Schlüsselwörter
Kognitive Kommunikationsstörungen - Schizophrenie - Logopädie - Sprachtherapie
Keywords
Cognitive communication disorders - schizophrenia - speech-language therapy
„Crazy Talk“: wenig beachtetes Kernsymptom der Schizophrenie
Die Erkrankung der Schizophrenie ist im diagnostischen Manual für psychiatrische Störungen
DSM-5 charakterisiert durch 5 Leitsymptome, von denen mindestens eines der ersten
3 erfüllt sein muss [1]:
-
Wahn,
-
Halluzinationen,
-
desorganisierte Sprechweise,
-
desorganisiertes bzw. katatones Verhalten,
-
Negativsymptome (z. B. flacher Affekt, Willensschwäche).
Wahn und Halluzinationen bestimmen das Bild der Schizophrenie in der Gesellschaft,
während die als gleichrangig eingestuften Störungen der „Sprechweise“ häufig unbeachtet
bleiben. Ein möglicher Grund dafür ist, dass im DSM-5 an ihrer Stelle bis vor Kurzem
die „formale Denkstörung“ stand – ein Symptom, das sich nur indirekt aus dem verbalen
Verhalten erschließen, aber nicht direkt messen und beobachten ließ. An ihre Stelle
trat im aktuellen DSM-5 daher die besser beobachtbare „desorganisierte Sprechweise“.
Noonans Artikel ist treffend untertitelt: „Unravelling the mystery of verbal dysfunction
in schizophrenia could yield cues to the nature of the disease“ [2]. Im Zuge der Erkrankung führt gestörte Sprache zu gestörter Kommunikation und damit
zu reduzierter Lebensqualität ([Abb. 1]) [3].
Abb. 1 Rolle von gestörter Sprache für Kommunikation und Lebensqualität bei Schizophrenie.
Desorganisierte Sprechweise ist ein Kernsymptom der Schizophrenie.
Logopädie und Sprachtherapie bei Schizophrenie?
Aus der Perspektive der Logopädie bzw. Sprachtherapie wird daher die Notwendigkeit
deutlich, Patienten mit Schizophrenie mit geeigneten Interventionen eine Verbesserung
von Sprache, Kommunikation und Lebensqualität zu ermöglichen. Das Problem dabei ist,
dass es aktuell keine zufriedenstellenden Beschreibungen des sog. Crazy Talk und daher
auch keine literaturbasierten Therapieprogramme gibt: In der aktuellen Leitlinie „Schizophrenie“
[4] ist Ergotherapie nur als unterstützend und sind Logopädie bzw. Sprachtherapie gar
nicht aufgeführt. Folglich sind geeignete standardisierte und normierte Testverfahren
erst noch zu entwickeln [5].
Logopädie bzw. Sprachtherapie würde für Menschen mit Schizophrenie gebraucht, aber
konkrete Konzepte fehlen.
Für die Entwicklung solcher Testverfahren ist es zunächst notwendig, die bereits vorhandenen
Informationen über die Facetten gestörter Sprachproduktion bei Schizophrenie zu sichten
und zu versuchen, im kognitiv-sprachlichen System (innerhalb oder auch außerhalb des
mentalen Lexikons) den oder die Orte der Störung zu lokalisieren. In der Literatur
sind die beiden Übersichtsarbeiten von Covington [6] und Marini [7] zu spontansprachlichen Symptomen hervorzuheben; für eine erste deutschsprachige
Übersicht auf der Basis dieser Arbeiten und einen Bezug zu Kommunikation und Lebensqualität
s. [8]. Die folgende Infobox fasst die identifizierten Abweichungen in der Sprachproduktion
in internationalen Studien zusammen.
