichen, aber eben nur auf den ersten Blick. Auch hier müssen die
o.g. Aspekte aus medikolegalen Gründen umgesetzt werden, in der
Regel jedoch nicht immer so umfassend und strukturiert, wie es für
eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Ergebnisse nötig ist. Dies
führt einerseits zu den bekannten Problemen retrospektiver Studien,
bei denen im Nachgang nur noch mit den einst dokumentierten Daten gearbeitet
werden kann. Alle in den Quelldokumenten nicht beschriebenen Aspekte
müssen unberücksichtigt bleiben. Anderseits wurden allerorts
zahlreiche Listen mit Symptomen, Befunden und Prozeduren entworfen. Aufgrund
der Uneinheitlichkeit in Nomenklatur, Umfang und Interpretation sind diese
nur bedingt oder gar nicht miteinander vergleichbar.
Dies hat bereits sehr früh dazu geführt, Klassifikations- und
Bewertungssysteme zu etablieren. In der rekonstruktiven Mittelohrchirurgie
existiert seit 1956 die Klassifikation nach Wullstein [151 ], die neben der Beschreibung der
Rekonstruktionsarten des Mittelohres auch das davon abhängig
beobachtete Hörergebnis beinhaltete. Auch Bellucci beschrieb 1969
ein duales Bewertungssystem, welches das Risiko für eine
erfolgreiche Tympanoplastik an dem Vorhandensein, bzw. der Neigung zu
Mittelohrinfektionen misst [152 ].
Zahlreiche weitere sollten folgen.
Der Übergang von der Dokumentation in der klinischen Routine der
Patientenversorgung und der Auswertung der Ergebnisse zu wissenschaftlichen
Zwecken sind fließend. Allgemein verfolgen sie aber immer die drei
Ziele: (1) die Beurteilung einer Operationsmethode oder einer
Rekonstruktiontechnik (bzw. einer Prothese), (2) die Vergleichbarkeit der
Ergebnisse mit anderen Fallserien und Studien und sie dient (3) dem Zweck
der Erfolgsprognose (für Patient und Arzt) [117 ]
[122 ].
4.1.2 Beschreibungs- und Dokumentationsstandards
Die Klassifikationen nach Wullstein und Bellucci wurden bereits
erwähnt. In den Folgejahren kamen zahlreiche weitere hinzu mit
unterschiedlicher Durchdringungskraft und Präsenz in der
ohrchirurgischen Literatur. Die bekannteren sind die
„SPITE-Kriterien“ von Black [153 ], die Austin Klassifikation, meist in der Modifikation nach
Kartush [154 ], aus der sich der
„Middle Ear Risk Index“, MER-Index, kurz MERI ableitet [155 ]
[156 ]. Als einziger statistisch
begründeter Index ist der OOPS-Index (engl. Ossiculoplasty Outcome
Parameter Staging Index) zu nennen [157 ].
Aber auch für spezielle Aspekte der Trommelfellrekonstruktion mit
Knorpel [158 ] und die endoskopische
Ohr-Chirurgie [159 ] stehen
Klassifikationssysteme zur Verfügung.
Den existierenden Klassifikationen für das Cholesteatom wurde
unlängst eine Übersichtsarbeit gewidmet [160 ] auf die hier inhaltlich im Einzelnen
nicht eingegangen werden soll. Die aktuelle Europäische
Klassifikation der „European Acadamy of Otology and
Neurotology“ zusammen mit der Japanischen Otologischen Gesellschaft
(EAONO/JOS) stammt aus dem Jahr 2017 [161 ]. Sie umfasst die Definition, die Klassifikation und das
Staging (Bewertung) des Cholesteatoms. Erarbeitung und Beschluss erfolgten
vor, während und nach der 10. Internationalen „Cholesteatom
und Mittelohr-Chirurgie“ Konferenz im Jahr 2016 (Chole2016).
