Krankenhaushygiene up2date 2020; 15(02): 103-104
DOI: 10.1055/a-1123-1446
Editorial

Das „MRSA-Isolierungs-Dogma“ – Glaubensfrage oder Wissenschaftsdiskurs?

Rasmus Leistner
,
Sebastian Lemmen

Vor 120 Jahren bekämpfte Robert Koch die Typhus-Epidemie in preußisch-militärischer Manier. Typhus-„Verdächtige“ wurden teilweise unter Zwang isoliert, untersucht und behandelt. Im Rahmen dieser großangelegten Typhus-Kampagne wurde eine Reduktion der Krankheitshäufigkeit um 50 % verzeichnet. Dieses Ergebnis bestärkte Koch in seiner Theorie, weshalb er das Prinzip auf alle Infektionskrankheiten übertrug. Die sog. „Seuchenbekämpfung nach den Prinzipien Kochs“ wurde daraufhin 1906 durch eine Anweisung des preußischen Gesundheitsministers verfestigt. Damit wurde es ermöglicht, sog. Ansteckungs- und Krankheitsverdächtige unter polizeilichem Zwang zu isolieren und Desinfektionsmaßnahmen einzuleiten. Mit dem fraglichen Erreger kolonisierte Menschen waren in dieser Vorstellung Vehikel zur Verbreitung von Bakterien und eine Gefahr für die Gesellschaft. Als in den 1960er-Jahren Methicillin-resistente S. aureus (MRSA) zum ersten Mal beschrieben wurden, kam dieses Verständnis ebenfalls zur Anwendung. MRSA wurde als „der Krankenhauskeim“ etabliert, dem man nur Herr werden könne, indem konsequent alle Träger in Einzelzimmer-Isolierung unter Verwendung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA) hospitalisiert wurden.

Es gibt in der modernen Medizin immer noch eine Mehrzahl von medizinischen Anwendungen, die sich kulturell etabliert haben, deren Kosten-Nutzen-Verhältnis aber einer gründlichen wissenschaftlichen Überprüfung entbehrt. John Ioannidis et al. konkretisieren in ihrem Artikel Voraussetzungen für die Überprüfung fraglich sinnvoller medizinischer Maßnahmen und verlangen konsequent die De-Implementierung nachweislich sinnloser Interventionen [1]. Eine wissenschaftliche Überprüfung sollte erfolgen, wenn in Bezug auf das Thema eine (a) schwache Evidenz, (b) alternative Behandlungsstrategien, (c) klar erkennbare Nebenwirkungen bzw. Nachteile, (d) hohe Kosten für das Gesundheitswesen und (e) die Möglichkeit einer effizienten wissenschaftlichen Überprüfung der Intervention besteht. In ihrem Lancet-Kommentar “Screening and isolation to control MRSA: sense, nonsense and evidence” rufen Gerd Fätkenheuer und Stephan Harbarth ebenfalls dazu auf, das Konzept der MRSA-Kontaktisolierung zu überprüfen [2]. Angesichts des Rückgangs von MRSA, besseren Behandlungsmöglichkeiten, Dekolonisationsmaßnahmen und verbesserter Händehygiene muss neu bewertet werden, ob MRSA-Kontaktisolierung noch in einem angemessenen Verhältnis zum potenziellen Schaden steht.

Weltweit sind die MRSA-Prävalenz und -Infektionsinzidenz seit Jahren rückläufig. Dies wird häufig auf die konsequent durchgeführten Isolierungsmaßnahmen zurückgeführt und spricht damit gegen deren Aufweichung. Dieser Zusammenhang ist allerdings sehr fragwürdig. MRSA geht auch in Regionen zurück, in denen nie MRSA-Isolationsmaßnahmen praktiziert wurden. So sind MRSA-Infektionsraten in Südfrankreich zwischen 2001 und 2015 von 31 % auf 17 % gefallen, ohne dass in diesen Regionen MRSA-Isolierungsmaßnahmen durchgeführt wurden [3]. Eine weitere Erklärungsmöglichkeit ist ein für Mikrobiologen lange bekanntes Phänomen: Der Zusammenhang zwischen antimikrobieller Resistenz und bakterieller Fitness [4]. Letzteres ist die evolutionsbiologische Stärke eines Erregers, also das Potential, sich gegen Erreger durchzusetzen, mit denen um Lebensraum und Nahrungsmittel konkurriert wird. Dänische Wissenschaftler konnten Hinweise für dieses Phänomen als Erklärung für den Rückgang von MRSA in ihrem Land nachweisen [5]. Eine finale Erklärung wird man vielleicht nie finden, dennoch ist es notwendig, in dieser veränderten epidemiologischen Situation alte Strategien neu zu bewerten.

