Es muss dabei keine körperliche Höchstleistung erbracht werden. Belastungen nach dem
Motto „Laufen ohne Schnaufen“ bringen bereits gute Gesundheitsergebnisse. Neben einer
Bewegung von einer halben Stunde pro Tag möglichst zusätzlich zur Alltagstätigkeit
wird als effektiver Ansatz auch die Ausweitung der Chancen für Bewegung im Rahmen
der Alltagstätigkeiten empfohlen.
Nach den Empfehlungen der American Diabetes Association (ADA) aus dem Jahr 2019 sollen
sich Erwachsene mit Diabetes 150 Minuten und mehr in moderater bis hoher Intensität
pro Woche bewegen.
Die Bewegung sollte verteilt sein auf mindestens 3 Tage, wobei nicht mehr als 2 bewegungsarme
Tage hintereinander liegen sollten. Außerdem wird empfohlen, 2- bis 3-mal pro Woche
Krafttraining durchzuführen, aber nicht an aufeinanderfolgenden Tagen. Sitzphasen
sollen alle 30 Minuten unterbrochen werden. Jüngere können die Trainingszeit auf 75 Minuten/Woche
durch intensivere Aktivität verkürzen. Für Ältere wird 2- bis 3-mal pro Woche zusätzlich
Flexibilitäts- und Gleichgewichtstraining empfohlen. Auch alternative Sportarten wie
Yoga und Tai-Chi können geeignet sein. Zur Adipositasbehandlung sind Bewegungsumfänge
von 200–300 Minuten pro Woche und ein Energiedefizit von ca. 500–750 kcal/Tag anzustreben
[5].
Diese Praxisleitlinie soll die pathophysiologischen Hintergründe und therapeutischen
Optionen zur Bedeutung von körperlicher Aktivität in der Therapie des Diabetes mellitus
in Grundzügen umreißen und praktische Empfehlungen für die Umsetzung bei Typ-1- und
Typ-2-Patienten geben.
Physiologie des muskulären Glukosestoffwechsels
Physiologie des muskulären Glukosestoffwechsels
Kontraktionen der peripheren Skelettmuskulatur erhöhen den muskulären Energieverbrauch.
In Abhängigkeit von der Belastungsintensität und -dauer kann dieser auf das 8- bis
10-Fache des Ruhebedarfs ansteigen. Wird der Energieverbrauch unter Ruhebedingungen
primär durch die Oxidation freier Fettsäuren gedeckt, so wird unter körperlicher Belastung
der Energiebedarf vermehrt durch Glykolyse und bei länger andauernder Muskelarbeit
ergänzend durch β-Oxidation von freien Fettsäuren gedeckt. Zu Beginn der körperlichen
Belastung wird zunächst intramuskuläre Glukose verbraucht, die aus dem Abbau der muskulären
Glykogenreserven stammt. Ergänzend gelangt Glukose über eine Steigerung des transmembranösen
Glukosetransports aus dem Blut in die Muskelzelle. Dies erfolgt durch eine Translokation
von Glukosetransportern, im Fall der Muskulatur GLUT-4, vom endoplasmatischen Retikulum
an die Muskelzellmembran, ein Vorgang, der insulinunabhängig ist und durch Muskelmembrankontraktion
induziert wird. Die Eigenkontraktion der Muskelfasern entspricht somit der physiologischen
Wirkung des Insulins. So kann auch bei Insulinresistenz wie bei Typ-2-Diabetes eine
Steigerung des transmembranösen Glukosetransports ermöglicht und eine Senkung des
Glukosespiegels induziert werden [6].
Der durch die Muskelarbeit bedingte systemische Glukoseabfall wird durch eine präzise
und adäquate Steigerung der hepatischen Glukosefreisetzung ausgeglichen, wenn keine
gleichzeitige Glukoseresorption aus der Nahrung zur Verfügung steht. Die Steigerung
dieser Freisetzung wird im Wesentlichen durch eine Hemmung der pankreatischen Insulinsekretion
und des daraus resultierenden Abfalls des Insulinspiegels im Pfortaderblut bewirkt.
Unterstützend und modulierend wirken dabei die kontrainsulinären Hormone (Glukagon,
Katecholamine und Cortisol). Fehlen Hormone wie Glukagon nach Zelluntergang wie bei
der Pankreatitis, ist diese Gegenregulation aufgehoben, und dies kann zu schwerwiegenden,
z. T. letalen Hypoglykämien führen.
Diese hepatischen und muskulären Energiespeicher werden während und nach Beendigung
der Muskelarbeit wieder aufgefüllt. In Abhängigkeit vom Entleerungsgrad kann die Glukoseaufnahme
in die Muskulatur noch bis zu 48 Stunden nach Ende der Muskelarbeit erhöht sein, was
für die medikamentöse Einstellung und Reduktion der Insulindosis von Bedeutung ist.