Abschließend wurde die Definition von 89%, die
Klassifikation von 98% und das Staging von 75% der
internationalen Delegierten angenommen. Die Bildung einer internationalen
„Otology Outcome Group“ (IOOG) wurde zur Erarbeitung eines
allgemeinen, minimalen Berichtsstandards für die Verwendung der
internationalen otologischen Gemeinschaft in Aussicht gestellt.
Die jüngste Publikation, stellt die von der eben genannten IOOG, zur
Kategorisierung der Tympanomastoid-Chirurgie dar [109 ]. In einem ähnlichen Verfahren
wurde darin ein Konsens zur Beschreibung der Mittelohrchirurgie erarbeitet.
Die Abkürzung SAMEO-ATO steht darin für die
Bewertungskategorien. Ein großer Vorteil könnte die
simultane Illustration der definierten Merkmalsausprägungen sein, da
hierdurch der Interpretationsspielraum deutlich eingeschränkt wird.
Auch dieser Konsens wurde von einer Gruppe internationaler Delegierter
abschließend mit einer deutlichen Mehrheit verabschiedet
(95% (20/21) bis 100% (21/21) je nach
Merkmal).
Diese beiden im Delphi-Verfahren gestalteten, sehr aufwendigen Prozesse
zeigen gut, wie komplex und schwer die Konsensfindung im internationalen
Kontext ist. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob sich die
propagierten Konsense durchsetzen. Angesichts der großen Zahl
existierender, vorgeschlagener und beschriebener Systeme, scheint die
Einigung auf einen internationalen Standard eine nahezu wohltuende
Erleichterung in Aussicht zu stellen. Der Erfolg des Projekts liegt dabei
aber in der Hand der internationalen otologischen Gemeinschaft selbst, da
nur sie die vereinbarten Konsense konsequent anwenden und ihnen damit zum
Erfolg verhelfen kann. In der logischen Konsequenz bedeutet die Anerkennung
der neuen Klassifikationen und Kategorisierungen entweder die
zusätzliche oder alleinige Codierung der Prozeduren,
unabhängig von eventuell bereits lokal etablierten
Dokumentationsschemata. Gerade hier kann auf Arbeitsebene Widerstand
antizipiert werden, da unter Umständen arbeitsintensive oder
technisch nicht realisierbare „Umcodierungen“ von einer
Klassifikation in die neue stattfinden müssten. Darüber
hinaus sind neben den technischen Herausforderungen auch persönliche
Befindlichkeiten zu befürchten, wenn eine internationale
„Otology Outcome Group“ bzw. ein Lenkungsausschuss derselben
einen Konsens propagiert, in dessen Entstehungsprozess nie jeder
gehört und nie alle Meinungen berücksichtigt werden
können. Daher sind die Verabschiedungen der beiden Konsense auch ein
Appell an die internationale otologische Gemeinschaft persönliche
Sichtweisen hinten an und in den Dienst der Sache zu stellen.
4.1.3 Anwendung von Klassifikations-Systemen und
Berichtsstandards
Übertragen auf den scheinbar kleinen Teilaspekt des
Ergebnisberichtsstandards bei Operationen zur Therapie der
Schalleitungsschwerhörigkeit, können die Empfehlungen der
amerikanischen Fachgesellschaft AAO-HNS aus dem Jahr 1995 als
Minimalkriterienkatalog angesehen werden [123 ]. Ähnlich wie die beiden o.g. Kategorisierungssysteme
zum Cholesteaom und der Tympanomastoid-Chirurgie wurde hier der Versuch
unternommen, einen Standard für die Outcome-Beschreibung
festzulegen. Im Gegensatz zu den beiden Konsensprozessen stellte dieser
einen Vorschlag der AAO-HNS dar.
