Kinder- und Jugendmedizin 2020; 20(03): 134-135
DOI: 10.1055/a-1167-1604
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kinder- und Jugendmedizin

Wieland Kiess
1   Leipzig
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Publication Date:
23 June 2020 (online)

Corona – Ist das alles?

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Prof. Dr. med. Wieland Kiess

Liebe Leserinnen und Leser,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

vielen von Ihnen mag es so gehen wie mir: Einerseits sind die Zahlen, Bilder und das Wissen um die schweren Erkrankungen, die die Coronavirus-Variante weltweit ausgelöst hat, das Leiden, die Trauer und die Konsequenzen unseren Alltag bestimmend. Sie machen traurig, bedrücken und ändern unser Leben. Andererseits liegen die Nerven blank, fühlt man sich belästigt, nicht nur belastet, sondern auch fehlinformiert, von unnützen und unseriösen, von nichtssagenden und gar falschen Informationen überschwemmt. Selbst ernannte und -benannte Expertinnen und Experten tauchen allenthalben auf und geben gefragt oder ungefragt ihre Meinung oder das, was man dafürhalten möge, kund. Viel ist bereits gesagt und geschrieben, was die Konsequenzen und die Folgen der Corona-Pandemie bedeuten mögen: wirtschaftliche Konsequenzen, Konsequenzen auf unser Zusammenleben, gar auf unsere Demokratie und auf Entscheidungsabläufe in Gesellschaften. Meiner Meinung nach zu wenig wird über die Medizin, Kinderheilkunde und Jugendmedizin im Speziellen, über Wissenschaft und unser Wissenschaftsverständnis im Zeitalter um und nach Corona diskutiert. Dies soll deshalb hier kurz thematisiert werden.

  1. Die Auswirkungen der Ausgehbeschränkungen, der Bemühungen um soziale Distanz auf Kinder und Jugendliche sind immens: In der Kinderbetreuung haben Kleinkinder und Kindergartenkinder ihre Bezugspersonen, ihre Angewohnheiten, ihre Lernmodelle und Vorbilder von heute auf morgen verloren. Was dies für Individuen, für die Gesellschaft, für eine Generation des Morgens bedeutet, ist nicht erforscht und gleicht einem gigantischen Selbstexperiment.

  2. Eine ganze Generation von Schulkindern wird zunächst aus der Schule ausgesperrt und dann in schnell zurechtgezimmerten so genannten virtuellen Klassenräumen beschult. Wie sehr nehmen wir die Bildung unserer zukünftigen Generation ernst? Wie kann das Defizit an Schule, an Bildung, das ungewollt und unverhofft über viele Kinder und Jugendliche hereingebrochen ist, aufgeholt werden? Was will jeder Einzelne von uns dafür tun? Was sind wir bereit zu opfern an Geld, Zeit, Infrastruktur, an gutem Willen? Die Generation von morgen, unsere Kinder und Jugendlichen, bedürfen der Hilfe und Unterstützung!

  3. Gefühlt und in Einzelbeobachtungen nehmen Fälle von Kindeswohlgefährdungen deutschlandweit, europaweit, sicher aber sogar weltweit (Man denke an die USA, an afrikanische und indische Regionen!) zu. Direkte häusliche Gewalt als Ausdruck von sozialer Isolation, von einem Leben auf kleinstem Raum ohne der Möglichkeit, seinen Emotionen ein Ventil zu geben, nimmt zu. Deutschlandweit gibt es Initiativen, diese Vermutungen und Beobachtungen in Zahlen dargestellt zu bekommen, und entsprechende Umfragen sind geplant.

