Psychiatr Prax 2024; 51(01): 56-57
DOI: 10.1055/a-1227-0516
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Psychiatrie in der DDR III

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Kumbier E, Haack K (Hrsg). Psychiatrie in der DDR III. Weitere Beiträge zur Geschichte. Berlin: be.bra 2023. Gebunden, 416 Seiten, € 32,-; ISBN: 987–3–95410–309–6

Nach den beiden Bänden zur Geschichte der Psychiatrie in der DDR, die 2018 und 2020 erschienen sind [1] [2], haben im letzten Jahr Ekkehardt Kumbier und Kathleen Haack Band III herausgegeben.

Herausgearbeitet hatte die Forschungsgruppe bereits mit den früheren Bänden, dass es in der DDR keinen systematischen politischen Missbrauch der Psychiatrie gab, durchaus aber Fälle von Missbrauch und Rechtsverletzungen; dass es nicht nur in der BRD, sondern auch in der sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR nach 1945 eine hohe personelle Kontinuität von zuvor während des Nationalsozialismus tätigen Ärzten gab; dass reale Gegebenheiten wie Personal- und Ausstattungsmangel die Entwicklung der Psychiatrie wesentlich prägten, wohingegen man nicht von einer eigenständigen und isolierten DDR-Psychiatrie sprechen kann.

Vielmehr war die Psychiatrie in der DDR «vielschichtig und widersprüchlich», so die Herausgeberinnen in der Einleitung ihres aktuellen Bandes. Dies bildet sich denn auch in den Untersuchungen zu einzelnen Persönlichkeiten und Institutionen ab. Da ist beispielswese Hans Eichhorn, überzeugter Kommunist und bereits in der Studentenzeit IM, der über Jahrzehnte Kollegen ausspioniert hat und 1981 Direktor des Bezirksfachkrankenhauses für Neurologie und Psychiatrie in Ueckermünde wurde. Eichhorn hatte einen guten Kontakt zu Karl Seidel, der im selben Jahr Leiter der Abteilung Gesundheitswesen im Zentralkomitee der SED wurde. Im Vorfeld waren Eichhorn neben weiteren Absprachen 50 Millionen Mark für die Sanierung der maroden Klinik in Aussicht gestellt worden. Wie schon gegenüber seinem Vorgänger liess die Umsetzung jedoch auf sich warten. Die psychiatrische Versorgung wurde immer wieder hintangestellt. Zudem verfügte die DDR am Rande der Zahlungsunfähigkeit über keine Mittel mehr. Eichhorn wehrte sich, beklagte sich über die fehlende Unterstützung und verwies auf die «schlimmsten, mittelalterlichen, menschenunwürdigen Betreuungsbedingungen für geistig kranke Menschen …» (Haack, Grabe und Kumbier, S. 116). Nachdem sich Eichhorn zunächst an den Bezirksarzt gewendet hatte, nahm er Kontakt mit dem Bezirksstaatsanwalt auf. MfS und das Zentralkomitee standen nach wie vor hinter Eichhorn; dieser gab keine Ruhe. 1983 wurde die umfassende Restrukturierung des Krankenhauses beschlossen, doch da verfügte der Bezirk bereits kaum mehr über Mittel. Selbst die medizinische Grundversorgung war gefährdet. Einzelne Restrukturierungsmassnahmen wurden in Angriff genommen, stockten jedoch bald. Eichhorn schreckte auch vor Eingaben an Honecker nicht zurück, doch auch sie änderten kaum etwas. Schliesslich wollte der MfS das «widerspenstige Verhalten» ihres IM nicht mehr tolerieren und entpflichtete diesen (S. 122), nahm ihn jedoch zwei Jahre später wieder auf, weil es auf Eichhorns Dienste nicht verzichten wollte.