Akzeptanz und Durchdringung der Empfehlungen legte eine kritische Analyse der
Literatur im Zeitraum von 2005 bis 2015 dar, die zum Thema
„Hörergebnisse nach Mittelohroperationen“
durchgeführt wurde [162 ]. Diese
zeigte, dass bereits bei der Beschreibung der methodologischen
Rahmenbedingungen der Studien grundlegende Mängel bestehen. Die
Anwendung mathematischer und Test-statistischer Grundlagen bei der Angabe
von Hörergebnissen und ihrer Veränderungen in Form von
Mittelwerten mit Standardabweichungen darf in einer wissenschaftlichen
Disziplin eigentlich vorausgesetzt werden. Dennoch waren in der Untersuchung
von 169 Publikationen (allesamt in begutachteten,
„peer-review“ Zeitschriften) der postoperative ABG nur in
56% in dieser Form angegeben. Weiterhin fehlten in 17%
Aussagen zu den angewendeten statistischen Methoden. Die von der AAO-HNS
empfohlenen Prüffrequenzen wurden in weniger als der Hälfte
(46%) angewendet und Angaben hierüber fehlten in 15%
vollständig. Streng genommen können aus den Ergebnissen
dieser Studien aufgrund dieser Mängel keine Aussagen abgeleitet
werden. Betrachtet man weiter die Anwendung der 10 Kriterien des AAO-HNS
1995 Standards, so wurden diese in keiner Publikation vollständig
korrekt angewendet und in 5% (9/169) überhaupt
nicht. Eine Korrelation korrekt angewendeter Kriterien mit dem impact
factor der Fachzeitschrift bestand nicht (r=0,008;
p=0,3).
Eine weitere Untersuchung zur Anwendung und Beschreibung der
Sprachaudiometrie in Studien zu hörverbessernden
Mittelohroperationen, implantierbaren Hörsystemen und Therapie von
Kleinhirnbrückenwinkel-Tumoren (zwischen 2012 und 2016)
bestätigt die Grundzüge des vorliegenden Problems
(Morgenstern und Lailach et al., 2019 in review): in 20%
(56/279) fehlten Angaben zu statischen Testverfahren, in 11%
(32/279) bzw. in 13% (12/279) Aussagen über
die Prospektivität bzw. das Studiendesign. Insbesondere die Angabe
des messtechnisch so sensiblen Parameters der
„Sprachverständlichkeit“ war alarmierend
lückenhaft. Zwar verwendeten 90% (252/279) der
Studien diesen Parameter, aber in 60% (167/279) fehlten
Angaben über den Darbietungsschalldruck und die Messbedingungen, was
die Aussagen nahezu vollkommen entkräftet. Des Weiteren ist hier
exemplarisch der interessante Effekt einer „fortgesetzten
Unschärfe“ zu beobachten. In 45% der Studien zur
Behandlung des Vestibularisschwannoms bezog man sich bei der Beschreibung
der audiometrischen Funktionstestung auf eine Publikation von Gardner und
Robertson aus dem Jahr 1988 [163 ].
Allerdings wird in der zitierten Originalarbeit gar kein audiologisches
Messverfahren beschrieben, sondern eine Klassifikation mit den Kategorien
„alltagstaugliches und nicht-alltagstaugliches
Gehör“. Die Autoren empfehlen die Anwendung ihrer
Klassifikation als zusätzliches Mittel neben entsprechenden
audiologischen Testverfahren. Neue Berichtsstandards können erst mit
einer gewissen zeitlichen Verzögerung in der Literatur
berücksichtigt und umgesetzt werden [164 ]. Zusammenfassend muss man an dieser Stelle festhalten, dass
es nicht am Fehlen von Berichts- und Dokumentationsstandards fehlt, sondern
diese nicht oder nur teilweise angewendet werden.
Interessant ist an dieser Stelle die Frage nach den Gründen und
Konsequenzen aus den Erkenntnissen. Ursächlich können die
Praktikabilität und/oder die Güte eines
Berichtsstandards selbst sein. Einige Autoren mögen einen Standard
in Teilen kritisch betrachten oder gar inhaltlich komplett ablehnen. Dies
erklärt jedoch nicht die Mängel bei der Anwendung des
methodischen „Handwerkszeugs“. Daher muss hier auch die
unangenehme Frage nach der Sinnhaftigkeit und dem Nutzen des peer
review-Verfahrens gestellt werden. Es zeigt sich nämlich nicht nur,
dass autoren-seitig gründlicher gearbeitet werden muss, sondern
auch, dass das Begutachtungsverfahren teilweise nicht vollumfänglich
greift [162 ].