Intensive und zeitlich lange Belastungen der Muskulatur wie exzentrische Belastungsformen
(z. B. Bergabgehen über mehrere Stunden beim Wandern) führen zu starken Entleerungen
der muskulären Speicher. Gleichzeitig kann es durch diese Belastungsform zu Schädigungen
der Muskelmembran inklusive der Insulinrezeptoren kommen, was sich in einer verstärkten
Insulinresistenz widerspiegelt und ein Auffüllen der muskulären Glukosespeicher protrahiert.
Nutzen und Nachteile von körperlicher Aktivität bei Typ-1-Diabetes
Nutzen und Nachteile von körperlicher Aktivität bei Typ-1-Diabetes
Pathophysiologie
Bei Patienten mit Typ-1-Diabetes fehlt die pankreatische Insulinsekretion, die exogen
substituiert werden muss. Mit jeder Insulininjektion kommt es zu einem relativen Insulinüberschuss,
der die muskuläre Glukoseaufnahme steigert, gleichzeitig aber die hepatische Glukosefreisetzung
blockiert. Daraus resultiert ein Abfall des Blutglukosespiegels, der bei erhöhtem
Ausgangsserumwert erwünscht ist, aber bei längerer Dauer der körperlichen Aktivität
und bei bereits zu Beginn der Muskelarbeit bestehender Normoglykämie rasch unerwünschte
Hypoglykämien zur Folge hat. Deshalb ist die genaue Abstimmung aus Bewegungssteigerung
und Reduktion der Insulindosis von zentraler Bedeutung.
Zu Problemen kann es ebenfalls kommen, wenn körperliche Aktivität ausgeübt wird und
bereits länger ein Mangel an Basisinsulin vorherrscht, weil unter Ruhebedingungen
ohne Insulin eine Aufnahme von Glukose in die periphere Muskulatur kaum möglich ist.
Das Auslassen von Insulininjektionen oder Katheterokklusionen bei Insulinpumpentherapie
führen zu absolutem, Infekte zu relativem Insulinmangel. Dieser induziert eine Steigerung
der kontrainsulinären Hormone mit Steigerung der hepatischen Glukosefreisetzung. Da
gleichzeitig die Glukoseaufnahme in die Muskulatur eingeschränkt ist, steigt der Serumglukosespiegel
an. Aufgrund der reduziert verfügbaren intramuskulären Glukose wird bei gesteigertem
Energiebedarf der arbeitenden Muskulatur dieser dann primär durch freie Fettsäuren
gedeckt, was die Entstehung einer Ketoazidose bei Insulinmangel während Muskelarbeit
erklärt.
Konsequenzen für sportliche Aktivität bei Typ-1-Diabetes
-
Sport und Spiel sind für alle Menschen ein Stück Lebensqualität und insbesondere für
Kinder und Jugendliche ein wichtiges sozialintegratives Moment, das auch bei Typ-1-Patienten
gefördert werden sollte.
-
Regelmäßige sportliche Aktivität spielt auch bei Patienten mit Typ-1-Diabetes eine
wichtige Rolle zur Verbesserung des kardiovaskulären Risikoprofils [7].
-
Allerdings führen körperliche Aktivität und Training zu verstärkten Glukoseschwankungen
während und nach körperlicher Belastung.
-
Ein körperliches Training kann dann uneingeschränkt empfohlen werden, wenn Insulininjektion,
Glukoseaufnahme über die Nahrung und Energieumsatz durch körperliche Aktivität präzise
aufeinander abgestimmt werden. So kann regelmäßige körperliche Aktivität – möglichst
uniform und täglich – vergleichbare Stoffwechseleffekte induzieren und somit die Glukoseregulation
langfristig optimieren, während sporadische Belastungen gerade bei ungeschulten und
unerfahrenen Patienten unweigerlich zu Stoffwechselkapriolen führen.
-
Aufgrund der individuellen Unterschiede im Ansprechen 1. des muskulären Glukosestoffwechsels
auf körperliche Belastung, 2. des Glukoseanstiegs nach Nahrungsaufnahme, 3. der Insulinreaktion
nach Injektion sowie 4. des körperlichen Trainingszustands der Muskulatur und des
gesamten Organismus ist eine praktische Wissensvermittlung und Schulung inklusive
der Ermittlung der individuellen Anpassung von zentraler Bedeutung [8].
In [
Abb. 1
] werden die verschiedenen Belastungsformen (aerob, gemischt aerob-anaerob und anaerob)
dargestellt mit dem jeweiligen Einfluss auf den Blutglukosespiegel unter Belastung.
