Zeitschrift für Phytotherapie 2021; 42(01): 1-3
DOI: 10.1055/a-1256-6960
Editorial

Editorial

Wo kämen wir hin,

wenn alle sagten:

„Wo kämen wir hin!?“

Und niemand ginge,

um einmal zu schauen,

wohin man käme, wenn man nur ginge.

Kurt Marti[*]

Im ersten Moment mögen Sie angesichts des Inhaltsverzeichnisses denken, dass Sie einen Irrläufer in Händen halten, dann vielleicht feststellen: Schade – für mich diesmal fast nichts dabei.

Da sind wir anderer Ansicht.

Selbst wenn Sie überzeugter Veganer ohne jedes Haustier sein sollten, werden Sie in dieser Ausgabe Interessantes finden, erst recht, wenn Sie Hund oder Pferd Ihr Eigen nennen und sich für gesundheitsverträgliche Tierhaltung und qualitativ hochwertige, rückstandsfreie Lebensmittel interessieren. Denn letztlich sind wir alle über unsere Nahrung – sei sie pflanzlichen oder tierischen Ursprungs – mit Gesundheit und Wohlbefinden unserer Erde und der auf ihr lebenden Tiere aufs Engste verbunden.

Außerdem sind wir der festen Überzeugung, dass es durchaus interessant ist, einmal über die Speziesgrenzen hinwegzusehen. Welche Wirkung haben zum Beispiel Pflanzenextrakte unterschiedlicher Konzentrationen auf die Darmmotorik von Rind, Schaf und Schwein? Welche phytotherapeutischen Therapieoptionen gibt es zur Behandlung der Leishmaniose des Hundes? Wie dosiert man Kamillenblüten bei einer ausgewachsenen Kuh?

In dieser hauptsächlich von Veterinärmedizinerinnen und -medizinern aus Praxis und Wissenschaft gestalteten Ausgabe der ZPT werden Sie auch einiges über Resistenzproblematiken bei Nutztieren erfahren („Kein Wunder!“, werden Sie vielleicht denken: „Bei den Haltungsbedingungen!“). Vielleicht erstaunt es Sie zu hören, dass ähnliche Probleme auch bei Haus- und Hobbytieren auftreten, für die wir doch fast alles zu tun bereit sind?

Zubereitungen aus Pflanzen gehörten weltweit auch beim Tier zu den ursprünglichen Heilmitteln zur Kontrolle von Krankheitserregern und zur Therapie von Infektionserkrankungen. Sie spielen jedoch zurzeit in der Veterinärmedizin kaum mehr eine Rolle. Seit einigen Jahren erfreut sich die Arzneipflanzenanwendung in der Tiermedizin allerdings wieder eines kleinen Aufschwungs. Das ist sicher mit ein Grund für diese besondere Ausgabe der ZPT.

Die Entwicklung antimikrobieller Resistenzen hat ihre Ursache im unverhältnismäßig hohen Einsatz von Antibiotika in Human- und Tiermedizin. Um dieser Entwicklung entgegenwirken zu können, muss die Gesunderhaltung „a priori“ die entscheidende Rolle spielen. Arzneipflanzen können hier ein Teil der Lösung sein, sei es durch die Modulierung des Immunsystems, durch eine direkte antimikrobielle Wirkung oder durch die Verbesserung des mikrobiellen Milieus von Haut und Magen-Darm-Trakt.

Bei einem der häufigsten Einsatzgebiete für Antibiotika in der Nutztierhaltung, dem Durchfall der Ferkel in der Phase der Fütterungsumstellung nach dem Absetzen von der Mutter, könnten Knoblauch oder die Gerbstoffe des Blutweiderichs zu einer Reduktion des Antibiotikaeinsatzes führen. Sogar in Kombination mit Antibiotika können Arzneipflanzen helfen, antimikrobielle Resistenzen zu überwinden, z. B. bei Erregern von Wundinfektionen.

Auch gegen Parasiten wurden Pflanzen eingesetzt. Dabei handelte es sich in der Regel um ein breites Spektrum von Pflanzen aus der lokalen Flora. In den verschiedenen Regionen der Welt wurden unterschiedliche – eben dort endemische – Pflanzen als Heilmittel eingesetzt. Nicht selten kamen gleiche oder vom Wirkstoffspektrum vergleichbare Pflanzen über große Regionen hinweg zum Einsatz. Schon vor Jahrhunderten geschah dies auch durch kulturellen Austausch und den Import von solchen Pflanzen, denen man in ihrem Herkunftsland besondere Heilkraft zusprach.

So gut wie alle Pflanzen oder pflanzlichen Zubereitungen zur Behandlung von Parasitosen sind nach der Markteinführung synthetischer Arzneimittel (hier im Sinne von Arzneimitteln auf Basis von definierten Monosubstanzen synthetischen, mikrobiellen oder pflanzlichen Ursprungs gemeint) aus dem Bewusstsein und damit auch vom Markt verschwunden. Dies geschah in der Regel, ohne dass je eine wissenschaftliche Validierung ihrer Wirksamkeit stattgefunden hat oder gar die Optimierung der pflanzlichen Zubereitungen versucht worden wäre. Antiparasitär wirksame sekundäre Pflanzenstoffe interessieren in der Tiermedizin seit Jahrzehnten nur noch aus toxikologischer Sicht.