4.2 Erfassungs- und Dokumentationssysteme
Historisch gewachsen stellt die Mitteohrchirurgie keinen Sonderfall dar, wenn es
um die wissenschaftliche Begründung für spezifische Therapie-
oder Operationsstrategien geht. Die Entscheidungsgrundlage ist oftmals empirisch
und gegründet auf die klinischen Beobachtungen und Erfahrungen, die seit
den Anfängen der Mittelohrchirurgie bis heute gesammelt wurden [165 ]
[166 ]. Diesem Umstand wäre durch
prospektive, kontrollierte und randomisierte Studien zu begegnen, die an den
Grundsätzen guter wissenschaftlicher und klinischer Praxis
durchgeführt werden und eine repräsentative Anzahl an Patienten
aufweisen. Gründe dafür, dass dies auch in den letzten Jahren
schwer zu realisieren war, sind vielfältig:
Bewertungs- und Klassifikationssysteme: Die existierenden
Bewertungs- und Klassifikationssysteme, bzw. publizierte
Berichtsstandards [165 ]
[167 ]
[168 ]
[169 ] werden nur teilweise oder gar
nicht verwendet [133 ]
[170 ]. Da retrospektiv im Freitext
gehaltene Anamnesen und Operationsberichte nicht valide in
standardisierte Bewertungsinstrumente überführt werden
können, ist die Beschreibung einer homogenen Studienpopulation
schwer bis nicht möglich. Dies führt unweigerlich dazu,
dass auf diese Weise generierte Aussagen den Charakter von individuellen
Ergebnisberichten haben.
Nomenklatur: ist sehr unterschiedlich und bietet daher viel Raum für
Interpretationen, die einer eindeutigen Befund- und
Vorgehensbeschreibung entgegenwirken.
Vielzahl an Einflussfaktoren: Die individuelle
Mittelohrpathologie wird von einer Vielzahl zusätzlicher
Faktoren beeinflusst, so dass die statistisch zu fordernde Kontrolle
einzelner oder mehrerer Faktoren in Patientenpopulationen nahezu
unmöglich ist. Eine durchaus respektable Anzahl von Patienten
kann somit schnell auf eine einstellige Populationsgröße
schrumpfen, was statistische Auswertungen unmöglich macht.
Einflussfaktor Operateur: Zusätzlich zur individuellen
Pathologie, bestehen große Unterschiede in Operationsstrategie
und Expertise zwischen verschiedenen Standorten. Dies wird durch die
Anzahl der beteiligten Operateure einer Abteilung multipliziert. Dadurch
sind bereits innerhalb einer Abteilung vergleichende Ergebnisbewertungen
bei mehreren Operateuren bereits erschwert.
Retrospektives Studiendesign: Das retrospektive Design der
überwiegenden Studien bedingt eine Beeinträchtigung der
Datenqualität (u. a. durch die vorgenannten Punkte) und
stellt ein großes Risiko für design-bedingten Bias
dar.
Zusätzlicher Dokumentationsaufwand: In den wenigsten
Zentren werden in der Routine die wichtigsten Einflussfaktoren und
Prädiktoren für das Behandlungsergebnis systematisch
erfasst. Die Pflege von Datensätzen zur statistischen Auswertung
für wissenschaftliche Untersuchungen stellt eine immense
Zusatzbelastung für den ohnehin mit Dokumentation
überfrachteten Klinikalltag dar.