  4. Und dies müssen wir als Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte noch viel mehr adressieren, ansprechen, bearbeiten und nicht der Vergessenheit anheimstellen lassen: Es ist eine Fehl- und Mangelversorgung in der Kinder- und Jugendmedizin zu beobachten! Da schreibt mir ein Kollege, der eine andere universitäre Kinderklinik leitet: „In unserer Fakultät und in unserem Universitätsklinikum hat eine gigantische Umverteilung der Ressourcen stattgefunden. Bedeutsam ist nur noch, ob „Corona-positiv“ oder „Corona-negativ“. Tatsächliche Medizin, Krankheit und Gesundheit spielen keine Rolle mehr. Die Pädiatrie ist nahezu eingestellt, dies gilt nur nicht für die Kinderonkologie und die Neonatologie.“

  5. Da kommen Berichte aus Italien, wo in den ersten Wochen der Corona-Krise die Zahl der Ersterkrankungen von kindlichen Krebserkrankungen drastisch gesunken war. Werden wir eine Welle von kindlichen Krebserkrankungen im Endstadium in einigen Wochen und Monaten sehen? Fürchtet die Bevölkerung Krankenhäuser mehr als den Tod?

  6. Was tut eine Gesellschaft ihren Ärmsten und Kränksten, den Alten an, wenn sie sie in Einsamkeit sterben lässt? Unbegleitet. Ungetröstet. Ohne Erinnerung an Liebgewordene und Liebgewordenes.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte missverstehen Sie diese Sätze und Gedanken nicht als Kritik an der handelnden Politik: In einigen Jahren werden wir alle klüger sein und beurteilen können, welche Reaktionen richtig, welche falsch waren, welche positive, welche negative Auswirkungen auf unsere Gesellschaft und unser aller gemeinsames Leben hatten. Politik muss handeln und ich bewundere sie deshalb. Politik braucht unser aller Rat, unsere Beratung, unser Engagement und gerade auch für die Zukunft neue Ideen: Als Fazit sollten wir Rückschlüsse aus den Erfahrungen, die wir jetzt alle machen, ziehen, Veränderungen für die Zukunft in unser gesellschaftliches Leben und insbesondere in die Krankenhaus- und Gesundheitsversorgungsstrukturen unseres Landes Einzug halten lassen: Meiner Ansicht nach war es schon immer falsch, das Gesundheitswesen an Investoren, kapitalorientierte, profitorientierte Unternehmen zu vergeben. Es ist falsch, wenn der niedergelassene Arzt oder die niedergelassene Ärztin, ich zitiere „sich auf sein Budget konzentriert“. Es ist falsch, wenn Universitätsklinika rein nach der „schwarzen finanziellen Null“ und nach dem positiven Image, den positiven Bildern, die generiert werden können, bewertet werden. Eine Gesellschaft braucht Sicherheit, sie braucht Gesundheit, sie braucht Bildung für alle und sie braucht eine soziale Grundsicherung. Es sei die Hypothese gewagt, dass manche Länder (die USA?) besonders von der schrecklichen Virus-Pandemie heimgesucht werden, weil sie keine funktionierenden Sozialsysteme, eine hohe Ungleichheit in der Versorgung ihrer Bevölkerung und eine reine profitorientierte Gesundheitsversorgung haben. Wir sollten in einigen Monaten in eine echte gesellschaftliche Diskussion eintreten, was Gesundheit, Bildung und Sicherheit für jeden einzelnen von uns wert sind. Wir als Kinderärztinnen und Kinderärzte müssen dafür sorgen, dass präventive Medizin inklusive Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen, Versorgung von chronisch kranken Kindern und Jugendlichen mit multidisziplinären Teams aus Kinderärztinnen und Kinderärzten, Psychologen, Sozialarbeitern und anderen Berufsgruppen refinanziert sind, gewollt sind und Standard in unserer reichen Gesellschaft sind. Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise werden, wie allenthalben diskutiert wird, für uns alle spürbar und sehr groß sein. Lassen Sie uns wachsam bleiben, dass nicht wiederum an denjenigen gespart wird, die sich am wenigsten wehren können: an Armen, Alten, Kranken und nicht zuletzt gerade auch an Kindern und Jugendlichen! Gesunde Kinder und Jugendliche sind die Zukunft jeder Gesellschaft und dies wird auch nach der Corona-Krise so sein.