Ein Beitrag zur Auswertung von «Eingaben», einem Instrument, durch das es psychiatrisch Tätigen, Patientinnen und Patienten wie deren Angehörigen möglich war Kritik zu äussern zeigt, dass Kritik möglich war; dass Eingaben punktuell auch Veränderungen anstossen konnten. Diese Form der Kritik war jedoch keine öffentliche. Sie befriedete die Kritik der einzelnen und verhinderte zugleich, dass es zu weiterreichenden Reaktionen kam (Bettin, S. 59 ff.).

Als vielschichtig erweist sich auch die frühe Etablierung und der Stellenwert der Arbeitstherapie in der psychiatrischen Behandlung und Rehabilitation: Quellen der Arbeitstherapie speisen sich aus der «aktiveren Therapie» Hermann Simons während der 1920er-Jahre, dem Ziel der Rehabilitation und Reintegration in die Gesellschaft, wie sie in den Rodewischer Thesen 1963 formuliert wurde, dem Erziehungsgedanken im Ziel, zu gesellschaftlich wertvoller Arbeit anzuleiten und somit den Nutzen für die Gesellschaft zumindest neben, wenn z.T. nicht gar über den für den Einzelnen zu stellen und der Notwendigkeit, den Anstaltsbetrieb wirtschaftlich aufrechtzuerhalten. So konstruktiv das Angebot der Arbeitstherapie mit späterer Differenzierung in berufliche und industrielle Tätigkeit und Beschäftigungstherapie für das Ziel der Rehabilitation war, so einschränkend konnten sich der Missbrauch von Patientinnen und Patienten für die Aufrechterhaltung des Anstaltsbetriebs wie der Druck, sich als nützliches Mitglied der Gesellschaft zu erweisen auswirken. Windisch, Haack, Grabe und Kumbier geben in ihrem Beitrag einleitend einen Überblick über diese Vielschichtigkeit, ehe sie die Ergebnisse ihrer Befragung von Zeitzeugen (Patientinnen und Patienten wie beruflichen Akteuren) darstellen (S. 201 ff.).

Psychiatrische Fürsorge (Sozialarbeit) wurde in einzelnen Institutionen bereits Anfang der 1950er-Jahre etabliert, andere mussten Jahrzehnte warten und blieben unterversorgt. Der allmählichen Etablierung und der Entwicklung der Ausbildung wie den widersprüchlichen Zielen von Gesundheitsfürsorge, aufsuchender Hilfe und der Erfassung und Einweisung von psychisch Kranken geht Viola Balz in ihrem Beitrag nach (S. 285 ff.).

Unter den fünf Teilen des Bandes widmet sich einer wiederum dem Gesundheitswesen der DDR, auf dessen Hintergrund die psychiatrische Entwicklung erst nachvollziehbar wird. Diesmal werden gesellschaftspolitische Aspekte davon getrennt in einem eigenen Buchteil untersucht. Fortsetzungen finden sich in einem weiteren Teil mit Beiträgen zu diagnostischen und therapeutischen Ansätzen sowie in einem Teil zu Abhängigkeit. Ausserdem befassen sich die Beiträge eines Buchteils mit dem Spannungsfeld von Pädagogik, Psychiatrie und Fürsorge.

Der Kern der Autorinnen- und Autorenschaft ist konstant geblieben. Insgesamt hat sich der Autorinnen- und Autorenkreis auf 26 erweitert.

Gesamthaft werden die bereits in den früheren Bänden angesprochenen Themen vertieft, so dass ein zunehmend differenziertes Bild der Psychiatrie entsteht.

Ulrike Hoffmann-Richter, Luzern

praxis@hoffmann-Richter.ch



Publication History

Article published online:
15 January 2024

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  • Literatur

  • 1 Kumbier E, Steinberg H. (Hrsg). Psychiatrie in der DDR. Beiträge zur Geschichte. Berlin: be.bra wissenschaft; 2018
  • 2 Kumbier E. (Hrsg). Psychiatrie in der DDR II. Weitere Beiträge zur Geschichte. Berlin: be.bra wissenschaft; 2020