Datenbanksysteme: Der „Würzburger
Ohrbogen“ [171 ] wurde in den
Neunzigerjahren entwickelt und stellt sicher eines der ersten,
brauchbaren computergestützten Instrumente zur standardisierten
Erfassung von Ohroperationen dar. Auch zuvor wurden in Deutschland
bereits standardisiert Daten zu Ohroperationen gesammelt und erfasst
[172 ]
[173 ]. Damals
zeitgemäß mit Lochkartensystemen und den
Möglichkeiten der computerisierten Informationstechnologie [174 ]. Mit dem
„Würzburger Ohrbogen“ wurden seinerzeit
über 10 000 Ohroperationen größtenteils
inklusive Audiogramme und Nachsorgeuntersuchungen in einem MS DOS
basierten Datenbanksystem eines einzigen Standorts erfasst. Zur Zeit
seiner Entstehung war dies eine richtungsweisende Entwicklung, die
leider durch die fortschreitende Computertechnologie
„überholt“ wurde. Eine Anpassung an
zeitgemäße Betriebssysteme blieb aus, was die
Limitationen hauseigener, nicht-kommerzieller Lösungen
verdeutlicht.
Mittlerweile existieren frei zugängliche Datenbanksysteme, die
internet-basiert die Eingabe und Auswertung von Daten erlauben. Auch die
standortübergreifende Auswertung von Ergebnissen ist somit
möglich, was die wichtigste Funktion im Sinne der
Evidenzorientierung darstellt. Leider werden diese Datenbanken zu wenig
genutzt [175 ]. Neben dem o.g.
zusätzlichen Zeitaufwand bestehen oft Ressentiments zur
„Ab-“ oder „Weitergabe“ von
persönlichen Datensätzen. Dies mag in einer
befürchteten Rückverfolgbarkeit, einer generellen Angst
des Missbrauchs von anonymisierten Patientendaten an Dritte oder anderen
Gründen liegen.
Die genannten Punkte verdeutlichen die Schwierigkeiten, denen der
Qualitätsanspruch bei der Generierung wissenschaftlich fundierter
Ergebnisbewertungen entgegensteht. Andererseits kann diesem Problem nur durch
eine routinemäßige, systematische, und prospektive Erfassung
bzw. Sammlung von Erkrankungs- und Therapiedaten begegnet werden. Somit
kristallisiert sich im Kern die Verfügbarkeit und die Nutzung von
Datenbanksystemen heraus und daher Überlegungen des Datenschutzes und
des Bedien-, Zeit- und Kostenaufwandes. Ein Mehr an Qualität ist
gleichzusetzen mit einem Mehraufwand an Dokumentation, der in die Routine fest
implementiert werden muss. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass
dieser Mehraufwand im Refinanzierungskonzept unseres Gesundheitssystems bisher
nicht eingepreist ist. Nichtsdestotrotz kann auch zukünftig nur so ein
höheres Maß an Evidenz generiert werden.
Diesen Zielen folgend sind bereits verschiedene standortübergreifende
Datenbanksysteme entwickelt worden, die unterschiedlich weite Verbreitung
gefunden haben. Einige davon sollen vorgestellt werden.
4.2.1 Common Otology Audit Database
Im Jahr 2004 gegründet und 2005 als „International Otologic
Database“ publiziert [176 ], stellt
dieses Datenbank die erste internationale, Länder- und
Standortübergreifende Datenbank für Mittelohrchirurgische
Eingriffe dar. In der Pilotphase haben drei der Autoren jeweils 50
Datensätze für Otosklerose-Operationen eingepflegt. Aufgrund
dieser Erfahrung wurde die Dateneingabe als benutzerfreundlich und schnell
(ca. 2 Minuten/Datensatz) bewertet und laut der Autoren stimmten
alle bisherigen Nutzer dieser Aussage zu [176 ]. Die Datenabfrage gliedert sich in 2 Kategorien. Die
Basisdatenbank-Eingabe erfasst nur einige Kriterien und wertet folglich
eingeschränkte Ergebnisparameter aus. Demgegenüber erlaubt
die Eingabe über Kategorie 2 eine umfassende Analyse anhand
ausgedehnter Parameterabfragen. Diese umfasst sowohl präoperative,
anamnestische Angaben zur Pathologie und zu den Symptomen, intraoperative
Befunde und durchgeführte Maßnahmen und erlaubt
postoperative Nachbeobachtungen zu festen Zeitpunkten. Zudem können
prä- und postoperative Reintonaudiogrammwerte der Luft- und
Knochenleitungshörschwellen eingetragen werden, sodass automatisch
der ABG berechnet wird. Die Zuordnung erfolgt bezogen auf den anonymisierten
Patienten über eine Eingabeidentifikationsnummer sowie auf den
Chirurgen. Das System bietet jedem beitragenden Ohrchirurgen die
Möglichkeit, seine Ergebnisse aufgeschlüsselt nach den
Kategorien Stapeschirurgie, Myringoplastik, Ossikuloplastik und
Cholesteatomoperation (Kinder und Erwachsene) zu beziehen und diese
abgeglichen auf die Gesamtheit aller Einträge dargestellt zu
bekommen (benchmark database). Exportierbar in gängige
Tabellenkalkulations- und Statistikprogramme sind sie der wissenschaftlichen
Bearbeitung zugänglich.