(Längere) Belastungen im aeroben Intensitätsbereich induzieren primär eine Hypoglykämie,
wenn keine Anpassung der Insulindosis bzw. Kohlenhydratzufuhr erfolgt. Klassische
aerobe Sportarten sind Walken, Wandern, Radfahren, Schwimmen, Langlaufen etc., die
mit moderater Intensität über eine gewisse Dauer absolviert werden. Bei intensiven
anaeroben Aktivitäten, wie z. B. Sprints, kommt es dagegen durch die Freisetzung von
Katecholaminen gewöhnlich zu einem Anstieg des Blutzuckers. Spielsportarten sind gekennzeichnet
durch einen Wechsel von geringer, moderater und hoher Intensität. Dabei wird meist
durch die unterschiedlichen Intensitäten eine stabile Blutzuckerlage erzielt.
Abb. 1 Verschiedene Belastungsarten (aerob, gemischt aerob-anaerob, anaerob) und der jeweilige
Glukosetrend. Daten nach [9].
Grundsätzlich muss beachtet werden, dass es trotz eines anaerob induzierten Anstiegs
des Blutzuckerspiegels während der Belastung in der Nachbelastungsphase zu einer auch
protrahierten (nächtlichen) Hypoglykämie kommen kann und Kohlenhydratzufuhr und Insulindosis
dementsprechend angepasst werden müssen. Die konkrete Blutzuckerantwort jedes Einzelnen
ist jedoch abhängig von vielen Faktoren und muss bei Neubeginn von sportlicher Aktivität
durch regelmäßige Blutzuckermessungen sowohl während als auch bis zu 12 h nach der
Aktivität erfasst werden.
Praxis der Prävention sportinduzierter Komplikationen: Basisregeln
-
Da es nur grobe Dosis-Wirkungs-Beziehungen gibt, müssen individuelle Anpassungsregeln
für jeden Patienten erarbeitet werden.
-
Dazu sollten bei sportlicher Aktivität regelmäßig Blutzuckerprofile erstellt und zusammen
mit Insulindosis, Injektions-Trainingszeit-Abstand, Zusatzkohlenhydraten und Belastungsform
(Ausdauer-, Krafttraining, Intensität, Trainingspuls) in einem Sporttagebuch protokolliert
werden. Dieses Protokoll bildet die Basis für die Analyse individueller Stoffwechselreaktionen
beim Sport, dient zur Sammlung von Erfahrungen und hilft bei der Therapieoptimierung
mit dem Ärzte- oder Diabetesteam.
-
Bei Blutzuckerwerten > 13,9 mmol/l (250 mg/dl) und Ketonämie (Blutazeton > 1,1 mmol/l)
und Ketonurie (Azeton im Urin) liegt ein starker Insulinmangel vor. Dieser muss durch
Insulinsubstitution behoben werden, bevor Muskelarbeit begonnen oder fortgesetzt wird.
-
Optimalerweise sollte eine Ergometrie inklusive Laktattestung oder Spiroergometrie
zur Bestimmung des aeroben und anaeroben Stoffwechsels erfolgen. Aufgrund der Bestimmung
dieser Stoffwechselgrenzen und der assoziierten Pulsfrequenzen können dezidierte Trainingsempfehlungen
gegeben werden.
-
Belastungen im aeroben Bereich führen primär zu einer Hypoglykämie, anaerobe Belastungen
zu einer Hyperglykämie. Bei dieser letzten, intensiven Belastungsform werden vermehrt
Katecholamine freigesetzt, die unter Belastung zu Blutglukoseanstiegen führen, in
der Nachbelastungsphase, gerade jenseits von 6 h, aber besonders Hypoglykämien begünstigen
können. Dabei muss vor allem auch auf nächtliche Hypoglykämien geachtet werden.
-
Beim Sport immer ein SOS-Sportset (z. B. Traubenzucker, Glukosegels, Softdrinks, Saft)
mitführen, um bei Hypoglykämie sofort reagieren zu können.
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Lange Belastungen im Wasser wie Langdistanzschwimmen, die eine Blutzuckerkontrolle
unmöglich machen, sind zu vermeiden.
-
Sportkameraden, Freunde, Trainer, Lehrer über Hypoglykämierisiko und Gegenmaßnahmen
informieren.
-
Umgebungsbedingungen (Hitze, Kälte) und Höhe müssen mitberücksichtigt werden, da diese
die Interaktion zwischen Insulin, Glukose, Glukagon und Katecholaminen beeinflussen.
In diesen Fällen sind häufigere Blutzuckerkontrollen indiziert.
Dosisfindung für Insulin und Zusatzkohlenhydrate
Für die Festlegung der Insulindosisreduktion und zusätzlicher Kohlenhydrate beim Sport
müssen folgende Faktoren berücksichtigt werden [8], [9], [10], [11], [12], [13]:
-
Alter
-
kardiovaskuläre Risikofaktoren und Erkrankungen
-
Diabeteskomplikationen
-
Medikation
-
Trainingszustand
-
Art, Intensität und Dauer der Muskelarbeit
-
Krafttraining senkt den Glukosespiegel in der Nachbelastungsphase stärker als Ausdauertraining.
