Z Sex Forsch 2019; 32(04): 239-240
DOI: 10.1055/a-1028-2695
Buchbesprechungen

Nicht schwul. Die homosexuelle Zutat zur Erschaffung des ›normalen‹ Mannes

Zoom Image

Diese Studie setzt sich ein ungewöhnliches und in der bisherigen sozialwissenschaftlichen Literatur bisher kaum angestrebtes Ziel. Sie will aufzeigen, dass sexuelle Kontakte „zwischen weißen heterosexuellen Männern […] heterosexuelle Männer formen und heteromännliche Bindungen stärken“ (S. 12). Für Jane Ward stellt „Homosexualität einen oft unsichtbaren, doch gleichwohl unabdingbaren Bestandteil, ja ein konstitutives Element heterosexueller Männlichkeit“ dar (S. 12).

Unter der als Zwischenüberschrift gestellten Frage „Was ist Heterosexualität?“ hält die Autorin fest, dass gleichgeschlechtlicher Sex, der von Heterosexuellen inszeniert wird, ein sexuelles Zwischenreich außerhalb des Gegensatzpaares heterosexuell/homosexuell beanspruche und analog zum intimen Umgang unter Kindern mitunter kaum als Sex wahrzunehmen sei. Wie die sexuellen Kinderspiele habe er viele Namen – „Ausprobieren, Ausrutscher, Freundschaft, Scherz, Spiel“ – und die Beteiligten würden tunlichst darauf achten, dass man sie nicht für wirkliche Homosexuelle hält: „[Sie] tun dies, indem sie zeigen, dass die sexuelle Begegnung etwas anderes ist als Sex“ (S. 37). Hiermit gibt Ward Selbstauskünfte heterosexueller Männer wieder. Sie spürt nicht nur akribisch vielen Dokumenten „realer homosexueller Handlungen weißer heterosexueller Männer nach, sondern gleichermaßen ihren Erscheinungsformen im Reich der Fantasie und in der Kulturproduktion“ (S. 17). Dabei fühlt sie sich einer Synthese von Queer Studies, Kulturwissenschaft, Soziologie und feministischer Theorie verpflichtet.

Ausgangspunkt ihrer Kritik an Psychologie und Sexualwissenschaft und an in der breiteren Öffentlichkeit vertretenen Meinungen ist die dort dominierende Überzeugung, dass „das Begehren männlicher Heterosexualität grundverschieden ist von demjenigen männlicher Homosexualität“ (S. 15). Besonders seit den 1950er-Jahren habe die US-amerikanische Psychologie eine Vielzahl von Begrifflichkeiten hervorgebracht, um „falsche“ (im Sinne kontingenter) Homosexualität von „authentischer“ zu unterscheiden.

Gegen diese Argumentationsstränge, die die Bedeutung gleichgeschlechtlicher Sexkontakte zwischen heterosexuellen Männern kleinreden sollen, argumentiert Ward keineswegs lediglich „queer-theoretisch“. Sie führt historische Untersuchungen an, vor allem am Beispiel von New York am Ende des 19. Jahrhunderts. Sie rezipiert reichhaltiges empirisches Material zu gleichgeschlechtlichen Sexkontakten in der US Army und der US Navy. Und schließlich analysiert sie zeitgenössische Ratgeberliteratur, die besorgte Ehefrauen beruhigen will, dass ihre Gatten trotz gleichgeschlechtlicher Sexkontakte keineswegs schwul seien.

Die Jahrzehnte vor 1940 nennt Ward ein „Jahrhundert des nicht-schwulen Sex“ (S. 62). Sie folgt der Kritik des US-Historikers George Chauncey am schwulen Narrativ, dass vor den Stonewall-Unruhen 1969 die sozialen Milieus homosexueller Begegnungen unsichtbar gewesen seien. Sie verweist in diesem Zusammenhang auf die hohe Dichte einer „Junggesellen-Subkultur“ (S. 76) in New York, vor allem aus italienischen und irischen Immigranten bestehend, die sich durch die Ablehnung von Häuslichkeit und weiblich konnotierter Sittlichkeit auszeichnete. Diese Junggesellen zelebrierten eine „raubeinige Männlichkeit“, die sich durch die Unabhängigkeit von Frauen definierte (S. 76). In der Arbeiterschaft wurde demzufolge bis in die 1940er-Jahre eine ganz andere Grenzziehung zwischen „normal“ und „abweichend“ vorgenommen als unter Medizinern und Psychiatern aus der Mittelschicht. So konnten „diese konventionell männlichen heterosexuellen Männer sogar sehr oft Sex mit Männern haben, ohne ihre Normalität oder Heterosexualität in Fragen zu stellen“ (S. 74).

