Psychother Psychosom Med Psychol 2020; 70(08): 330-338
DOI: 10.1055/a-1069-7742
Originalarbeit

Die Häufigkeit von Fällen von Kindesmisshandlung – Ergebnisse einer Befragung von Brandenburger Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten

The Frequency of Cases of Child Abuse – Results of a Survey of Brandenburg Child and Adolescent Psychotherapists
Sybille Peters
1   Institut für Rechtsmedizin, Charité Universitätsmedizin Berlin
,
Sven Hartwig
1   Institut für Rechtsmedizin, Charité Universitätsmedizin Berlin
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Hintergrund Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (KJP) sind eine wichtige – im wissenschaftlichen Diskurs bisher wenig beachtete – Berufsgruppe im medizinischen Kinderschutz. Ziel der Untersuchung ist die Erfassung der Häufigkeit und des Umgangs mit (Verdachts)Fällen von Kindesmisshandlung in der psychotherapeutischen Praxis.

Methoden Alle im Bundesland Brandenburg zur vertragspsychotherapeutischen Versorgung zugelassenen KJP wurden mittels Fragebogen zur Häufigkeit von Kindesmisshandlungen, differenziert nach Misshandlungsform und Alter um Auskunft gebeten. Des Weiteren wurden die Anzahl der Meldungen an eine Behörde, mögliche Gründe für eine unterlassene Meldung sowie notwendige Voraussetzungen für sicheres Erkennen, Bewerten und Einleiten medizinrechtlicher und medizinisch/psychotherapeutischer Interventionen erfasst.

Ergebnisse 2016 registrierten 74,4% und 2017 87% der KJP mindestens einen (Verdachts)Fall von Kindesmisshandlung, wobei in beiden Untersuchungsjahren die Misshandlungsformen emotionale Vernachlässigung und emotionale Misshandlung am häufigsten auftraten und die Altersgruppe der 6–13jährigen am meisten von Kindesmisshandlung betroffen war. 2016 meldeten 34,4% und 2017 35% der KJP, die mindestens einen (Verdachts)Fall sahen, diese/n an eine Behörde. Der häufigste Grund, der gegen eine Meldung an eine Behörde sprach, war mit 47,6% der Wille des Kindes, in der Therapie Besprochenes nicht weiterzugeben. Um emotionale Vernachlässigungen und emotionale Misshandlungen sicher diagnostizieren zu können, fehlen für 83,7% der Befragten eindeutige Kriterien. Als wichtigste Voraussetzungen für einen effektiven Kinderschutz werden Fortbildungen zu medizinisch/psychotherapeutischen sowie medizinrechtlichen Themen (53,3%), eine bessere Zusammenarbeit der beteiligten Professionen (43,4%) und die Aufnahme des Themas in die Psychotherapieausbildung (26,7%) benannt.

Schlussfolgerung (Verdachts)Fälle von Kindesmisshandlung weisen in der ambulanten psychotherapeutischen Praxis eine hohe Relevanz auf. Aufgrund ihrer intensiven Beziehung zum Patienten kann die Berufsgruppe der KJP emotionale Vernachlässigungen und emotionale Misshandlungen besonders gut erkennen. Deren Beitrag für eine Versorgung der von Misshandlung betroffenen Kinder ist an bestimmte Voraussetzungen wie ein berufsspezifisches Fortbildungsangebot, die Erarbeitung konkreter Maßnahmen auf Landkreisebene zur Kooperation mit dem Jugendamt und an verbindliche Definitionen und Kriterien der einzelnen Misshandlungsformen gebunden.


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Abstract

Background Within the field of (medical) child protection, child and adolescent psychotherapists are an important occupational group. However, that fact has mostly been overlooked in scientific discourse. The objectives of this study were to determine the prevalence and the approach to dealing with cases of (suspected) child abuse in psychotherapeutic practice.

Methods All KJP who are admitted in the federal state of Brandenburg were asked to answer a questionnaire about the frequency of child abuse, divided by form of abuse and age. Furthermore, the number of reports to an authority/ agency, reasons for not reporting a (potential) case as well as necessary prerequisites for reliable recognition, evaluation and initiation of medico-legal, medical and psychotherapeutic interventions were recorded.

Results In 2016, 74.4% and in 2017, 87% of child and adolescent psychotherapists registered at least one case of (suspected) child abuse. For both years, emotional negligence and emotional abuse were the most common types of abuse. The age group 6–13 was most affected by child abuse. In 2016, 34.4% and in 2017, 35% of child and adolescent psychotherapists who saw at least one case of (suspected) child abuse reported those to an agency. The most common reason (47.6%) for not reporting cases of (suspected) child abuse was the child’s wish to not share any content discussed in therapy. 83.7% stated that clear criteria to reliably diagnose emotional negligence and emotional abuse are missing. Continuing education on medical/ psychotherapeutic and medico-legal aspects (53.3%), better cooperation between involved professions (43.4%) and inclusion of the overall topic in psychotherapist training and education (26.7%) were mentioned as the most important requirements for effective child protection.

Conclusions Cases of (suspected) child abuse are highly relevant in ambulant psychotherapeutic practice. Due to their close relationship with the patient, child and adolescent psychotherapists can identify emotional negligence and emotional abuse especially well. Their contribution to the care of children affected by abuse requires continuing education offers specific to their profession, the development of clear measures regarding the cooperation with Child Protective Services (county-level) as well as binding definitions and criteria for the different types of abuse.