Eine Studie, die die Wirksamkeit der vertikalen Strategie „MRSA-Kontaktisolierung im Einzelzimmer“ untersucht, ist die von unserer Arbeitsgruppe geplante „ISO-ADE“-Studie. Diese wird als cluster-randomisierte, multizentrische Studie mit „stepped-wedge“-Design, also einem hochwertigen Studiendesign, durchgeführt. Sie entspricht damit einer RCT-Studie und ermöglicht eine valide wissenschaftliche Bearbeitung der Fragestellung. Durch die Einführung horizontaler Infektionspräventionsmaßnahmen als Ersatz für die vertikale Strategie der MRSA-Isolierung können beide Strategien und ihr Einfluss auf die nosokomiale MRSA-Inzidenz überprüft.

Im Dezember 2019 hat die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene in einem offenen Brief dazu aufgerufen, nicht an der Studie teilzunehmen. Zu den hier angebrachten Kritikpunkten haben wir in einem offenen Brief Stellung bezogen. Drei weitere Fachgesellschaften, die DGHM (Deutsche Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie), die DGI (Deutsche Gesellschaft für Infektiologie) und die DSG (Deutsche Sepsis Gesellschaft) haben die Durchführung der Studie explizit befürwortet. In unserem Verständnis lebt wissenschaftlicher Fortschritt von einer objektivierten Auseinandersetzung. Eine solche inhaltlich zentrierte Reibung ist wichtig, um neue Erkenntnisse zu erzeugen. Für einen nachhaltigen wissenschaftlichen Diskurs ist bei mangelhafter Evidenz die Erzeugung von Daten auf Basis hochqualitativer Studien notwendig. Die DFG-Leitlinien zu guter wissenschaftlicher Praxis formulieren dies explizit: „Qualitativ hochwertige Wissenschaft orientiert sich an […] der Gewinnung von Erkenntnissen und ihrer kritischen Reflexion […].“ Wir fühlen uns diesem Grundsatz verpflichtet und werden die Studie (unserem Berufsethos von jeher entsprechend) ergebnisoffen und unabhängig durchführen.

ISO-ADE läuft – unter Vorbehalt weiterer COVID-19-bedingter Änderungen – noch bis 04/2023. Durch die sog. Corona-Krise musste der Beginn der Studie aktuell auf das Ende des Jahres verschoben werden, weshalb eine Teilnahme für interessierte Krankenhäuser weiterhin möglich ist. Sie finden die angesprochenen Stellungnahmen, das Studienprotokoll unsere Kontaktadressen und noch weitere Informationen unter www.iso-ade.de. Wir freuen uns über das rege Interesse an unserer Studie ISO-ADE, hoffen, Sie finden ähnlich spannende Themen in dieser Ausgabe von Krankenhaushygiene up2date und wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen.



Publication History

Article published online:
02 June 2020

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York

 
  • Literatur

  • 1 Prasad V, Ioannidis JP. Evidence-based de-implementation for contradicted, unproven, and aspiring healthcare practices. Heidelberg, Berlin: Springer; 2014
  • 2 Fatkenheuer G, Hirschel B, Harbarth S. Screening and isolation to control meticillin-resistant Staphylococcus aureus: sense, nonsense, and evidence. Lancet 2015; 385: 1146-1149
  • 3 Rolain J-M, Abat C, Brouqui P. Worldwide decrease in methicillin-resistant Staphylococcus aureus: do we understand something?. Clinical Microbiology and Infection 2015; 21: 515-517
  • 4 Beceiro A, Tomás M, Bou G. Antimicrobial resistance and virulence: a successful or deleterious association in the bacterial world?. Clinical microbiology reviews 2013; 26: 185-230
  • 5 Nielsen KL, Pedersen TM, Udekwu KI. et al. Fitness cost: a bacteriological explanation for the demise of the first international methicillin-resistant Staphylococcus aureus epidemic. The Journal of antimicrobial chemotherapy 2012; 67: 1325-1332