Gleichgeschlechtliche sexuelle Kontakte im Militär stellen für Ward einen anderen Kontext dar, um homosexuelle Akte zu analysieren. Hier bleibe die Inszenierung von Zwang von wesentlicher Bedeutung. Aus der besonders in den Streitkräften geltenden Norm der Heterosexualität folge, dass die Teilnehmer an sadistisch gefärbten Ritualen etwas ertragen müssten, dem sie sich sonst nicht aussetzen würden. Zu Recht hebt Ward hervor, dass die „bloße Gegenwart von Macht, Ekel und Abscheu […] keineswegs die Abwesenheit von Erotik und sexueller Bedeutung signalisiert“ (S. 156). Während in den Streitkräften makellose Körper und tadellose Uniformen verherrlicht würden, würden gleichzeitig Initiationsriten, wie die in der Marine verbreitete „Äquatortaufe“, akzeptiert. Das Praktizieren von analer Penetration (nicht nur durch Gegenstände) und Anilingus gehörten dazu. Das Ertragen von Demütigungen und körperlichen Schmerzen, das Unter-Beweis-Stellen „analer Zähigkeit“ (S. 155), dies alles werde durchgeführt, um die physische Belastbarkeit von Soldaten zu testen, so die vorgeschobene Begründung des Rituals. Die dabei erforderliche Bekundung von Abscheu, so Ward, diene der Kaschierung sexueller Motive, wenngleich sie keineswegs aus den Augen verliert, dass homosexuelle Handlungen in den Streitkräften strategisch eingesetzt würden, um den Rekruten gewalttätiges männliches Dominanzstreben einzubläuen.

Um deutlich zu machen, dass gleichgeschlechtlicher Sex zwischen heterosexuellen Männern in den USA keineswegs auf geschlossene Institutionen wie Gefängnisse oder die Armee und Marine beschränkt sei, geht Ward ausführlich auf eine bestimmte Sorte von Ratgeberliteratur ein. Exemplarisch analysiert sie die öffentlichen Stellungnahmen des schwulen Psychologen und Betreibers einer Website Joe Kort. Der publizistisch sehr aktive Ratgeber betreut „sexuell verwirrte Männer“ (S. 105) und hilft besorgten Ehefrauen (oder Eltern), indem er seinen Klienten bescheinigt, dass sie nicht schwul seien. Nicht der homosexuelle Sexkontakt sei bestimmend, sondern die erlebte Spiritualität und Emotionalität beim Sex. Schwule Männer erlebten Emotionalität und Romantik beim gleichgeschlechtlichen Sex, heterosexuelle Männer „als Kerle“ keineswegs. Nicht ohne Ironie verweist Ward auf eine seiner als Lernziel verkündeten Sentenzen: „Ich verstehe jetzt, dass ich nicht schwul bin; ich möchte bloß hin und wieder von einem Mann penetriert werden, der mich an meinen Vater erinnert“ (S. 107). Dem Downsizing von gleichgeschlechtlichem Sex heterosexueller Männer im Sinne eines Eskamotierens seines erotischen Gehalts, setzt Ward die Forderung entgegen, die zumeist ignorierte Möglichkeit zur Kenntnis zu nehmen, dass „heterosexuelle Männer [in vielen Situationen, M. B.] mit Männern Sex haben wollen“ (S. 120). Ergebnisse einer eigenen Erhebung in Los Angeles in den Jahren 2005 und 2006 bestärken sie in dieser These. Im Rahmen einer kleinen Studie wurden über 240 Kontaktanzeigen einer Website ausgewertet. Die meisten der Anzeigenautoren definierten sich ausdrücklich als heterosexuell, waren zwischen 20 und 40 Jahren und waren explizit auf der Suche nach Männern. Die Männer suchten „Kumpel“ oder „Brüder“ für eine echte Männerfreundschaft, die Anzeigenkommentare „konstruieren den ‚Sex unter Kerlen‘ als eine Form von Sex, die die heterosexuelle Männlichkeit der Beteiligten eher stärkt als bedroht“ (S. 142). Die angestrebten Treffen sollten nichts mit „schwulem Quatsch“ (S. 122) zu tun haben, der durch feminine Umgangsformen, Liebe und Küssen gekennzeichnet sei.