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Einleitung

Aktuellen Untersuchungen zufolge waren mehr als ein Viertel befragter Jugendlicher und Erwachsener der deutschen Gesamtbevölkerung in ihrer Kindheit von Misshandlung (körperlich, emotional), Vernachlässigung (körperlich, emotional) oder sexuellem Missbrauch betroffen [1] [2]. Die Prävalenz emotionaler Misshandlung stieg von 2010 bis 2016 signifikant an [3]. Das Bundesland Brandenburg führte im Jahr 2017 6637 Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls, in 1174 Fällen mit dem Ergebnis einer akuten Kindeswohlgefährdung [4].

Entsprechend einer Untersuchung von Leitner und Troscheit zu Kindesmisshandlung und – vernachlässigung mit Todesfolge und schwerster Kindesmisshandlung starben in den Jahren 2000 bis 2005 im Bundesland Brandenburg 20 Kinder, 7 erlitten schwerste Körperverletzungen. Ein Teil der Fälle ereigneten sich vor dem Hintergrund einer nicht ausreichenden Abstimmung und Verbindlichkeit zwischen einzelnen Berufsgruppen und zwischen einzelnen Versorgungsbereichen sowie aufgrund vorhandener Unsicherheiten der Fachkräfte im Erkennen von Kindesmisshandlungen und Einleiten von Interventionen. Die Autoren leiten aus diesen Ergebnissen u. a. folgende Entwicklungsaufgaben für den Kinderschutz in Brandenburg ab: Gewährleistung einer strukturell-kooperativen Informationsvernetzung und Verbesserung der Handlungssicherheit der Fachkräfte [5].

Die somatischen und psychischen Folgen von Kindesmisshandlungen sind für Betroffene oftmals noch im Erwachsenenalter zu spüren. Sie können für psychische Auffälligkeiten und psychische Störungen wie z. B. Substanzmissbrauch, Ängste, Essstörungen und Depressivität mitverantwortlich sein [6] [7].

Vor allem psychische Misshandlungen stellen einen hohen Risikofaktor für eine nachhaltige Störung der Entwicklung eines Kindes dar [8]. So können emotionaler Missbrauch und emotionale Misshandlung bei der Entstehung von Depressionen von besonderer Bedeutung sein [9]. In der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion finden psychische Kindesmisshandlungen bisher keine ausreichende Beachtung. Mögliche Gründe dafür sind u. a. die Vielzahl schwer und nicht sofort erkennbarer Folgen [10]. Infolge dieser Erkenntnisse hat der richtige Umgang mit (Verdachts)Fällen von Kindesmisshandlung einen großen Stellenwert.

Für das Erkennen von Kindesmisshandlungen und Einleiten adäquater Interventionen ist nach Aussage der neuen Kinderschutz AWMF S3 (+) Leitlinie die Kooperation der verschiedenen Versorgungsbereiche Jugendhilfe/Medizin/Psychologie und Pädagogik wesentliche Voraussetzung. Dafür benötigen diese Kenntnisse über Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Leistungen der jeweils anderen. Aber nicht nur die Versorgungsbereiche unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Leistungen voneinander, sondern auch die einzelnen Berufsgruppen innerhalb dieser. Deshalb ist weiterhin die Entwicklung berufsspezifischer Leitlinien notwendig [11].

Das seit dem 01.01.2012 geltende Kinderschutzgesetz (KKG §4 Abs. 3) sowie die Berufsordnung der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer (§8 Abs. 2) befugt die Berufsgruppe der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (KJP) bei (Verdacht auf) Kindesmisshandlung unter bestimmten Voraussetzungen zur Offenbarung; das heißt, ihre Schweigepflicht zu brechen und erforderliche Daten z. B. dem Jugendamt mitzuteilen.

Die Berufsordnung führt dafür expressis verbis den Verdacht einer Misshandlung, eines Missbrauchs oder einer schwerwiegenden Verwahrlosung, insbesondere bei Kindern, an. Über die Weitergabe von Informationen haben sie unter Berücksichtigung der Folgen für Patienten und Therapie zu entscheiden [12] [13].

Der KJP diagnostiziert und behandelt psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Infolgedessen ist davon auszugehen, dass er aufgrund inhaltlich-fachlicher (Herstellen einer längerfristigen vertrauensvollen Beziehung zu Kind und Eltern) und organisatorischer (regelmäßiger, meist wöchentlicher Kontakt über einen längeren Zeitraum) Bedingungen, gute Möglichkeiten besitzt, (Verdachts)Fälle von Kindesmisshandlung (insbesondere emotionale) zu erkennen und adäquate Interventionen einzuleiten.

Untersuchungen zur Häufigkeit und zum Umgang mit (Verdachts)Fällen von Kindesmisshandlung in der psychotherapeutischen Praxis liegen soweit ersichtlich im Gegensatz zu Befragungen von Pädiatern bisher nicht vor [14].

Ziel dieser Studie ist es, die Häufigkeit von Kindesmisshandlungen in der psychotherapeutischen Praxis differenziert nach Misshandlungsformen sowie die Anzahl der Meldungen an eine Behörde und mögliche Gründe für eine Unterlassung einer Meldung zu erfassen.

Notwendige Voraussetzungen für ein sicheres Erkennen, Bewerten von Kindesmisshandlungen und Einleiten medizinrechtlicher und medizinisch/psychotherapeutischer Interventionen aus der Perspektive der Berufsgruppe der KJP sollen benannt werden. Somit kann diese Studie einen Beitrag zur Weiterentwicklung von Theorie und Praxis im medizinischen Kinderschutz leisten.