Zum Zeitpunkt der Publikation hatten sich 27 Otologen aus 12 Ländern,
die „European Otology Database Project Group“, auf den
standardisierten Datensatz zur Abfrage geeinigt, darunter auch deutsche
Vertreter.
4.2.2 Standardized Korean Ear Surgery Database
Im Jahr 2001 hat die „Korean Otologic Society“ eine
standardisierte Datenbank für Mittelohrchirurgische Eingriffe
erstellt [177 ]. Dieses nationale Projekt
beinhaltete die Standardisierung einer mittelohrchirurgischen Nomenklatur
und Empfehlungen für die postoperative Ergebnisberichtsdarstellung.
Bei der Konsensfindung waren 9 Ohrchirurgen von 7 Universitäten
beteiligt. Dabei wurden nicht nur Standards für die
Ergebnisbewertung festgelegt, sondern zudem eine einheitliche Nomenklatur
definiert. Hierzu erfolgte die Orientierung an internationalen
Vergleichsarbeiten, bspw. aus Japan [178 ],
Europa [176 ], aber auch anderen
Klassifikationen [166 ]
[179 ]
[180 ]. Wie auch bei den anderen
Dokumentationssystemen wird hier die Herausforderung in der Datenbankpflege
gesehen. Aufgrund der in Koreanisch gehaltenen Dokumentationslisten ist die
Anwendung dieses Systems in internationalen Kontext limitiert.
Im Jahr 2012 wurde mithilfe der Datenbank eine Serie von 2312 Operationen
eines einzelnen Chirurgen zwischen 1989 und 2009 zur Therapie der
chronischen otitis media ausgewertet [181 ]. Da die Datenbank erst 2005 entwickelt wurde, sind die Daten
nachträglich eingepflegt worden, was alle Einschränkungen
der retrospektiven Datenüberführung mit sich bringt. Dennoch
zeigt dieses Beispiel eindrücklich, welche Möglichkeiten die
Verwendung von Datenbanksystemen bieten können. Im Ergebnis fanden
die Autoren, dass die Funktion der Tuba auditiva, das Vorliegen eines
Cholesteatoms und das Ausmaß der Ossikelzerstörung
(hauptsächlich die des Stapes) das postoperative Ergebnis
beeinflussen.
4.2.3 Oto-Database
Eine Gruppe niederländischer Autoren aus Rotterdam beschrieb 2002
eine hauseigene Datenbank, die zur internen Aufzeichnung und Auswertung von
Ohroperationen verwendet wird [182 ]. Neben
der detaillierten Beschreibung der Dokumentationslisten setzen sie sich
intensiv und kritisch mit Nutzen und Aufwand der elektronischen
Datenaufzeichnung auseinander. Im Durchschnitt war eine 2- bis
3-minütige Dokumentationszeit für die Eingabe der
Operationsdaten nötig. Von den 1.009 Datensätzen zum
Zeitpunkt der Publikation, war der OP-Berichtsbogen in 89%
ausgefüllt. Diese Rate fiel für die ambulanten Folgevisiten
drastisch auf 2% ab. Die Autoren heben insbesondere auf den Wert der
Ergebnisbewertung für das individuelle Feedback an den Operateur und
für die Abteilung ab. Es werden ausführlich strukturelle
Daten diskutiert und bewertet. Weitere Veröffentlichungen unter
Verwendung dieses Datenbanksystems konnten nicht gefunden werden.