Die hier erwähnten und von Ward analysierten Kontexte bieten nur eine Auswahl der von ihr herangezogenen Bereiche, in denen es zu Sexkontakten zwischen weißen heterosexuellen Männern kommt. Sie kommt zu dem Fazit: „Homosexualität ist im Leben weißer heterosexueller Männer stets gegenwärtig; sie steht nicht nur in keinem Widerspruch mit weißer Heteromännlichkeit, sondern gehört geradezu zu ihren Konstituenten“ (S. 199). Dies gelte auch für die große Zahl heterosexueller Männer, die sich noch nie auf einen homosexuellen Kontakt eingelassen hätten. Als Einwand mag hier formuliert werden, dass Ward es versäumt, in der ausführlichen Beschreibung differierender Kontexte, in denen heterosexuelle Männer homosexuellen Sex haben, herauszuarbeiten, welche unterschiedliche Bedeutung den homosexuellen Akten dabei zukommt, und wie sie von der jeweiligen psychischen Struktur der Beteiligten beeinflusst werden und diese ebenfalls formen.

Ward hat mit viel Witz und Scharfsinn eine aufschlussreiche Studie verfasst, die zu Unrecht vernachlässigte Aspekte der Sexualität heterosexueller Männer aufzeigt. Ihre Kritik an dem von ihr abgelehnten binären Muster männlich/weiblich, heterosexuell/homosexuell enthält jedoch eine bedeutsame Leerstelle. Ihr gelingt es nicht, die Psychodynamik des von ihr behaupteten allgegenwärtigen mann-männlichen Begehrens detailliert zu analysieren (Entsprechendes würde sich auf Frauen begehrende Frauen beziehen). Dies wird besonders im Rahmen eines persönlichen Geständnisses deutlich, in dem sie von ihrer Erkenntnis berichtet, dass „das Objekt meiner Begierde keine Person und nicht einmal eine Personengruppe […] war, sondern queere Räume, Ideen und Möglichkeiten“ (S. 193). Dass das Begehren sich von einzelnen Personen ablöst und sich auf Räume und Ideen richtet, ändert vollkommen den Begriff des Begehrens. Die Sympathien für Ideen und das Verlangen nach sozialen Räumen queerer Menschen sollten vom sexuellen Begehren unterschieden werden. Ein Ineinssetzen dieser sehr unterschiedlichen Strebungen ist in sexualwissenschaftlicher Perspektive wenig plausibel. Ward bringt auf diese Weise den Begriff des Begehrens um seinen sexuellen Gehalt, obwohl sie doch beansprucht, Sexualität unter Rückgriff auf queere Theorie adäquater zu analysieren. Im Eifer der Kritik an „heteronormativ“ bedingten falschen Gewissheiten unterlaufen Ward einige eher krude „queer-normative“ Aussagen, so z. B. in ihrem Geständnis: „Ich erkannte, dass ich weder hetero- noch homosexuell, weder lesbisch noch bisexuell – sondern dass ich queer war […]: dass ich mich selbst für mein queeres Leben entschieden habe und diese Queerness selbst kultiviere; dass ich sowohl die Hetero- als auch die etablierte Homo-Kultur geschmacklos und oft bemitleidenswert finde; dass meine Partnerin und ich keine Damen sind“ (S. 194 f.). Auch wenn Ward sich nicht als „Dame“ fühlt, muss erstaunen, dass sie daraus die Berechtigung ableitet, Hetero- und Homo-Kultur umstandslos als geschmacklos zu geißeln und Menschen, die eine „romantische“ Liebesbeziehung anstreben, kultureller Rückständigkeit zu zeihen.

Noch ein anderer, für Ward nicht unwesentlicher Aspekt ihrer Studie irritiert. Durchgängig bezieht Ward ihre Analyse nur auf weiße heterosexuelle Männer. Afroamerikaner nimmt sie explizit davon aus, einen Großteil der Literatur zu gleichgeschlechtlichen Sexkontakten zwischen heterosexuellen afroamerikanischen Männern qualifiziert sie als rassistisch. Die These, die so vehement ein Fortbestehen einer Apartheid-Gesellschaft behauptet, was Sexualität in den USA anbelangt, hätte zumindest ausführlicher begründet werden müssen. Bei aller Kritik bleibt festzuhalten, dass Ward eine lesenswerte Studie vorgelegt hat, die auf viel empirisches Material zurückgreift, das bisher kaum berücksichtigt und kritisch hinterfragt wurde.

Michael Bochow (Berlin)



Publication History

Article published online:
13 December 2019

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York