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Methodik

Datenerhebung

Alle 126 am 03.03.2018 im Bundesland Brandenburg zur vertragspsychotherapeutischen Versorgung zugelassenen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (KJP) erhielten im April 2018 einen papiergebundenen teilstandardisierten Fragebogen. Deren Anschriften wurden dem Register (online) der KVBB (Kassenärztliche Vereinigung Brandenburg) mit Stand vom 03.03.2018 entnommen. Die KJP wurden in einem Anschreiben gebeten, den ausgefüllten Fragebogen anonym zurückzusenden. Ein wiederholtes Versenden des Fragebogens erfolgte mit dem Ziel der Erhöhung des Rücklaufs.


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Erhebungsinstrument

Der im Rahmen dieser Untersuchung entwickelte dreiseitige Fragebogen enthielt Fragen zur Häufigkeit von (Verdachts)Fällen von Kindesmisshandlung für die Jahre 2016 und 2017, differenziert nach Misshandlungsform (körperliche Vernachlässigung, emotionale Vernachlässigung, körperliche Misshandlung, emotionale Misshandlung, sexueller Missbrauch) und Alter (0–5 Jahre, 6–13 Jahre, 14–18 Jahre) sowie zur Anzahl der erfolgten Meldungen an Behörden (Jugendamt, Polizei, Gericht). Es wurden sowohl Gründe, die gegen eine Meldung sprachen (Mehrfachauswahl) als auch Einstellungen zu einer gesetzlichen Meldepflicht (dichotome Fragen in Kombination mit einer offenen Frage) erfragt.

Mittels dichotomer Fragen wurden die KJP gebeten, Schwierigkeiten im Erkennen emotionaler Vernachlässigung und emotionaler Misshandlung zu benennen. In einem offenen Antwortformat sind Voraussetzungen für einen effektiven Kinderschutz in der psychotherapeutischen Praxis erhoben worden.

Die Einteilung und die Definitionen der Misshandlungsformen sind den Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter entnommen [15].


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Datenauswertung

Alle anonymen Fragebögen wurden unter einer fortlaufenden Nummer in Oracle Clinical Version 5.1 eingegeben. Die statistische Auswertung aller Daten erfolgte mit SAS Version 9.4 (SAS Institute Inc., Cary, NC, USA). Die Datenerfassung und Auswertung wurde von der Firma CCDRD AG (Hoppegarten, Deutschland) durchgeführt. Alle Fragebögen mit mindestens einer gültigen Antwort wurden in der Auswertung berücksichtigt.

Dichotome Fragen sowie Fragen mit Mehrfachnennungen wurden deskriptiv mit relativen und absoluten Häufigkeiten beschrieben. Antworten offener Fragen wurden kategorisiert und mit Hilfe von Häufigkeitstabellen beschrieben.

Die (Verdachts) Fälle von Kindesmisshandlungen wurden ferner stratifiziert nach Jahr (2016 oder 2017) und Altersklasse (0–5, 6–13, 14–18 Jahre) in mehrdimensionalen Kontingenztafeln abgebildet.


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Ergebnisse

Von 126 angeschriebenen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (KJP) sandten 51 (40,5%) den Fragebogen zurück. Damit liegt diese Befragung im Vergleich zu Befragungen von Berliner oder Brandenburger Ärzten etwa 10% höher [14] [16]. Frühere Befragungen von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sind nicht bekannt. 2 Fragebögen waren mit der Begründung, die Praxis ist erst 2017 eröffnet worden, nicht bearbeitet. Somit konnten 49 (38,9%) Fragebögen in die Auswertung einfließen.

Für die vorliegende Arbeit wurden die Kalenderjahre 2016 und 2017 einbezogen. Nicht alle KJP beantworteten den Fragebogen vollständig. Eine Auswertung war dennoch möglich. Im Ergebnisteil ist dies entsprechend ausgewiesen.

Kindesmisshandlung in der psychotherapeutischen Praxis

Für das Jahr 2016 liegen von 43 KJP und für das Jahr 2017 von 47 KJP Daten zur Anzahl der (Verdachts)Fälle von Kindesmisshandlung vor. Im Jahr 2016 registrierten 32 (74,4%) der 43 antwortenden KJP einen oder mehr (Verdachts)Fälle von Kindesmisshandlung, im Jahr 2017 40 (87,0%) der 46 antwortenden KJP ([Tab. 1]). Im Durchschnitt sah ein KJP im Jahr 2016 im Mittel 9,9 und im Jahr 2017 im Mittel 10,5 Fälle von Kindesmisshandlung.

Tab. 1 Anzahl der KJP mit (Verdachts)Fällen von Kindesmisshandlungen für die Jahre 2016 und 2017.

Anzahl der KJP mit mindestens einem Fall

2016

2017

N

%

N

%

Körperliche Vernachlässigung

18

41,9

20

43,5

Emotionale Vernachlässigung

22

51,2

32

69,6

Körperliche Misshandlung

15

34,9

23

50,0

Emotionale Misshandlung

24

55,8

32

69,6

Sexueller Missbrauch

14

32,6

22

47,8

Misshandlungsformen gesamt

32

74,4

40

87,0

Dabei spielte es keine Rolle, ob diese der Behörde bereits bekannt waren oder nicht. Die Anzahl der registrierten (Verdachts)Fälle in Bezug auf den einzelnen KJP erstreckte sich von 0 bis 121. Mehr als die Hälfte der KJP sahen in den beiden Untersuchungsjahren die Misshandlungsformen emotionale Vernachlässigung und emotionale Misshandlung ([Tab. 1]).

[Tab. 2] ist zu entnehmen, dass die Misshandlungsformen emotionale Vernachlässigung und emotionale Misshandlung am häufigsten auftraten. Bei jeder der 5 Misshandlungsformen und somit auch insgesamt war die Altersgruppe der 6–13 jährigen am häufigsten betroffen.