4.2.4 Otology-Neurotology Database
Die Otology-Neurotology Database (ONDB) [183 ] wurde 2006 von Vincent R. und Kollegen als kommerziell zu
erwerbendes Software-Paket vorgestellt, welches an der eigenen Klinik
entwickelt wurde. Der Berichtsformat-Standard der AAO-HNS 1995 wurde
hinterlegt und ein internationales wissenschaftliches Komitee zur
Weiterentwicklung und Beratung gegründet. Die Anwendung sah zum
Zeitpunkt der Vorstellung ausschließlich die Registrierung von
otologischen Patienten und Befunden vor, sollte aber nicht nur auf
neurootologische Erkrankungen und den gesamten HNO-Bereich ausgedehnt
werden. Die Software sah bereits eine multizentrische Nutzung mit
Daten-Pooling innerhalb einer Institution und deren Grenzen hinweg vor. Mit
der Inauguration des Datenbanksystems wurde in gleicher Publikation die
stattliche Zahl von 3050 Stapesoperationen im Zeitraum von 1991 bis 2004
ausgewertet.
4.2.5 OtoKir Database
Die OtoKir Datenbank wurde in Kopenhagen, Dänemark entwickelt [8 ]. Vergleichbar mit dem
„Würzburger Ohrbogen“ handelt es sich um eine
hauseigene Datenbank, mit der die Erfassung von Eingriffen und
ergebnisspezifischen Einflussfaktoren möglich ist. Eine
automatisierte Schnittstelle erlaubt den Import von Audiogrammdaten, wenn
diese in elektronischer Form vorliegen. Die Autoren betonen eine hohe
Nutzerfreundlichkeit, obgleich diese bei der kritischen Betrachtung
Einschränkungen erfährt. Die Registrierung läuft in
weiten Teilen parallel zum Krankenhausinformationssystem (KIS), die
Operateure müssen die zusätzliche, teilweise doppelte
Dokumentationsarbeit leisten und der Import von externen Quelldaten, bspw.
Audiogrammen muss über Schnittstellen bewerkstelligt werden. Sehr
positiv hervorzuheben ist, dass die Datenbank von der Dänischen
Vereinigung der Ohrchirurgen landesweit eingesetzt und weiterentwickelt
werden soll [8 ]. Zudem ist sie frei
zugänglich auf Ebene des Microsoft Betriebssystems
installierbar.
4.2.6 Swedish National Quality Registry for Myringoplasty
Das schwedische Myringoplastik Register wurde 1997 eingeführt [184 ]. Es handelt sich nicht um ein
Datenbank-System im eigentlichen Sinn, da sich aber im Verlauf alle 33
schwedischen HNO-Kliniken beteiligt haben, soll es exemplarisch als
nationale Qualitätsinitiative vorgestellt werden. In welcher Form
die Datenerhebung erfolgte ist nicht explizit erwähnt. Nach der
Etablierungsphase wurden zwischen 2002 und 2012 insgesamt 6334 Prozeduren
registriert. Neben anamnestischen Daten wurden audiologische Daten
(Reintonaudiogramm) und Informationen zur Operationstechnik aufgenommen. Die
Menge an registrierten Daten wurde bewusst geringgehalten, um eine hohe
Compliance bei der Dateneingabe zu erzielen, die an insgesamt 4 Zeitpunkten
(1 präoperativ, 3 postoperativ) erfolgte. Die Daten hinsichtlich der
GTR sind mit 89,5% in Einklang mit den im Kapitel 3.1.1
dargestellten Daten.
Die Autoren sehen die Vorteile des Registers in der Möglichkeit des
Datenaustauschs und -pooling zwischen den teilnehmenden Zentren und der
Qualitätskontrolle. Daraus leiten sie den Vorteil eines nationalen
Lernprozesses und eine stetige Verbesserung des schwedischen
Gesundheitssystems ab.