-
Einflüsse auf Insulinverfügbarkeit durch Umgebungstemperatur, Injektionsort und -zeitpunkt
des Insulins, Art des Insulinpräparats (Normalinsulin, Basalinsulin, Mischinsulin,
Insulinanaloga), Höhe der Insulindosis, Art der Therapieform (CT, ICT, CS II)
-
Höhe des aktuellen Blutzuckers vor der Bewegung: Optimal sind Ausgangswerte von 120–180 mg/dl.
-
Zeitpunkt der letzten Mahlzeit vor der Bewegung
-
Art und Menge der aufgenommenen Kohlenhydrate
-
Vor mehrstündigem und ganztägigem Sport Normal- und Basalinsulin bis zu 50 % reduzieren,
da die Auffüllung der muskulären Glykogendepots bis zum Folgetag dauern kann. Gleichzeitig
sollte eine Kohlenhydratzufuhr nach dem Sport erfolgen.
-
Bei Sport von kurzer Dauer und geringer Intensität nur zusätzliche Kohlenhydrate (sog.
Sport-BE) zuführen.
-
Bei Sport in der Wirkungszeit des Bolusinsulins dieses um 25–75 % reduzieren.
-
Wenn die Verminderung der Insulindosis nicht möglich ist, müssen wiederholt (alle
20–30 min) zusätzliche Kohlenhydrate in kleinen Mengen (1–2 KHE) mit hoher Energiedichte
getrunken oder gegessen werden.
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Mehrere Portionen von 1–2 KHE sollen auf den Zeitraum vor, während und nach der Bewegung
verteilt werden.
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In Abhängigkeit von Dauer und Intensität können Zusatzkohlenhydrate von insgesamt
8 KHE oder mehr erforderlich sein. Geeignet sind Cola, Fruchtsäfte, Müsliriegel, Obst
und Brot.
-
Zur Senkung der Hypoglykämiegefahr bei langandauernden Belastungen sind kurze Sprints
vor, während oder nach der Belastung zu empfehlen, da kurze intensive Intervalle den
Blutzuckerspiegel kurzfristig erhöhen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass diese
intensiveren Belastungen zu einer protrahierten Blutzuckerreduktion führen können.
-
Auf ausreichende Flüssigkeitszufuhr muss immer geachtet werden. Erhöhte Blutzuckerwerte
erfordern eine zusätzliche Steigerung der Flüssigkeitszufuhr, um eine Dehydrierung
zu vermeiden.
Prävention sportinduzierter Komplikationen bei der Therapie mit einer Insulinpumpe
-
Für Reduktion des Mahlzeitenbolus und zusätzlicher Kohlenhydrate: gleiche Regeln wie
bei traditioneller Insulininjektionstechnik
-
Bei Sport von mehr als 1–2 h Halbierung der Basalrate bei Normalinsulin 2 h und bei
Analoginsulin ca. 1 h vor Sportbeginn, dann je nach Dauer und Intensität
-
Bei Ablegen der Pumpe für mehr als 2–4 h Umstellung auf traditionelle Insulintherapie,
Reduktion der Basalrate um 10–50 % bis zu 14 h
Prävention sportinduzierter Komplikationen bei der Therapie mit Insulinanaloga
-
Bei Sportbeginn bis zu 3 h nach Insulininjektion und einer Mahlzeit Reduktion kurz
wirkender Insulinanaloga um 25–75 %
-
Bei Sportbeginn mehr als 3 h nach Insulininjektion und einer Mahlzeit keine Reduktion
kurz wirkender Insulinanaloga, bedarfsweise zusätzliche Kohlenhydrate
-
Bei kurzzeitigem Sport keine Reduktion lang wirkender Insulinanaloga; ggf. zusätzliche
Kohlenhydrate bzw. Reduktion kurzwirksamer Insuline zur Vermeidung von Hypoglykämien
-
Vor ganztägigen körperlichen Aktivitäten Reduktion von langwirksamen Insulinanaloga
(Glargin) um 20–40 % und danach um 10–20 %
Besonderer Hinweis zum Wettkampf- und Extremsport bei Typ-1-Diabetes
Patienten mit Typ-1-Diabetes können im Grunde jegliche Sportart auch als Wettkampf-
oder Leistungssport ausüben. Allerdings sind Sportarten, bei denen das Risiko von
Bewusstseinsstörungen/eingeschränkter Urteilsfähigkeit infolge evtl. Hypoglykämien
erhöht ist (z. B. Tauchen, Fallschirmspringen, Extremklettern, Skitouren in großer
Höhe, Wildwasserkanufahren oder Drachenfliegen) nicht geeignet. Falls diese Sportarten
doch durchgeführt werden, erfordern sie eine langjährige persönliche Erfahrung des
Patienten, besonders sorgfältiges Verhalten, individuelle Planung und eine intensive
Schulung.
