Dialyse aktuell 2020; 24(10): 406
DOI: 10.1055/a-1190-8562
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Renale Anämie 2020 – Aufbruch zu neuen Ufern?

Patrick Biggar
1   Coburg
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Dr. med. Patrick Biggar, Coburg

Aus heutiger Sicht ist kaum vorstellbar, dass die Behandlung der renalen Anämie bis Ende der 1980er-Jahre zu einem wesentlichen Teil auf Bluttransfusionen mit sämtlichen Risiken einer Unverträglichkeit und der Übertragung von Infektionen beruhte. Trotz entsprechender Verfeinerung der diagnostischen Möglichkeiten ist die Unterrichtung der Patienten über die potenzielle Übertragung von noch nicht bekannten Erkrankungen weiterhin ein essenzieller Bestandteil der ärztlichen Aufklärungspflicht.

Der Einzug von rekombinantem Erythropoetin (EPO) Ende der 1980er-Jahre ist ein Meilenstein in der Nephrologie, wodurch sich die Transfusionshäufigkeit stark reduzieren ließ. Die medikamentösen Ansätze hatten bis dahin die Substitution von Eisen, ursprünglich überwiegend in oraler Form, sowie die Verabreichung von Androgenen umfasst. Während jedoch die KDIGO-Empfehlungen von der Verabreichung von Androgenen aufgrund der Nebenwirkungen abrieten, zogen sich Untersuchungen zum optimalen Einsatz von Eisen noch über Jahrzehnte hin. Während man noch Anfang der 1990er-Jahre von Eisen in oraler Form überzeugt war, häuften sich im weiteren Verlauf Studien, welche die primäre Verabreichung von intravenösem Eisen zumindest bei Patienten mit zunehmendem Nierenversagen (CKD) nahelegten, um die durch die Evolution zur Beherrschung von Infektionen entwickelte Eisenblockade zu umgehen. Denn obwohl Eisen durchaus wichtige Funktionen im menschlichen Stoffwechsel innehat, ist frei verfügbares Eisen z. B. auch für in die Blutbahn eindringende Bakterien essenziell. Somit ist das in den 2000er-Jahren entdeckte Hormon Hepcidin eine Art „natürliche Antibiose“ aus der menschlichen Steinzeit.

Dr. Severin Schricker et al., Stuttgart, gehen in ihrem Artikel bevorzugt auf die Eisensubstitution ein, während Dr. Thomas Weinreich, Villingen-Schwenningen, betont die neuen HIF-Inhibitoren (HIF: Hypoxie induzierbarer Faktor) bespricht. Hierbei wird insgesamt deutlich, dass die bisherigen gedanklichen Kategorien verschwimmen. Ein Eisenmangel bei CKD kann nicht auf Normwerten in der Allgemeinbevölkerung basieren – Nierenkranke benötigen mehr Eisen, und hier bieten die neueren Hochdosissubstanzen klare Vorteile. Die Substitution eines Erythropoetinmangels kann den Hämoglobinspiegel anheben, jedoch gelten auch hier die üblichen Normalbereiche nicht als Ziel, wenn man Gefäßereignisse und möglicherweise Malignome nicht provozieren möchte. In diesem angepassten Hämoglobinrahmen scheinen die neuen HIF-Inhibitoren eine Teilkorrektur der renalen Anämie zu bewirken bei verringertem Bedarf an Eisensubstitution. Ferner können sie offenbar besonders bei EPO-Resistenz im Rahmen des chronisch-inflammatorischen Status zu einer Verbesserung der Anämie beitragen. Allerdings ist noch nicht endgültig geklärt, ob das Nebenwirkungsprofil mit Placebo vergleichbar ist, denn gerade zu diesem essenziell wichtigen Aspekt wurden beim ASN im Oktober 2020 u. a. Sicherheitsergebnisse vorgestellt, die im Vergleich zum Referenz-ESA-Präparat widersprüchlich in einer großen Studie eine Nicht-Unterlegenheit („non-inferiority“), aber in einer ähnlich großen, zweiten Untersuchung eine eindeutige Unterlegenheit („inferiority“) ergaben. Ferner liegen vereinzelt Berichte über arteriellen und pulmonalen Hypertonus vor. Die Ergebnisse von Langzeitstudien stehen noch aus. Im dritten Beitrag stellen Dr. Joanna Śladowska-Kozłowska und Prof. Dr. Franz Schaefer, Heidelberg, die Entwicklung aus pädiatrischer Sicht dar. Auch hier zeichnen sich potenzielle Vorteile der oral wirksamen HIF-Inhibitoren ab.

Somit können insgesamt alle 3 Substanzklassen zu einer Reduktion der Transfusionshäufigkeit mit Vorteilen auch bei geplanter Organtransplantation führen. Die klassischen EPOs ermöglichen bei ausgeprägter Anämie eine Verbesserung des Befindens und der Lebensqualität. Eine relativ liberale Eisensubstitution kann zu einer Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse beitragen. Auch wenn ein HIF-Präparat in China bereits zugelassen ist, stehen die HIF-Inhibitoren erst am Anfang ihres klinischen Alltagseinsatzes, wobei nicht nur die Pädiater deren potenzielle Vorteile jetzt schon erkennen.



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Article published online:
17 December 2020

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