4.2.7 ENTstatistics
Das Programm ENTstatistics der Firma Innoforce ist eine kommerzielle
Datenbank zur Verwaltung von Ohr- und anderer HNO-Operationen. Über
entsprechende Software-Schnittstellen ist die Kommunikation zum KIS und der
Gerätesoftware der Audiometrie möglich. Auch
Fragebögen von HRQOL Messinstrumenten und andere individuelle
Fragelisten lassen sich integrieren. Zudem besteht prinzipiell die
Möglichkeit des Datenpooling von verschiedenen Anwendern und eine
gezielte Parameterabfrage. Aufgrund der kommerziellen Nutzung sind
Datenbankpflege und Instandhaltung sichergestellt. Publikationen, die sich
konkrete auf die Anwendung des Systems bei Mittelohroperationen beziehen,
sind bisher nicht bekannt. Über eine Nutzung im Bereich der Cochlear
Implantation ist aus Heidelberg berichtet worden [185 ].
Zum Teil sind aus der Nutzung der o.g. Datenbanksysteme bereits Ergebnisse
für eine Reihe von Publikationen extrahiert und analysiert worden
([Tab. 3 ]) . Dabei werden die
Vorteile schnell deutlich: die konsequente Nutzung führt zu
großen Fallzahlen, die auch nach Filterung für bestimmte
Parameterausprägungen noch respektable
Populationsgrößen für statistische Auswertungen
liefern. Besteht zudem die Möglichkeit zum
nutzerübergreifenden Datenpooling, steht detaillierten Analysen in
Form von prospektiven, multizentrischen Studien nichts im Wege. Allerdings
zeigt sich auch hier, dass die Vielzahl von bereits existierenden lokalen
und/oder nationalen, z. T. selbsterstellten Systemen diesem Ziel
nicht zuträglich ist. Demgegenüber sind die Anschaffung,
Anbindung an die Krankenhausinformationsstruktur, Pflege und Instandhaltung
der kommerziellen Lösungen entsprechend hochpreisig und nicht ohne
weiteres in ein begrenztes Investitionsbudget integrierbar.
Name
Sprache
Jahr
Beschreibung
Kommerziell
Publikationen
Common Otology Audit Database
Englisch
2004
[176 ]
nein
[175 ]
[186 ]
[187 ]
[188 ]
[189 ]
Standardized Korean Ear Surgery Database
Koreanisch
2005
[190 ]
nein
[181 ]
OtoDatabase
Dänisch
2002
[182 ]
nein
[182 ]
Otology-Neurotology Database
Englisch
2006
[183 ]
ja
[183 ]
[188 ]
[191 ]
[192 ]
[193 ]
[194 ]
OtoKir Database
Englisch
2004
[8 ]
nein
[8 ]
[195 ]
[196 ]
ENTstatistics
Deutsch
2004
ja
Swedish National Quality Registry
Schwedisch
2004
[184 ]
nein
[184 ]
[197 ]
[198 ]
Zusammenfasend können die Anforderungen an ein Dokumentationssystem
die folgenden Anforderungen gestellt werden:
Kostengünstig, bzw. angemessene Kosten-Nutzen Relation
Unkomplizierter Datentransfer zum Krankenhausinformationssystem
Unkomplizierter Datentransfer von Quelldaten (Audiometrie, HRQOL,
parametrierte KIS-Formulare)
Professionelle Pflege und Instandhaltung der Datenbank
Möglichkeit zum individuellen Datenabruf und
Parameter-übergreifender Auswertung
Informationsstruktur zur Bearbeitung und Auswertung von
standortübergreifenden wissenschaftlichen Fragestellungen
unter Einhaltung datenschutzrechtlicher und ethischer Aspekte.
Problemlose Integration neuer Klassifikationssysteme mit der
Möglichkeit einer nachträglichen Umcodierung von
bereits vorhandenen Datenbankeinträgen