Tab. 2 (Verdachts)Fälle von Kindesmisshandlungen in den Jahren 2016 und 2017 differenziert nach Misshandlungsformen und Alter.

(Verdachts-)Fälle von Kindesmisshandlung nach Altersgruppen in Jahren

2016

2017

N

%

N

%

Körperliche Vernachlässigung

0–5

8

1,9

15

3,1

6–13

22

5,3

17

3,5

14–18

3

0,7

6

1,2

Gesamt

33

7,9

38

7,8

Emotionale Vernachlässigung

0–5

22

5,3

29

6,0

6–13

77

18,5

77

15,9

14–18

29

7,0

47

9,7

Gesamt

128

30,8

153

31,5

Körperliche Misshandlung

0–5

18

4,3

22

4,5

6–13

30

7,2

36

7,4

14–18

17

4,1

19

3,9

Gesamt

65

15,6

77

15,9

Emotionale Misshandlung

0–5

20

4,8

21

4,3

6–13

78

18,8

87

17,9

14–18

37

8,9

44

9,1

Gesamt

135

32,5

152

31,3

Sexueller Missbrauch

0–5

11

2,6

10

2,1

6–13

29

7,0

31

6,4

14–18

15

3,6

24

4,9

Gesamt

55

13,2

65

13,4

Misshandlungsformen gesamt

0–5

79

19,0

97

20,0

6–13

236

56,7

248

51,1

14–18

101

24,3

140

28,9

Gesamt

416

100,0

485

100,0


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Meldungen an eine Behörde und Gründe für eine unterlassene Meldung

Im Untersuchungszeitraum 2016 meldeten von 32 KJP mit insgesamt 416 (Verdachts)Fällen 11 KJP (34,4%) 43 Fälle (10,3%) an das Jugendamt. An Polizei und Gericht erfolgte keine Meldung.

Von 40 KJP, die im Jahr 2017 insgesamt 485 (Verdachts)Fälle sahen, meldeten 14 KJP (35%) 39 (8%) (Verdachts)Fälle den Behörden, davon 37 (94,9%) an das Jugendamt und 2 (5,1%) an die Polizei.

42 KJP machten Angaben zu Gründen, die gegen eine Meldung an eine Behörde bei (Verdacht) auf Kindesmisshandlung sprachen. Der häufigste Grund, der gegen eine Meldung an eine Behörde sprach, war der Wille des Kindes, in der Therapie Besprochenes nicht weiterzugeben. Weitere Gründe in absteigender Häufigkeit sind die Sorge vor Behandlungsabbruch seitens der Eltern, negative Erfahrungen in der fachlichen Zusammenarbeit mit dem Jugendamt. Weiterhin meldeten KJP (Verdachts)Fälle nicht, weil dies die Situation des betroffenen Kindes verschlechtern würde und organisatorische Hindernisse in der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt (z. B. telefonische Erreichbarkeit) im Wege standen. Unsicherheiten, Kindesmisshandlungen zu diagnostizieren sowie Interventionen einzuleiten, sprachen ebenso gegen eine Meldung wie die Sorge, Eltern unberechtigterweise einer Misshandlung zu verdächtigen. Weitere KJP berichteten, Fälle von Kindesmisshandlungen seien bereits gemeldet worden, daher unterblieben Meldungen.

Zwei häufig genannte Gründe sind der Zeitmangel in der psychotherapeutischen Praxis sowie die fehlende Vergütung des zusätzlichen Arbeitsaufwandes.

Unzureichende Kenntnisse rechtlicher Regelungen hinsichtlich des Durchbrechens der Schweigepflicht den Eltern und Kindern gegenüber, fehlende Ansprechpartner für rechtliche sowie fachliche Fragen sprachen ebenfalls gegen eine Meldung ([Tab. 3]).

Tab. 3 Gründe, die gegen eine Meldung der KJP an eine Behörde sprachen, N = 42 (Mehrfachnennungen möglich).

Gründe die gegen eine Meldung sprachen (Mehrfachnennungen möglich)

N

%

Das Kind/der Jugendliche möchte nicht, dass in der Therapie Besprochenes an die Eltern oder das Jugendamt weitergegeben wird.

20

47,6

Sorge vor Behandlungsabbruch seitens der Kindeseltern.

17

40,5

Negative Erfahrungen in der fachlichen Zusammenarbeit/Kooperation mit dem Jugendamt.

14

33,3

Eine Meldung an das Jugendamt verschlechtert die Situation des Kindes/Jugendlichen.

13

31,0

Organisatorische Hindernisse in der Zusammenarbeit/Kooperation mit dem Jugendamt (z. B. telefonische Erreichbarkeit).

12

28,6

Fälle wurden bereits gemeldet.

10

23,8

Unsicherheit bei Diagnostik und Intervention von Kindesmisshandlungen.

10

23,8

Sorge, die Eltern unberechtigterweise einer Kindesmisshandlung zu verdächtigen.

9

21,4

Zeitmangel in der Praxis, zusätzlicher Arbeitsaufwand kann nicht geleistet werden.

7

16,7

Der zusätzliche Arbeitsaufwand (Kooperation mit dem Jugendamt, weitere Netzwerkarbeit) ist nicht im EBM (GOP) abgebildet, kann nicht bei den Krankenkassen abgerechnet werden.

7

16,7

Unzureichende Kenntnisse rechtlicher Regelungen hinsichtlich des Durchbrechens der Schweigepflicht den Eltern gegenüber.