Symptome des Crazy Talk bei Schizophrenie
-
Wortabruf bzw. lexikalischer Zugriff: Abrufschwierigkeiten, verzögerter Abruf (z. B. in Wortflüssigkeitsaufgaben); Neologismen,
Paraphasien bzw. Wortannäherungen; weitschweifige Sprache
-
Prosodie: verflachte Sprachmelodie; mehr Pausen; erstickte bzw. heisere Stimme
-
Syntax: syntaktische Fähigkeiten grundsätzlich eher unbeeinträchtigt; unvollständige Sätze
und Satzverschränkungen möglich; reduzierte syntaktische Komplexität mit wenig Einbettungen
-
Pragmatik: fehlende Kohärenz und Konsistenz; unangemessenes bzw. unkooperatives Verhalten gegenüber
dem Gesprächspartner und Verletzung der Grice-Maximen
Neurokognitive Grundlagen für Crazy Talk
In einer Reihe von Studien an der Uniklinik RWTH Aachen wurde von neurolinguistischer
und logopädischer Seite versucht, in systematischen Beobachtungen und experimentellen
Manipulationen konkretere Vorstellungen über die Verortung dieser sprachlichen Symptome
zu gewinnen. Die betrachteten Ebenen waren in Anlehnung an das Levelt-Modell [9] folgende:
-
formal-logisches Denken und Schlussfolgern (konzeptuelle, nicht lexikalische Ebene),
-
Verarbeitung semantischer Assoziationen (Lemma-Ebene),
-
lexikalischer Abruf in Ein- und Mehrwortäußerungen (Lemma- und Lexemebene und Aufbau
eines syntaktischen Rahmens).
Formal-logisches Denken
Sailee Shikhare untersuchte, ob Patienten mit Schizophrenie „Quantoren“, d. h. formal-logische
Beschreibungen von Mengen und Mengenverhältnissen, verstehen und verarbeiten können
[10]. Sie erfasste in ihrer von Klaus Willmes supervidierten Studie sowohl die Korrektheit
der Antworten als auch die Reaktionszeiten. Das Verhältnis von Akkuratheit und Tempo
der Antworten (das sog. Effizienzmaß) unterschied sich zwischen Erwachsenen mit und
ohne Schizophrenie und die Reaktionszeiten bei Menschen mit Schizophrenie standen
im direkten Zusammenhang mit der Symptomschwere. Das Datenmuster legt nahe, dass die
Patienten keine grundsätzlichen Schwierigkeiten in dieser Domäne haben, sondern dass
es die Zeitkomponente ist, die die akkurate Ausführung beeinträchtigt.
Semantische Assoziationen
Katharina Saß nutzte eine lexikalische Entscheidungsaufgabe mit vorgeschalteter Priming-Phase
zur Untersuchung der direkten und indirekten Ausbreitung von semantischen Assoziationen
im mentalen Lexikon und deren neuronalen Korrelaten im Gehirn [11]. In der lexikalischen Entscheidungsaufgabe wurde eine Wort/Pseudowort-Entscheidung
getroffen. Vor der Präsentation dieser Stimuli erschienen die Priming-Stimuli, deren
Beziehung zu den Wörtern direkt (Bild – Rahmen), indirekt (Amboss – Nagel) oder nicht
existent (Bild – Flasche) war. Die Primes wurden sowohl in derselben (visuellen) Modalität
wie die Zielreize als auch cross-modal (also auditiv) dargeboten. Für beide Modalitäten
zeigten sich Priming-Effekte bei gesunden Kontrollpersonen, nicht aber bei Patienten
mit Schizophrenie, während in den Fehlerraten keine Unterschiede vorlagen. Zudem ergab
sich hinsichtlich der Priming-Effekte in der Hirnaktivierung ein Gruppenunterschied
im Parietallappen. Dieses Datenmuster legt nahe, dass die Verarbeitung von Assoziationen,
also die Reizausbreitung im semantischen System, bei Patienten mit Schizophrenie eine
abweichende neurokognitive Architektur hat.
