Zeitschrift für Palliativmedizin 2020; 21(05): 232-236
DOI: 10.1055/a-1212-5005
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Doppelkopf: Achim Rieger und Sibylle Radtke

Achim Rieger

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Zur Person

Achim Rieger, geboren am 13.07.1966 als einziges Kind meiner Eltern. Als Kind und Jugendlicher durch den Beruf des Vaters bedingt (Bundeswehr) viele Umzüge, dabei prägend drei Jahre in Frankreich und später meist in NRW. Nach dem Abitur zwei Jahre bei der Bundeswehr und Beginn eines Maschinenbaustudiums in Aachen. Wechsel zu Medizin 1988/1989 und Umzug nach Berlin. Studium an der FU Berlin, 1992 sechs Monate Famulaturen und Reisen durch Lateinamerika. 1995 Arzt im Praktikum in der Onkologie. 1997 Beginn als Palliativmediziner im Berliner Home-Care-Projekt. Seitdem Engagement in vielen Bereichen der Palliativversorgung (DGP: Entwicklung der Curricula, vier Jahre Vorstandstätigkeit, Gründung und Vorsitz der Landesvertretung Berlin-Brandenburg der DGP; Kurse, Vorträge und Seminare zu palliativmedizinischen Themen; Prüfer bei der Berliner Ärztekammer für die Zusatzbezeichnung etc.). 2000–2001 als Arzt auf der Palliativstation der Charité, anschließend Ausbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin und Übernahme einer Hausarztpraxis in Berlin Charlottenburg 2003, Aufbau einer palliativmedizinischen Schwerpunktpraxis zunächst im Rahmen des Berliner Home-Care-Projekts, später in der SAPV. Aktuell besteht das Team aus drei Praxisinhabern (gemeinsam mit Thomas Schindler und Monika Kuppe) sowie vier angestellten PalliativmedizinerInnen und sechs MFAs. Neben einer überschaubaren hausärztlichen Versorgung bieten wir hauptsächlich AAPV und SAPV in allen möglichen Varianten an.

Ich lebe getrennt mit meiner neuen Partnerin und meinen beiden Kindern (15 und 18 Jahre alt) an der wunderschönen südwestlichen Stadtgrenze schon auf Potsdamer Boden.

Wie kamen Sie in Ihr jetziges Tätigkeitsfeld?

Eigentlich hatte ich den Wunsch, Onkologe zu werden, nachdem ich mein AiP in der Onkologie verbracht hatte. Aber Mitte der 90er-Jahre gab es kaum Stellen für Ärzte in Deutschland. Ich hatte mich schon darauf vorbereitet, nach Norwegen zu gehen und lernte Norwegisch an der Volkshochschule. Dann bekam ich jedoch die Möglichkeit, als Home-Care-Arzt an einer onkologischen Praxis in Charlottenburg angestellt zu werden. Ich dachte damals: Prima, so bleibe ich erstmal nahe bei der Onkologie – mal sehen, was sich so entwickelt …

Was wäre für Sie die berufliche Alternative?

Keine! Ich habe seitdem das starke Gefühl, beruflich angekommen zu sein! Ich empfinde es als großes Privileg, nicht mehr suchen zu müssen. Ich bin genau da, wo ich hingehöre!Zwischenzeitlich hatte ich nochmal die Möglichkeit, eine onkologische Ausbildung an der Charité zu erhalten. Von 2000–2001 arbeitete ich auf der damals neu gegründeten Palliativstation. Nachdem mein Vertrag ausgelaufen war, versuchte mich der damalige Stellvertreter des Chefs zum Bleiben zu überreden. Aber ich hatte schon längst mein Herz an die Palliativmedizin verloren, für die ich mich auch heute noch jeden Tag begeistere!

Wie beginnen Sie Ihren Tag?