6

14,3

Bei (Verdacht auf) Kindesmisshandlung kenne ich keinen Ansprechpartner für rechtliche Fragen.

5

11,9

Bei (Verdacht auf) Kindesmisshandlung kenne ich keinen Ansprechpartner für fachliche Fragen.

3

7,1

Unzureichende Kenntnisse rechtlicher Regelungen hinsichtlich des Durchbrechens der Schweigepflicht dem minderjährigen Kind/Jugendlichen gegenüber.

3

7,1

Fälle lagen in der Vergangenheit.

3

7,1


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Einstellung zu einer gesetzlichen Meldepflicht an das Jugendamt

Befragt nach ihrer Einstellung zu einer gesetzlichen Meldepflicht sprachen sich von 49 antwortenden KJP 59,2% (N=29) für und 40,8% (N=20) gegen eine gesetzliche Meldepflicht aus. Die Begründungen ihrer Einstellung wurden kategorisiert.

Die Befürworter einer gesetzlichen Meldepflicht argumentierten wie folgt:

Eine Meldepflicht ermöglicht einen besseren Schutz vor Kindesmisshandlungen und entlastet den KJP hinsichtlich der Abwägung Schweigepflicht vs. Kinderschutz. Des Weiteren stellt eine Kindesmisshandlung eine Straftat dar ([Tab. 4]).

Tab. 4 Häufigkeiten der Gründe, die für eine gesetzliche Meldepflicht sprachen, N=29 (Mehrfachnennungen möglich).

Gründe für eine gesetzliche Meldepflicht

N

%

Keine Angabe.

13

44,8

Besserer Schutz vor Kindesmisshandlungen möglich.

9

31,0

Entlastungen des KJP (Abwägung: Schweigepflicht v. Kinderschutz).

6

20,7

Straftatbestand.

1

3,4

Das am häufigsten angeführte Argument gegen eine gesetzliche Meldepflicht ist die mögliche Gefährdung der therapeutischen Beziehung und somit der psychotherapeutischen Behandlung, z. B. durch einen Behandlungsabbruch. Ferner sollte der Abwägungsprozess Schweigepflicht vs. Kinderschutz durch den KJP geführt werden können. Ihre Position gegen eine gesetzliche Meldepflicht begründeten KJP mit fehlenden Kenntnissen in Diagnostik und Intervention, mit der wenig vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem Jugendamt und mit der Sorge, die Folgen einer Meldung nicht umfassend abschätzen zu können. Sie vertraten den Standpunkt, eine Meldung ist nur dann sinnvoll, wenn sie auch die Situation des Kindes/Jugendlichen verbessert. Der Verdacht auf eine Kindesmisshandlung sollte zuerst mit den Eltern besprochen werden. Überdies würden vorhandene gesetzliche Regelungen ausreichen ([Tab. 5]).

Tab. 5 Häufigkeiten der Gründe, die gegen eine gesetzliche Meldepflicht sprachen, N=20 (Mehrfachnennungen möglich).

Gründe gegen eine gesetzliche Meldepflicht

N

%

Keine Angabe.

4

20,0

Gefährdung der therapeutischen Beziehung und somit Abbruch der psychotherapeutischen Behandlung.

9

45,0

Der Psychotherapeut muss Abwägungsprozess „Schweigepflicht vs. Kinderschutz“ führen können.

2

10,0

Kenntnisse zu Diagnostik und Intervention fehlen.

1

5,0

Keine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Psychotherapeut und Jugendamt möglich.

1

5,0

Die Folgen der Meldung sind für den Psychotherapeuten nicht umfassend abzuschätzen.

1

5,0

Nur dann ist eine Meldung sinnvoll, wenn eine Besserung der Situation für das Kind erfolgt.

1

5,0

Der (Verdacht auf) Kindesmisshandlung sollte zuerst mit den Eltern besprochen werden.

1

5,0

Gesetzliche Regelungen reichen aus.

1

5,0


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Emotionale Misshandlung und emotionale Vernachlässigung – Schwierigkeiten im Erkennen und Einleiten von Interventionen

93,9% der 49 antwortenden KJP gehen aufgrund ihrer intensiven Psychotherapeut-Patient-Beziehung von einer besonderen Verantwortung, aber auch Möglichkeit aus, emotionale Misshandlungen und emotionale Vernachlässigungen erkennen zu können. Dabei fehlen jedoch der Mehrheit klare diagnostische Kriterien, um beide Misshandlungsformen in der Praxis sicher erkennen und voneinander abgrenzen zu können. Etwa die Hälfte der KJP gab an, emotionale Misshandlungen und emotionale Vernachlässigungen nicht eindeutig von unzureichendem Erziehungsverhalten differenzieren zu können.

Ebenfalls circa die Hälfte der KJP schätzt ihre medizinisch/psychotherapeutischen Kenntnisse zu Diagnostik und Intervention bezüglich beider Misshandlungsformen ansonsten als ausreichend ein und sieht auch keine Gefahr, die Eltern fälschlicherweise einer emotionalen Misshandlung oder emotionalen Vernachlässigung zu verdächtigen ([Tab. 6]).

Tab. 6 Emotionale Misshandlung und emotionale Vernachlässigung sind häufige, aber schwer zu erkennende Misshandlungsformen. Meinungen der KJP, N=49.

Meinung zu den folgenden Aussagen

keine Angabe

ja

nein

N

%

N

%

N

%

Die Berufsgruppe der Kinder- und Jugendlichenpsycho-therapeuten hat aufgrund ihrer intensiven Arzt-Patient-Beziehung eine besondere Verantwortung u. Möglichkeit, diese Formen der Misshandlung zu erkennen.