Dennoch: Seit etwa drei Jahrzehnten unterzieht man weltweit die traditionell gegen Parasiten eingesetzten Pflanzen einem Screening – auf der Suche nach effektiv antiparasitär wirkenden phytochemischen Einzelsubstanzen, die aus der Misere der Resistenzentwicklung bei Parasiten helfen könnten. In den meisten Fällen sind die Ergebnisse solcher Screenings enttäuschend. Die Wirksamkeit dieser Drogen ist mit der von Synthetika nicht vergleichbar – so diese denn noch wirksam sind.

Wie ist diese unbefriedigende Wirksamkeit zu erklären? Haben sich die Tierhalter getäuscht? Haben sie sich eine Wirkung nur eingebildet? Und wie verhält es sich mit den Fähigkeiten der Tiere, gezielt Pflanzen zu wählen, um die Parasitenbürde gesundheitsverträglich zu halten? Sind die Berichte hierüber vielleicht nur Anekdoten, die einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten? Nein, so ist es nicht.

Das Problem liegt derzeit eher in den Erwartungen der Wissenschaftler und ihrer Methodik begründet – und zwar sowohl bei Agrarwissenschaftlern als auch bei Medizinern: Man erwartet hochwirksame Substanzen, die es ermöglichen, so weiterzumachen, wie bisher – leistungs- und gewinnorientiert, ohne Berücksichtigung der Bedürfnisse der Tiere.

Auch die meisten Nahrungs- und Futterpflanzen werden weltweit nur noch unter dem Aspekt der Leistungssteigerung betrachtet. Von Interesse ist die Erwirtschaftung der höchstmöglichen Biomasse pro Flächeneinheit. Es interessiert ausschließlich der Energie- und Proteingehalt. Infolge dieser Bestrebungen ist es zu einer drastischen Reduzierung auf nur noch wenige Nahrungs- und Futterpflanzen gekommen und bei diesen durch züchterische Eingriffe, Düngung, Bewässerung etc. zu einer extremen Verarmung an phytochemischen Stoffen. Die pflanzlichen Sekundärstoffe gelten noch immer, trotz ihrer unüberschaubaren Diversität, pauschal als „antinutritiv“.

Dabei werden immer noch und immer wieder die in den letzten Jahren gewonnenen Erkenntnisse zu den über Jahrtausende gewachsenen evolutionsbiologischen Zusammenhänge ignoriert. Studien aus Immunologie, Rezeptorforschung, Verhaltensökologie – um nur einige zu nennen – belegen eindrücklich die Bedeutung pflanzlicher Sekundärstoffe für die Gesunderhaltung von Mensch und Tier.

Pflanzenfresser und Allesfresser haben jedoch die Möglichkeit verloren, sich eigenständig gesund zu halten. Denn dazu müssten sie nach ihren artspezifischen und individuellen Bedürfnissen aus einem vielfältigen Spektrum von phytochemisch reichen Pflanzen wählen können. Angesichts des breiten Angebotes an synthetischen Arzneimitteln wurde dies jedoch für unnötig gehalten.

Mittlerweile ist allerdings offensichtlich, dass Einzelwirkstoffe keine Allheilmittel sind, dass z. B. Bakterien und Parasiten in der Lage sind, binnen kürzester Zeit Resistenzen gegen Mono-Target-Wirkstoffe zu entwickeln, wodurch einstmals beherrschbare Erreger für Mensch und Tier erneut zur Bedrohung werden.

Es ist auch klargeworden, dass sich so ohne Weiteres keine neuen hochwirksamen und gleichwohl sicheren Synthetika entwickeln lassen. Insbesondere die kostengünstigen, in großen Mengen eingesetzten Synthetika bergen Risiken, deren Ausmaß uns erst nach und nach bewusst wird. Ihre Rückstände gelangen in die Umwelt und tauchen überall in der Nahrungskette auf. Sie wirken negativ auf die Biodiversität, verursachen Schäden an der physiologischen, essenziellen Mikroflora innerhalb und außerhalb von Mensch und Tier. Maßvoll, gezielt und in ihrer breiten Vielfalt eingesetzte Arzneipflanzen haben demgegenüber einen entscheidenden Vorteil – sie sind komplett und kurzfristig biologisch abbaubar. Gerade diese Erkenntnis lässt uns hoffen, dass die Bedeutung der Phytotherapie in der Zukunft wieder wächst, auch in der Tiermedizin.

Sich von Forschung und Erfahrung zu anderen Tierarten inspirieren zu lassen, gehört zu unserem Berufsalltag. Wir Veterinärphytotherapeutinnen und -therapeuten profitieren immer gerne von Erkenntnissen zur Tierart Homo sapiens L. In diesem Sinne möchten wir Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Humanmedizin, ein wenig Interspezies-Inspiration zukommen lassen und wünschen Ihnen allen viel Freude beim Lesen.

Cäcilia Brendieck-Worm

Michael Walkenhorst



Publication History

Article published online:
15 February 2021

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  • Literatur

  • 1 Waller PJ, Bernes G, Thamsborg SM. et al. Plants as de-worming agents of livestock in the Nordic countries: historical perspective, popular beliefs and prospects for the future. Acta Vet Scand 2001; 42: 31-42
  • 2 Provenza F. Nourishment – what animals can teach us about rediscovering our nutritional wisdom. White River Junction, Vermont: Chelsea Green Publishing; 2018