Lexikalischer Abruf
Einzelwortäußerungen
Die in der Literatur berichtete reduzierte Wortabrufleistung bei semantischen Wortflüssigkeitsaufgaben
konnte von Maike Creyaufmüller in ihrer von Juliane Leinweber (geb. Mühlhaus) und
Katharina Saß mitbetreuten Masterarbeit bestätigt werden [12]. Diese Leistungen beziehen sich auf den Abruf von bereits seit Langem lexikalisierten
Wörtern. In ihrer von Stefanie Brühl (geb. Abel) betreuten Masterarbeit untersuchte
Merle Tunkel hingegen auch die Fähigkeit von schizophrenen Patienten, neue Namen (Pseudowörter)
für bekannte Objekte zu lernen, und fand, dass deren Leistung deutlich hinter der
gesunder Personen zurückblieb [13]. Lexikalischer Abruf scheint also im klassischen Fall, in dem ein fester Zeitrahmen
gesetzt ist, beeinträchtigt zu sein. Dies ist erst recht in Fällen so, in denen die
Items noch nicht fest im Lexikon verankert sind und zusätzlich die Konsolidierung
erschwert ist.
Mehrwortäußerungen
Einen anderen Zugang wählten Creyaufmüller und Mitarbeiter im experimentellen Teil
ihrer Studie, in dem von Patienten und Probanden Computeranzeigen mit 2 Bildern (mit
den Bildnamen A und B) im Format des Typs „Der A ist rechts von der B.“ oder „Die
B ist links von dem A.“ beschrieben werden sollten [12]. Diese Aufgabe war eingebettet in eine Bild-Wort-Interferenzsituation, in der geschriebene
Ablenkerwörter auf dem Bildschirm erschienen. Diese hatten entweder eine semantische
Relation zum ersten genannten Bildnamen, zum 2. oder zu keinem der beiden. In Vorgängerstudien
konnte mit diesem Paradigma die serielle Verarbeitung beim Mehrwortabruf gezeigt werden
(z. B. [14]): Semantische Ablenker haben einen Einfluss auf die Abrufgeschwindigkeit des ersten,
aber nicht des 2. Bildnamens. Der erste wird schon verarbeitet, der 2. nicht. Diese
Befunde konnten von Creyaufmüller und Mitarbeitern bei Patienten mit Schizophrenie
repliziert werden. Dabei gab es keine Unterschiede zu gesunden Probanden.
Hingegen zeigte sich in der funktionellen Magnetresonanztomografie generell eine reduzierte
Hirnaktivierung für Patienten mit Schizophrenie ausschließlich und speziell im sprachrelevanten
Broca-Areal. Interessanterweise waren dort 2 getrennte Aktivierungsfoki zu finden,
sowohl im an lexikalischem Abruf beteiligten Unterareal 45 als auch im Unterareal
44, das bei der syntaktischen Enkodierung involviert ist. Diese Ergebnisse unterstreichen
zum einen die Rolle der neurobiologischen Basis der Sprachverarbeitung bei Schizophrenie.
Zum anderen stehen sie in scheinbarem Widerspruch zum Einfluss semantischer Reize
auf die Sprachverarbeitung bei Schizophrenie [11]. Zu beachten ist, dass sich die beiden Studien sowohl hinsichtlich der geforderten
Reaktion (Tastendruck versus gesprochener Satz) als auch hinsichtlich des Timings
(Priming = Präsentation vor dem eigentlichen Reiz [11]; Bild-Wort-Interferenz = gleichzeitige Präsentation [12]) unterscheiden. Das kann mögliche Differenzen in den Ergebnismustern erklären. In
diesem Bereich besteht weiterer Forschungsbedarf.
Systematische Erfassung und Analyse der desorganisierten Sprache bei Schizophrenie
ist notwendig, um Ansätze für logopädisch-sprachtherapeutische Interventionen zu finden.
Die in der Literatur berichteten Besonderheiten der schizophrenen Spontansprache beginnen
beim Abruf einzelner Wörter und erstrecken sich auf die inhaltliche und syntaktische
Planung von Äußerungen vor allem im dialogischen Kontext. Die in diesem Beitrag referierten
Arbeiten aus der Uniklinik RWTH Aachen stellen nur einen ersten Anfang für die systematische
Annäherung an das Thema dar. Gleichwohl muss die Konzeptionalisierung von logopädisch-sprachtherapeutischen
Interventionsstrategien auch beim aktuellen Kenntnisstand schon vorangetrieben und
in der Praxis erprobt werden, damit in einer künftigen Revision der Leitlinie „Schizophrenie“
auch solche Ansätze zur evidenzbasierten Verbesserung der Kommunikation ihren Platz
finden.