3

6,1

46

93,9

0

0

Es fehlen klare diagnostische Kriterien für emotionale Misshandlung bzw. emotionale Vernachlässigung, die in der Praxis gut nutzbar sind.

1

2,0

41

83,7

7

14,3

Es ist schwer, emotionale Misshandlung bzw. emotionale Vernachlässigung von „nur“ unzureichendem Erziehungsverhalten abzugrenzen.

2

4,1

24

49,0

23

46,9

Mir fehlen differenzierte Kenntnisse zu Diagnostik und Intervention bei emotionaler Misshandlung bzw. emotionale Vernachlässigung.

4

8,2

18

36,7

27

55,1

Gerade bei einem Verdacht auf emotionale Misshandlung bzw. emotionale Vernachlässigung besteht die Gefahr, die Eltern fälschlicherweise zu verdächtigen.

5

10,2

18

36,7

26

53,1


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Voraussetzungen für einen effektiven Kindesschutz in der psychotherapeutischen Praxis

Befragt nach den Voraussetzungen für einen effektiven Kinderschutz in der psychotherapeutischen Praxis gaben 30 KJP – deren Antworten kategorisiert wurden – Auskunft.

16 KJP (53,3%) sehen Fortbildungen mit medizinischen, psychotherapeutischen und medizinrechtlichen Themen als wesentliche Voraussetzung, weitere 13 KJP (43,3%) eine bessere Zusammenarbeit aller Professionen, die im Kinderschutz Verantwortung tragen. Die Aufnahme des Themas bereits in die Psychotherapieausbildung führen 8 KJP (26,7%), eine Vergütung des zusätzlichen Aufwandes (Zusammenarbeit mit anderen Professionen, umfangreiche Elternarbeit) 4 KJP (13,3%) an.

Jeweils 3 KJP (mit jeweils 10,0%) wünschen sich für ihre Arbeit eindeutige medizinrechtliche Vorgaben (z. B. Durchbrechen der Schweigepflicht), eindeutige diagnostische Kriterien (Misshandlungsformen) sowie eine Handlungsanleitung im Umgang mit (Verdachts)Fällen in der psychotherapeutischen Praxis.


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Diskussion

Kindesmisshandlung in der psychotherapeutischen Praxis

Die überwiegende Mehrheit der befragten KJP registrierten mindestens einen (Verdachts)Fall von Kindesmisshandlung, am häufigsten Fälle emotionaler Misshandlung und emotionaler Vernachlässigung. Bei allen 5 Misshandlungsformen zeigte sich die Altersgruppe der 6 bis 13-jährigen besonders stark betroffen, wobei zu vermuten ist, dass diese in einer Praxis für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie überwiegend präsent ist.

Befragungen von Ärzten weisen ebenfalls emotionale Misshandlung und emotionale Vernachlässigung als häufigste Formen von Misshandlung aus [14] [16] [17] und untermauern somit deren hohen Stellenwert in der ärztlichen und psychotherapeutischen Praxis.

Die große Spanne der Anzahl der (Verdachts)Fälle von 0 bis 121 in den einzelnen psychotherapeutischen Praxen kann mit einem individuellen Kenntnisstand medizinrechtlicher und medizinisch/psychotherapeutischer Fragen bei (Verdacht auf) Kindesmisshandlung und mit unterschiedlichen Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt in Zusammenhang stehen. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass die KJP für die Bewertung eines (Verdachts)Falls von Kindesmisshandlung keine einheitlichen Kriterien nutzten. So sind insbesondere die Formen der körperlichen und emotionalen Vernachlässigung aufgrund unscharfer Definitionen von unzureichendem Elternverhalten nur schwer zu differenzieren [17].

Die Ergebnisse hiesiger Untersuchung zeigen, dass (Verdachts)Fälle von Kindesmisshandlung und insbesondere (Verdachts)Fälle von emotionaler Misshandlung und emotionaler Vernachlässigung in der psychotherapeutischen Praxis eine hohe Relevanz aufweisen. Insofern muss die Berufsgruppe der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sowohl im Rahmen der psychologischen Diagnostik als auch durch das Einleiten medizinrechtlicher und medizinisch/psychotherapeutischer Interventionen einen wesentlichen Beitrag zum Kinderschutz leisten. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit vorhandenen Schwierigkeiten in der psychotherapeutischen Praxis ist erforderlich.


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Meldungen an eine Behörde und Gründe für eine unterlassene Meldung

Ausgehend von der Gesamtzahl 416 wurden im Jahr 2016 43 (Verdachts)Fälle und im Bezug auf die Gesamtzahl 416 im Jahr 2017 39 (Verdachts)Fälle an eine Behörde gemeldet.

Die hohe Differenz zwischen Fallzahl und Meldung ist zum einen auf die nicht differenzierte Erfassung der (Verdachts)Fälle, die den Behörden bereits bekannt waren und jene, die die KJP selbst diagnostizierten; zum anderen auf Gründe, die aus der Perspektive der KJP gegen eine Meldung sprachen, zurückzuführen.

Häufigste Gründe, einen (Verdachts)Fall nicht an eine Behörde zu melden, war der Wunsch der Kinder und Jugendlichen in der Therapie Besprochenes nicht weiterzugeben sowie die Sorge vor Behandlungsabbruch seitens der Eltern. Auch abgeleitet aus den Prinzipien des ethischen Handelns in der Medizin muss der KJP seinem Patienten (Kind/Jugendlicher) das Recht auf Selbstbestimmung gewähren; des Weiteren darf er diesem keinen Schaden zufügen.