Nutzen und Nachteile von Muskelarbeit bei gestörter Glukosetoleranz/Typ-2-Diabetes
Nutzen und Nachteile von Muskelarbeit bei gestörter Glukosetoleranz/Typ-2-Diabetes
Pathophysiologie
Die grundlegende pathophysiologische Störung bei Patienten mit gestörter Glukosetoleranz
und Typ-2-Diabetes mellitus ist eine gestörte Insulinsensitivität, häufig in Verbindung
mit einer relativen Reduktion der pankreatischen Insulinsekretion. Ursachen dafür
sind Bewegungsarmut und hyperkalorische Ernährung. Maßnahmen, die eine Steigerung
der Insulinsensitivität induzieren, wie regelmäßige muskuläre Belastung, bieten eine
kausale therapeutische Option. Jede Bewegung der Muskelfasern steigert den transmembranösen
Glukosetransport durch Stimulation der Translokation von Glukosetransportern wie GLUT-4
aus intrazellulären Kompartimenten wie dem endoplasmatischen Retikulum an die Muskelzellmembran.
Diese führt zur Blutzuckersenkung unter körperlicher Belastung, ein Vorgang, der unabhängig
vom regulären Glukoseaufnahmeweg über den Insulinrezeptor vermittelt wird [6].
Dieser akute Prozess, der bereits nach 20–30 min zu beobachten ist, kann durch ständige
Wiederholung von Muskelarbeit wie durch Ausdauer- oder Krafttraining verstetigt werden.
Ergänzend sind weitere Mechanismen wie eine stärkere Insulinbindung an muskuläre Insulinrezeptoren
wie auch eine Zunahme der Zahl der muskulären Insulinrezeptoren ebenso wie eine gesteigerte
Aktivität von Enzymen des Energiestoffwechsels und die Zunahme der muskulären Kapillardichte
beteiligt [6].
Therapeutischer Nutzen
Lebensstilmaßnahmen mit Ernährungsumstellung und Erhöhung der körperlichen Aktivität
zur Gewichtsreduktion sind essenziell für übergewichtige Patienten mit Diabetes mellitus
Typ 2 und können zu einer Remission der Erkrankung führen. Übergewichtige Diabetespatienten,
die in einem normalen hausärztlichen Setting betreut werden, können durch eine Kalorienreduktion
(hypokalorischer Mahlzeitenersatz über 3 Monate mit 836 kcal/Tag) mit anschließendem
Wiederaufbau von normaler Kost und Empfehlung zu einer Aktivität von optimalerweise
15000 Schritten pro Tag deutlich an Gewicht abnehmen und eine Remission des Diabetes
erzielen [14]. In einer randomisierten Interventionsstudie hatte fast die Hälfte der Patienten
(46 %) nach einjähriger Intervention keinen Diabetes mellitus mehr und fast ein Viertel
der Patienten (24 %) hatte eine Gewichtsabnahme von ≥ 15 kg erzielt. Auch in der Langzeitauswertung
nach 2 Jahren konnten diese positiven Daten bestätigt werden: Fast ein Drittel der
Patienten war immer noch in Remission [15].
Lebensstilmaßnahmen zur Gewichtsreduktion sind für übergewichtige Patienten mit Diabetes
mellitus Typ 2 als essenzielle Therapie zu sehen.
-
Bei bestehendem Typ-2-Diabetes bewirkt die Kombination aus regelmäßigem Ausdauer-
und Krafttraining die größten Effekte auf HbA-Werte. Reduktionen von 0,8–0,9 % zusätzlich
zur medikamentösen Therapie sind im Durchschnitt zu erwarten [16], [17].
-
Das kardiovaskuläre Risikofaktorenprofil bei Insulinresistenz und Metabolischem Syndrom
kann durch Lebensstilumstellung signifikant verbessert werden [18], [19].
-
Unklar sind die Effekte einer Lebensstilumstellung auf die kardiovaskuläre Ereignisrate.
Makrovaskuläre Effekte konnten bei adipösem Typ-2-Diabetes nicht verbessert werden,
während mikrovaskuläre Komplikationen eindeutig reduziert werden konnten [18], [20].
-
Die positiven Effekte körperlichen Trainings auf den muskulären Glukosetransport halten
nach Beendigung des Trainings nur wenige Tage an. Um einen dauerhaften positiven Therapieeffekt
zu erreichen, ist eine muskuläre Belastung von mindestens 3x/Woche notwendig. Eine
lebenslange Umstellung auf einen aktiven Lebensstil mit regelmäßiger Bewegung ist
erforderlich.