In der Regel stehe ich um sechs Uhr auf und habe die schwerste Aufgabe des Tages sofort zu erledigen: Zwei pubertierende Jugendliche so aus dem Haus zu bekommen, dass sie pünktlich die Schule erreichen!Alles, was dann folgt, ist leichter …Ich habe mir eine regelmäßige Unregelmäßigkeit zurechtgelegt: montags und freitags morgens beginne ich mit der Sprechstunde in der Praxis, dienstags im Hospiz, donnerstags im Pflegeheim, mittwochs versuche ich, spontan und flexibel zu bleiben.Wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich die erste halbe Stunde des Tages mit Kaffee und Zeitung im Bett beginnen. Gelingt manchmal in den Schulferien …

Leben bedeutet für mich …

… tief durchzuatmen und den Blick für all die wunderbaren Menschen und Dinge des Alltags geöffnet zu haben.

Sterben bedeutet für mich …

… den unausweichlichen Abschied vom Leben annehmen zu können und dabei die Hoffnung auf ein Danach nicht zu verlieren.

Welches Ziel möchten Sie unbedingt noch erreichen?

Das wichtigste Ziel ist, dass ich meine Kinder sicher im Leben weiß! Ich wünsche mir, dass ich erleben kann, wie sie selbstständig werden, erwachsen sind, vielleicht selber Kinder haben werden und mit ihrer Berufswahl zufrieden sind.Das wichtigste berufliche Ziel ist, dass ich gemeinsam mit meinen KollegInnen die Praxis anhand der neuen Bedingungen für die ambulante Palliativversorgung in ein zukunftssicheres Modell für ein multiprofessionelles SAPV-Team transformieren kann. Wahrscheinlich werden diese Veränderungen für uns Palliativmediziner in Berlin eine besonders große Herausforderung sein.Für mich persönlich wünsche ich mir noch Lebenszeit mit meiner neuen Partnerin, mit der ich sehr glücklich bin, Zeit für meine kreativen Seiten am Klavier und im Fotolabor … aber das sind wohl eher Geschenke als Ziele …

Meine bisher wichtigste Lernerfahrung im Leben ist …

… dass nichts für alle Ewigkeit Bestand hat! Dinge und Beziehungen, von denen ich angenommen habe, dass sie nie erschüttert werden können, haben sich verändert oder gar aufgelöst. Das ist die Erkenntnis. Die Lehre folgt daraus: Man kann immer wieder etwas Neues beginnen, dazu lernen, Dinge, die nicht gut sind, verändern. Leben ist und bleibt unplanbar. Aus tiefstem Tal heraus ist auch wieder großes Glück möglich und auch das größte Glück bleibt immer ein fragiler Zustand.Leben ist Schicksal und Demut eine wichtige Eigenschaft.

Was würden Sie gerne noch lernen?

Klavierspielen – ich habe mal damit begonnen und es dann aus Zeitmangel wieder aufgegeben, aber es hat mir sehr viel Spaß gemacht. Auch würde ich gerne Tauchen mit Flaschen lernen. Als Jugendlicher waren meine Berufswünsche Meeresbiologie und Unterwasserarchäologie …Ich würde gerne lernen, mich selbst nicht zu ernst zu nehmen, mehr über mich lachen zu können. Meine Kinder kritisieren mich zurecht dafür, dass es schwer ist, einen Spaß auf meine Kosten zu machen.

Woraus schöpfen Sie Kraft für Ihre Arbeit?

Die größte Kraft schöpfe ich aus dem Zusammensein mit anderen Menschen. Es stärkt mich sehr, zu wissen, dass unser Team funktioniert, dass ich mir dort immer Hilfe und Unterstützung suchen kann, wenn ich nicht mehr weiterweiß.Auch schöpfe ich Kraft aus der unmittelbaren Wirksamkeit meiner Arbeit. Ich kann sofort spüren und erkennen, wie sich mein Handeln positiv auf die Lebensumstände meiner Patienten und deren Familien auswirkt.Dies halte ich für ein großes Privileg und natürlich auch für eine Bürde, denn umgekehrt verhält es sich genauso. Es ist Motivation und Verantwortung zugleich.Wichtig sind auch die privaten Beziehungen: mein Glück mit meinen Kindern und meiner Partnerin. Pausen sind etwas sehr Wichtiges im Leben, die kleinen wie die großen …Kraft schöpft sich für mich auch aus der Fähigkeit, mich zu erholen.