Ob und inwieweit der KJP dem Wunsch des misshandelten Kindes, Informationen an eine Behörde nicht weiterzugeben, entspricht oder entgegen seinem klar geäußerten Willen die Schweigepflicht durchbricht, ist immer eine Einzelfallentscheidung und obliegt allein seiner Verantwortung. Er sollte jedoch beachten, dass eine Nicht-Weiterleitung von Informationen immer ein Risiko für das Kindeswohl darstellt und in gleicher Weise wie eine Weiterleitung gegen den Willen des Kindes (und der Eltern) die therapeutische Beziehung zu Kind und Eltern negativ beeinflussen kann. Empirischen Befunden entsprechend findet Gewalt gegenüber Kindern am häufigsten innerfamiliär statt [18].

Gerade in diesen schwierigen Situationen benötigt der KJP sichere medizinrechtliche Kenntnisse, um im Interesse des betroffenen Kindes einen adäquaten Abwägungsprozess (Durchbrechen der Schweigepflicht: ja oder nein?) führen zu können. Voraussetzung für den Erwerb notwendiger Kenntnisse ist das Angebot berufsspezifischer, medizinrechtlicher Fortbildungen. Die von den KJP benannten Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt sind in der wissenschaftlichen Diskussion beider Versorgungsbereiche (Medizin, Jugendhilfe) bereits seit mehreren Jahren Gegenstand [14] [16] [19]. Die neue Kinderschutzleitlinie S3 (+) bietet für die Erarbeitung konkreter Maßnahmen einer verlässlichen Zusammenarbeit (z. B. auf Landkreisebene) einen guten Ausgangspunkt [11].

Den Unsicherheiten der KJP (Infolge derer sie einen [Verdachts]Fall nicht melden!), Kindesmisshandlungen zu diagnostizieren und notwendige Interventionen (medizinisch/psychotherapeutische, medizinrechtliche) einzuleiten, kann mit in der psychotherapeutischen Praxis gut nutzbaren Definitionen und Kriterien der einzelnen Misshandlungsformen entgegengewirkt werden. Diese sollten Bestandteile einer berufsspezifischen Leitlinie für ärztliche und nichtärztliche Psychotherapeuten sein. Eine gute Grundlage für deren Entwicklung bieten die von Fegert et al. publizierte Leitlinie [15] sowie die neue Kinderschutzleilinie S3 (+), die ebenfalls auf die Notwendigkeit berufsspezifischer Leitlinien hinweist [11]. Auch Sierau macht auf den Bedarf einheitlicher Bewertungskriterien für die Beurteilung von Kindesmisshandlungen und - vernachlässigungen aufmerksam. Sie präsentiert Vorschläge, die ebenso Eingang finden sollten [20].


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Einstellungen zur gesetzlichen Meldepflicht

Sowohl das seit dem 01.01.2012 geltende KKG (§ 4 Abs. 3) als auch die Berufsordnung der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer (§ 8 Abs. 2) ermächtigen Psychotherapeuten ihre Schweigepflicht zu brechen, eine gesetzliche Meldepflicht wie z. B. in den USA und Österreich gibt es nicht [21] [22].

Über die Weitergabe von Informationen haben Psychotherapeuten unter Berücksichtigung der Folgen für die Patienten und Therapie zu entscheiden; sie müssen, wenn erforderlich ihre Schweigepflicht durchbrechen.

Die befragten Psychotherapeuten sprechen sich mehrheitlich für eine gesetzliche Meldepflicht mit folgenden Begründungen aus: Die betroffenen Kinder sind so besser geschützt und sie selbst von einem schwierigen Abwägungsprozess „Durchbrechen der Schweigepflicht ja oder nein?“ entlastet. Um ihrem Schutzauftrag und ihrer Berufspflicht nachzukommen, müssen KJP diesen Abwägungsprozess sicher führen können. Dafür benötigen sie medizinrechtliche und medizinisch/psychotherapeutische Kenntnisse. Das Ergebnis der Befragung lässt vermuten, dass diese bisher nicht ausreichen.

In der wissenschaftlichen Diskussion um eine gesetzliche Meldepflicht gibt es kontroverse Auffassungen [22] [23] [24], die ergebnisoffen immer wieder diskutiert werden sollten. Entscheidend für einen erfolgreichen medizinischen Kinderschutz ist jedoch die Erfassung und Beseitigung der Hindernisse bei dessen Umsetzung innerhalb der einzelnen Berufsgruppen. Diesen Hinweis geben bereits Maier et al. [25].


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Emotionale Misshandlung und emotionale Vernachlässigung – Schwierigkeiten im Erkennen und Einleiten von Interventionen

Die Mehrheit der antwortenden KJP sind der Auffassung, dass gerade sie aufgrund ihrer Rahmenbedingungen (regelmäßiger Kontakt zu Kind und Eltern über einen längeren Zeitraum) emotionale Misshandlungen und emotionale Vernachlässigungen erkennen müssen. Als Schwierigkeit dabei erweisen sich fehlende verbindliche, in der Praxis gut nutzbare Definitionen und Kriterien der beiden Misshandlungsformen. Dettenborn [10] und Sierau [17] weisen bereits auf die Notwendigkeit definitorischer Bestimmungen für eine sichere Diagnostik und Einleitung von Interventionen hin. Sieraus Definition und Beschreibung emotionaler Vernachlässigung [17], ihre benannten Diagnosekriterien zur Beschreibung der u. a. im ICD-10-GM enthaltenen Subtypen Vernachlässigung und emotionale Misshandlung [20] sowie Dettenborns deskriptive Kategorisierung psychischer Misshandlungen [10] sind gut verwendbare Vorschläge, beide Misshandlungsformen zu erfassen.