Hindernisse auf dem Weg zu einem aktiven Lebensstil
Ein grundlegendes Problem besteht darin, dass die Mehrzahl aller Typ-2-Diabetespatienten
älter als 60 Jahre ist und wegen erhöhter Morbidität und Risikofaktoren (koronare
Herzkrankheit, Herzinsuffizienz, periphere arterielle Verschlusskrankheit, periphere
diabetische Neuropathie, proliferative diabetische Retinopathie, arterielle Hypertonie),
Immobilität und fehlender Motivation nicht oder nur eingeschränkt an Bewegungsprogrammen
teilnehmen kann. Allerdings ist gerade in diesen Fällen der Nutzen körperlicher Aktivität
besonders evident.
-
Bewegungsprogramme sollten vor allem dazu genutzt werden, Freude an der Bewegung zu
wecken und den Einstieg in einen aktiven Lebensstil zu ermöglichen.
-
Um bei älteren Menschen Erfolg zu haben, müssen Bewegungsprogramme deren körperliche
Fähigkeiten, altersbedingten Leistungsabbau, krankheitsbedingte Beeinträchtigungen,
ihre Interessen, ihre sozialen Bindungen und vor allem ihre Lebensgewohnheiten berücksichtigen.
-
Konkrete Empfehlungen im Sinne eines Trainingsplans sind essenziell. Dieser sollte
sowohl die Art als auch die Dauer und Intensität der Belastung vorgeben. Wichtig ist
zu Beginn, dass Empfehlung zum Sport und ggf. erste Übungsanleitungen möglichst durch
den behandelnden Arzt oder Diabetesberater stattfinden. Dies erhöht die Glaubwürdigkeit
der Bewegungstherapie als einen wesentlichen Teil der Gesamttherapie.
-
Bewegungsprogramme sind dann zum Scheitern verurteilt, wenn sie die potenziellen Teilnehmer
körperlich und psychisch überfordern. Dies ist gerade zu Beginn des Trainings innerhalb
der ersten 6 Wochen von zentraler Bedeutung, denn zumeist ist das Belastungsniveau
extrem niedrig und umfasst nur wenige 100 m.
-
Entscheidend zu Beginn des Trainings ist die Regelmäßigkeit, auch wenn es nur 5 min
am Tag sind. Steigerung der Dauer und Intensität ist in den ersten Wochen nachrangig
und kann individuell angepasst werden. Als grobe Faustregel kann eine Steigerung der
Dauer um 1 min pro Trainingseinheit pro Woche angenommen werden (Prinzip: „Start low
– go slow“).
-
Bewegungsprogramme, die diese Prinzipien nicht berücksichtigen, können eher schaden,
wenn sie organische Schäden auslösen und Minderwertigkeits- oder Schuldgefühle wecken
oder verstärken.
-
Bewegungsprogramme können Keimzelle für neue Freundeskreise werden, in denen Wandern,
Nordic-Walking, Radfahren, Schwimmen, Gymnastik oder andere Ausdauersportarten gepflegt
werden. Diese Gemeinschaft verstärkt die Adhärenz zu den Programmen.
-
Bewegungsprogramme für Diabetespatienten werden auch im Rahmen von ambulanten Diabetesgruppen
angeboten, können aber auch in ambulante Herzsportgruppen integriert werden. Letztere
sind besonders für Diabetespatienten mit Herzerkrankungen sinnvoll.
Chancen und Möglichkeiten der digitalen Welt im Kontext Bewegung
Die Nutzung der kontinuierlichen Glukosemessung mit und ohne Insulinpumpentherapie
hat viele Patienten in die Lage versetzt, die metabolische Kontrolle bei Bewegung
und Sport besser zu überwachen, zu kontrollieren und zu optimieren. Die individuelle
Blutzuckerreaktion auf verschiedene körperliche Belastungen ist leichter erlernbar,
und Hypoglykämien sind früher vorhersag- und behandelbar [21], [22], [23], [24].
Sensoren, die nichtinvasiv physiologische Signale aufzeichnen, wie z. B. Herzfrequenz,
Beschleunigung, Wärmefluss und Hautfeuchtigkeit, können zur Trainingsüberwachung eingesetzt
werden [25]. Wearables (u. a. Sportuhren, Fitness- und Aktivitätstracker, Smartwatches) bieten
auch bei geringen Bewegungsumfängen die Chance, zur individuellen körperlichen Aktivität
zu motivieren und diese zu überwachen.
Diverse Gesundheits-Apps zur Optimierung des Lebensstils können für die Prävention
und Therapie genutzt werden [26], [27], [28], [29]. Es gibt Gesundheits-Apps zum Selbstmanagement bei Gestationsdiabetes [27], [30] oder Smartphone-Apps für Sportler mit Typ-1-Diabetes [31]. Ihre Qualität und ihr Nutzen sollten wissenschaftlich belegt sein und erst dann
sollten sie allgemein empfohlen werden.