Mit wem aus der Welt- oder Medizingeschichte würden Sie gerne mal einen Abend verbringen?

Sebastiao Salgado! Seit mehr als 20 Jahren bewundere ich seine Fotografien, die mich tief berühren. Salgado ist sein Leben lang engagiert im Kampf gegen Unterdrückung und soziale Ungleichheit. Er musste dafür in seinen jungen Jahren mit seiner Frau Lelia nach Frankreich ins Exil gehen und vor der brasilianischen Militärjunta flüchten.Seine Bilder und sein Engagement haben stets auch einen philosophischen Ansatz.In den vergangenen Jahren ist sein ökologisches Handeln zunehmend in den Vordergrund getreten. Gemeinsam mit seiner Frau hat er eine Stiftung gegründet und beschäftigt sich mit der Renaturierung der durch intensive Landwirtschaft auf der Farm seiner Eltern verwüsteten Region. Seine Erfolge sind außerordentlich.2019 hat er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels für sein Werk erhalten und die Laudatio hat Wim Wenders gehalten. Sein Dokumentarfilm über Sebastiao Salgado – „Das Salz der Erde“ – hat mich sehr beeindruckt und mir den Menschen Salgado nahegebracht.Gerne würde ich einen Abend mit Sebastiao Salgado verbringen, mit ihm über die Zukunft der Welt diskutieren und versuchen herauszufinden, wie ihm diese wunderbaren Fotografien gelungen sind!

Wenn ich einen Tag unsichtbar wäre würde ich …

… vielleicht nachts in den Wald gehen, um dort einmal die Tiere ungestört zu beobachten. Menschen würde ich eher meiden, denn es wäre mir unangenehm, ihre Intimsphäre zu hintergehen.

Wie können Sie Frau Radtke beschreiben?

Sibylle Radtke (Spitzname „Shebee“) habe ich kennengelernt, als ich dringend Unterstützung für meine Home-Care-Arbeit suchte. Damals war sie in einer anderen Praxis beschäftigt und sehr unzufrieden. Wir hatten uns auf Anhieb gut verstanden.Vielleicht haben wir so etwas, wie einen ähnlichen „Stallgeruch“ – wir beide wissen, dass es auch außerhalb der Medizin ein Leben gibt. Freunde, die andere Berufe haben, Künstler oder Menschen mit sozialem Engagement zum Beispiel, bereichern unser Leben.Shebee ist ein „Menschen-Mensch“, hat ein großes Herz gerade für diejenigen, die nicht immer auf der Sonnenseite des Lebens gestanden haben. Es gibt keine unüberwindlichen Hürden zwischen ihr und den Patienten und Angehörigen.Sie ist zu großer Empathie fähig und ein klasse Teamplayer!Sie besitzt einen wunderbaren Humor und es macht großen Spaß, sich mit ihr bei ein oder zwei Glas Wein über Gott und die Welt zu unterhalten.

Wie beenden Sie Ihren Tag?

Ich beende ihn dort, wo ich ihn begonnen habe: bei meinen Kindern. Manchmal ist es gar nicht leicht, herauszufinden, was sie am Tag erlebt haben, wie die Schule gelaufen ist, welche Freunde sie getroffen haben und was sie so alles bewegt.Im Sommer gehört es auch dazu, vor dem Schlafengehen nochmal durch den Garten zu gehen, die Pflanzen zu wässern, mich an allem zu freuen, was wächst und gedeiht.Mit meiner Partnerin trinke ich dann gerne ein Glas Wein und wir rauchen gemeinsam ein Zigarillo …

Gibt es etwas, das Sie gern gefragt worden wären, aber noch nie gefragt worden sind?

Nein.



Publication History

Article published online:
13 August 2020

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York