Die neue Kinderschutzleitlinie S3(+) [11], die primär für die Anwendung im Bereich der Medizin entwickelt wurde, unterscheidet ebenso wie die Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter die Misshandlungsformen: körperliche Misshandlung, emotionale Misshandlung, körperliche Vernachlässigung, emotionale Vernachlässigung und sexueller Missbrauch. Des Weiteren definiert sie die Formen: emotionale Misshandlung, körperliche Misshandlung sowie sexueller Missbrauch und benennt Merkmale, die auf eine emotionale Misshandlung/Vernachlässigung hinweisen. Auch die hier aufgeführten Definitionen und Merkmale sollten Eingang in die Erarbeitung einheitlicher, gut nutzbarer Kriterien finden.


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Voraussetzungen für einen effektiven medizinischen Kinderschutz in der psychotherapeutischen Praxis

Aus der Perspektive der KJP sind für den Erwerb sicherer Kenntnisse in Diagnostik und Intervention umfassende Angebote medizinisch/psychotherapeutischer und medizinrechtlicher Fortbildungen notwendig. Diese müssen zum einen berufsspezifisch und zum anderen Versorgungsbereich übergreifend ausgerichtet sein. Befragungen der Berufsgruppe der Ärzte kommen zu ähnlichen Ergebnissen [14] [16] [25].

Um ihrer Verantwortung im medizinischen Kinderschutz gerecht werden zu können, benötigen KJP funktionierende Strukturen der Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen und Versorgungsbereichen.

Auch diese wesentliche Voraussetzung benennt bereits die Berufsgruppe der Ärzte [16].

In einem (Verdachts)Fall von Kindesmisshandlung ist das Jugendamt für den KJP wichtigster Ansprechpartner, Kooperationsstrukturen müssen klar und verbindlich – insbesondere auf Landkreisebene – geregelt werden [26] [27]. Der Brandenburger Leitfaden zur Früherkennung von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche unterbreitet Vorschläge für ein strukturiertes und interdisziplinäres Fallmanagement [28]. Aufgrund der Ergebnisse der Befragung ist davon auszugehen, dass diese für die Kooperation zwischen KJP und Fachkräften der Jugendhilfe nicht ausreichend genutzt und auf Landkreisebene weiter konkretisiert werden müssen. Die „Handlungsempfehlungen zu Kooperationen“ der Kinderschutzleitlinie S3(+) geben ebenso für die Erarbeitung und Umsetzung konkreter Maßnahmen gute Hinweise [11].

Medizinisch/psychotherapeutische sowie medizinrechtliche Themen sollten in das Curriculum der Psychotherapieausbildung mit dem Ziel aufgenommen werden, jeden KJP bereits zum Beginn seiner beruflichen Tätigkeit für den medizinischen Kinderschutz zu sensibilisieren und ihm notwendige Kenntnisse und Handlungskompetenzen zu vermitteln [24].

Die Vergütung zeitaufwendiger zusätzlicher Interventionen ist ein Wunsch der KJP, der im Gesundheitsbereich Beachtung finden sollte.

Der nochmalige Hinweis auf klare diagnostische Kriterien der einzelnen Misshandlungsformen zeigt deren Bedeutung für Diagnostik und Intervention.


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Fazit FÜR DIE PRAXIS

(Verdachts)Fälle von Kindesmisshandlungen weisen in der ambulanten psychotherapeutischen Praxis eine hohe Relevanz auf. Emotionale Misshandlungen und emotionale Vernachlässigungen sind besonders schwer zu diagnostizierende Formen. Aufgrund ihrer intensiven Beziehung zum Patienten kann die Berufsgruppe der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten diese gut erkennen. Deren Beitrag für eine bessere Versorgung der von Misshandlung betroffenen Kinder ist jedoch an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Sowohl eine sichere medizinisch/psychotherapeutische Diagnostik als auch ein verantwortungsvoller Abwägungsprozess („Durchbrechen der Schweigepflicht ja oder nein?“) erfordern verbindliche und in der Praxis gut nutzbare Definitionen und Kriterien der einzelnen Misshandlungsformen. Diese sollten Eingang in eine berufsspezifische Leitlinie für ärztliche und nichtärztliche Psychotherapeuten finden.

Notwendige medizinisch/psychotherapeutische und medizinrechtliche Kenntnisse müssen durch ein größeres (berufsspezifisches) Fortbildungsangebot und die Aufnahme beider Themenschwerpunkte in die Psychotherapieausbildung erworben werden. In der psychotherapeutischen Praxis ist die Kooperation mit der Jugendhilfe von besonderer Bedeutung. Aus den Ergebnissen der vorhandenen wissenschaftlichen Studien sowie aus der neuen Kinderschutzleitlinie müssen Versorgungsbereich übergreifende (Medizin, Jugendhilfe, Pädagogik) konkrete Maßnahmen auf Landkreisebene für eine verlässliche Zusammenarbeit abgeleitet und umgesetzt werden.

Die wissenschaftliche Diskussion um eine gesetzliche Meldepflicht sollte weiterhin offen geführt werden. Entscheidend für einen qualitativ besseren medizinischen Kinderschutz ist jedoch die Erfassung und Beseitigung berufsspezifischer Hindernisse.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

PD Dr. med. Sven Hartwig
Institut für Rechtsmedizin
Charité Universitätsmedizin Berlin
Turmstraße 91
10117 Berlin

Publication History

Received: 25 June 2019

Accepted: 22 November 2019

Article published online:
15 January 2020

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