Telemedizinisches Coaching [32], digitale Selbsthilfe [33] und Fitness-Portale für ein Training per Stream oder Download können Bewegung ohne
örtliche Bindung fördern. Gerade in einer bewegungsarmen digitalen Welt besteht die
Chance, besonders bei bewegungsarmen Kindern durch digitale Bewegungsspiele (Exergaming)
eine Verbesserung der körperlichen und kognitiven Leistungsfähigkeit zu erreichen
[34]. Mit E-Bikes bekommen Menschen mit eingeschränkter körperlicher Leistungsfähigkeit
neue Freiheitsgrade, sodass die Fitness bei deren Nutzung zunehmen kann [35].
Praktisches Vorgehen bei der Durchführung von Bewegungsprogrammen
-
Ausdauerorientierte Bewegungsprogramme sollen primär die aerobe Kapazität steigern
und sind aufgrund der positiven metabolischen und kardiopulmonalen Effekte eine gute
Trainingsart. Empfehlenswert sind Ausdauersportarten, die dynamische Beanspruchungen
möglichst großer Muskelgruppen gegen einen möglichst geringen Widerstand in rhythmisch
gleichbleibender Form erlauben, wie z. B. Nordic-Walking, schnelles Gehen/Walken,
Bergwandern, Skiwandern, Schwimmen oder Radfahren.
-
Von der Trainingsintensität wird primär ein moderates Ausdauertraining (ca. 50–60 %
der maximalen Herzfrequenz, aerober Trainingsbereich) empfohlen. Gerade ein Wechsel
unterschiedlicher Belastungsintensitäten zwischen ca. 60–80 % der maximalen Herzfrequenz
(Wechsel aus aerober und anaerober Intensität) im Sinne eines Intervalltrainings kann
größere Effekte induzieren [16], [36].
-
Auch ein Krafttraining für die großen Muskelgruppen kann (zusätzlich) empfohlen werden,
da die Kraftbelastungen zu einer Zunahme der Muskel- und somit fettfreien Masse führen,
resultierend in einer verbesserten Insulinresistenz. Während der Trainingseinheiten
ist allerdings das Risiko durch Blutdruckanstiege bei Vorliegen einer arteriellen
Hypertonie zu beachten. Die Blutdruckwerte müssen vor Trainingsbeginn optimal medikamentös
sowohl in Ruhe als auch unter Belastung eingestellt sein (Kontrolle beim Belastungs-EKG).
Auf eine gleichmäßige Atmung sollte beim Krafttraining geachtet werden, da Pressatmung
hohe Blutdruckspitzen hervorrufen kann. Für ein Krafttraining empfiehlt sich ein Ganzkörper-Kraftausdauertrainingsprogramm
mit 2–3 Sätzen pro Muskelgruppe bei 15–20 Wiederholungen und einer Intensität von
ca. 50–65 % vom 1er-Bewegungsmaximum und für Fortgeschrittene ein Muskelaufbautraining
bei 8–12 Wiederholungen und einer Intensität von ca. 70–80 % vom 1er-Bewegungsmaximum
[37].
-
Die Bewegungsprogramme sollten auch motorische Beanspruchungsformen enthalten, die
Geschicklichkeit, Schnellkraft, Reaktionsvermögen, Koordination und Gelenkigkeit verbessern
helfen, z. B. im Rahmen von Ballspielen oder beim Tanzen. Verbesserungen der Balance
lassen sich auch durch Ganzkörper-Vibrationstraining erreichen.
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Erste Studien deuten darauf hin, dass durch (ergänzende) alternative Trainingsformen
wie Elektromyostimulationstraining (EMS-Training), Ganzkörper-Vibrationstraining oder
Sport mit interaktiven Computerkonsolen (Exergaming) bei fachgerechter Anleitung ebenfalls
positive Wirkungen, u. a. auf glykämische Werte, bei Patienten mit Typ-2-Diabetes
erreicht werden können [38], [39], [40], wenngleich die Effektivität im Vergleich zu klassischem Ausdauer-/Krafttraining
zukünftig noch weiter zu bewerten ist.
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Zusätzlich sollte die Alltagsaktivität (Treppensteigen, Spazierengehen, Gartenarbeit
etc.) gesteigert werden. Auch dadurch lassen sich bereits positive Effekte auf den
Glukosestoffwechsel/die Insulinresistenz erzielen. Diese sind allerdings geringer
als bei gezielten Bewegungsprogrammen.
Prinzipien des Bewegungsprogramms bei Typ-2-Diabetes
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Zur Beurteilung der körperlichen Belastung wird als indirektes Maß die Herzfrequenz
genutzt, da gesicherte Beziehungen zwischen Herzfrequenz und körperlicher Leistungsfähigkeit
(VO2max) bestehen.
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Der Trainingspuls sollte individuell bestimmt werden, optimal durch Ergometrie mit
Laktatbestimmung bzw. spiroergometrisch, ansonsten Ermittlung mithilfe der Karvonen-Formel
(Trainingspuls = HFRuhe + (HFmax – HFRuhe) × 0,6). Faustregeln, wie z. B. Herzfrequenz = 180/min minus Lebensalter, sind ungeeignet.
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Die initiale Belastungsintensität sowie -dauer (anfangs < 10 min pro Trainingseinheit)
sollte niedrig gehalten werden. Stattdessen sollte die Bewegung an möglichst vielen
Tagen der Woche (optimal täglich) durchgeführt werden bzw. bevorzugt kurze Einheiten
mehrmals am Tag. Die Belastungsdauer und -intensität sollte über Wochen langsam gesteigert
werden.
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Zur Erzielung der gewünschten Langzeiteffekte sind Belastungsintervalle von 20 min
optimal 6–7 × /Woche.
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Ergänzend kann die Steigerung der Alltagsaktivität die positiven Effekte verstärken.
Vermeiden von Komplikationen infolge von Bewegungsprogrammen
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Ältere Menschen mit Diabetes mellitus Typ 2 haben im Vergleich zu gleichaltrigen Gesunden
ein höheres kardiovaskuläres Risiko. Dieses Risiko liegt umso höher, je geringer die
kardiopulmonale Leistungsfähigkeit ist. Zur Vermeidung unerwünschter kardiovaskulärer
Zwischenfälle nach jahrelangem Bewegungsmangel muss vor Beginn eine kardiologische
Untersuchung inklusive maximaler Ergometrie (als Abbruchkriterium sollten keine altersäquivalenten
Richtwerte, sondern klare Abbruchkriterien gewählt werden, sodass eine individuell
maximale Belastungsintensität ermittelt werden kann) durchgeführt werden. Eine gleichzeitige
Laktatbestimmung oder Spirometrie kann helfen, die optimale Trainingsintensität festzulegen
und ein Training besser individuell zu strukturieren.
-
Patienten mit Typ-2-Diabetes haben gehäuft weitere kardiovaskuläre Komplikationen
wie koronare Herzerkrankung, Herzinsuffizienz oder peripher-arterielle Verschlusskrankheit.
Die Trainingsintensität sollte darauf abgestimmt werden und ist durch die entsprechende
Grunderkrankung limitiert.
-
Einschränkungen der Belastbarkeit sind bei Patienten mit Typ-2-Diabetes gehäuft durch
eine diastolische Herzinsuffizienz (Heart Failure with preserved Ejection Fraction,
HFpEF) bedingt. Dies muss vor Planung des Trainingsprogramms abgeklärt und das Training
entsprechend angepasst werden.
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Diabetespatienten sollten generell niederschwellig auch in Bewegungsprogrammen trainieren.
„Laufen ohne Schnaufen“ ist die wichtigste Regel auch für den herzkranken Patienten.
Unter diesem Gesichtspunkt ist für den geschulten Patienten eine Arztpräsenz nicht
erforderlich. Ein Patient frisch nach dem Herzinfarkt sollte wie üblich mit Arztpräsenz
in einer Koronarsportgruppe trainieren.
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Zur Vermeidung von Hypoglykämien sollte eine Blutzuckermessung unbedingt vor, während
und nach dem Bewegungsprogramm bei Diabetespatienten unter Insulintherapie durchgeführt
werden. Anpassungen der Insulindosis und Zusatz-KHE sollen berücksichtigt werden.
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Bei proliferativer Retinopathie Blutdruckanstiege über 180–200/100 mmHg vermeiden.
Nach Laserung der Netzhaut oder Augenoperation 6 Wochen keine körperliche Belastung.
Krafttraining und Kampfsportarten sind bei Retinopathie ungeeignet und potenziell
schädlich.
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Bei peripherer diabetischer Neuropathie bestehen Risiken für die Manifestation eines
diabetischen Fußulkus durch unpassendes Schuhwerk.
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Bei diabetischem Fußsyndrom muss das angepasste Bewegungsprogramm eine Gewebeüberlastung
verhindern und sollte nur von spezialisierten Trainern durchgeführt werden. Bei einem
diabetischen Fußulkus muss das Bewegungsprogramm pausiert werden.
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Bei autonomer Neuropathie muss die Störung der physiologischen Blutdruck- und Herzfrequenzregulation
beachtet werden.
Zitierweise für diesen Artikel: Diabetologie 2019; 14 (Suppl 2): S214–S221