Aktuelle Urol 2021; 52(02): 168-180
DOI: 10.1055/a-1293-2831
Leitlinie

S2k-Leitlinie Hilfsmittelberatung

Federführende Gesellschaft: Deutsche Gesellschaft für Urologie, Autoren und Mandatsträger der Deutschen Gesellschaft für Urologie, Mitglieder des Arbeitskreises „geriatrische Urologie“ (in alphabetischer Ordnung):
Marius Butea-Bocu
,
Susan Foller
,
Jochen Gleisner
,
Andreas Kahlmeyer
,
Heiner Karstedt
,
Ruth Kirschner-Hermanns
,
Timo Liebald
,
Clemens Linne
,
Andreas Manseck
,
Volker Moll
,
Ullrich Otto
,
Alexander Piotrowski
,
Alexander Schorn
,
Joachim Stein
,
Arnold Wagner
,
Andreas Wiedemann
,
Als Mandatsträger weiterer Fachgesellschaften: Dt. Gesellschaft für Geriatrie: Dr. Klaus Becher; Dt. Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe: Prof. Dr. Christl Reisenauer; Dt. Kontinenz Gesellschaft e. V.: Prof. Dr. Daniela Schultz-Lampel; GKV-Spitzenverband: Dr. Christine Kuhlmann; Dt. Gesellschaft für Pflegewissenschaften: Dr. Daniela Hayder-Beichel; Inkontinenz Selbsthilfe e. V.: Mathias Zeisberger

1. Einleitung

1.1. Das Versorgungsdefizit

Im Juli 2017 publizierte die „Stiftung Warentest“ unter dem Titel „kein Verlass auf Profis“ das Ergebnis eines systematischen Tests über die Beratungsleistung von 20 Anbietern, die Patienten mit aufsaugenden Inkontinenz­produkten versorgen (https://www.test.de/Beratung-bei-Inkontinenz-Kein-Verlass-auf-Profis-5196555-0/).

Es wurden 10 Homecare-Unternehmen als Vertragspartner von gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland, 5 Sanitätshäuser und 5 Apotheken stichprobenhaft ausgewählt und von 7 geschulten Testern besucht. Beurteilt wurde die Erstberatung bei einer Harninkontinenz bei 7 Testfällen, die von Fachgutachtern (A. Wiedemann, Witten, E. Heßdörfer, Berlin) mit typischen Symptomen, Hintergrundinformationen und aktuellen Beschwerden erstellt worden waren. Bewertet wurden die Beratungsleistung selbst, die Gesprächsatmosphäre und -umgebung, die Art und der Umfang der Bemusterung und die Beratung zur Erstattung bzw. Zuzahlung.

Das ernüchternde Ergebnis des Tests: In kaum einem Beratungsgespräch wurden nach der Art der Harninkontinenz und deren Umfang – für eine sinnvolle Hilfsmittelversorgung wichtige Informationen – gefragt. Das Beratungsgespräch selbst fand nur in Ausnahmefällen in einem separaten Raum statt – häufig wurde der Betroffene „am Schalter“ zumeist kurz und bündig beraten. Die Bemusterung fand selten in sinnvollem Umfang und häufig unter hygienisch bedenklichen Umständen (Überreichen von Produkten von Hand zu Hand) statt. Eine ehrliche Beratung zu den Kosten bzw. einer eventuellen Zuzahlung fand ebenfalls selten statt. Insgesamt reichte das Gesamturteil der Stiftung Warentest von „Befriedigend“ bis „Mangelhaft“ bei Homecare Unternehmen, bei Sanitätshäusern und Apotheken von „Ausreichend“ bis „Mangelhaft“. Auch zeigt das Beispiel einer Verschreibung von „Endloswindeln“ als Hilfsmittelversorgung, dass bei der Verschreibung von Hilfsmitteln vieles im Argen liegt und dieser Prozess dringend optimierungsbedürftig ist. Die Stiftung Warentest kam zu dem Fazit, dass „kein Verlass auf Profis“ sei und wies auf das Verbesserungspotential hin.


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1.2. Problemstellung in der Uro-Geriatrie, Arbeitskreis „geriatrische Urologie“ der Deutschen Gesellschaft für Urologie

Der Arbeitskreis „geriatrische Urologie“ wurde 2018 gegründet. Im Auftrag des Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Urologie sollte den Besonderheiten des geriatrischen Patienten in der ambulanten und stationären Urologie Rechnung getragen werden; einen Sektor der urologischen Versorgung, der mit dem Begriff „Uro-Geriatrie“ umschrieben wird. Eine Definition dieses Begriffes wurde durch den Arbeitskreis publiziert [1]. Als Themen wurden definiert:

  1. Immobilität: Indikation, Durchführung, Folgen und Alternativen zur Harnblasenlangzeitdrainage

  2. Instabilität/Sturzneigung: Einflüsse und Folgen von Operationen und medikamentösen Therapien auf urologischem Sektor

  3. Irritabilität/Kognition: Veränderungen der Kognition nach urologischen Eingriffen und unter urologischer medikamentöser Therapie

  4. Harninkontinenz: Besonderheiten der Ätiologie, Diagnostik und Therapie der Harninkontinenz bei Hochbetagten und deren Einflüsse auf den Selbstbestimmungsgrad, die Mobilität und Lebensqualität

  5. Iatrogene Schädigung: Einflüsse der nicht-urologischen und urologischen Medikation bzw. Komedikation auf den Harntrakt und andere Organsysteme

  6. Besonderheiten bei Ursachen, Diagnostik und Therapie von Blasenfunktionsstörungen wie z. B. die Blasenatonie bei Hochbetagten

  7. Symptom „Makrohämaturie“ z. B. auch als Ausdruck von Medikamentenfolgen und Medikamenteninteraktionen im Spannungsfeld zwischen Blutverdünnung und Harntrakt-Risikofaktoren wie Blasenentleerungsstörungen, Infektionen, anatomischen Harntraktveränderungen z. B. bei BPH und anderen Erkrankungen des unteren Harntraktes

  8. Ergebnisse, Folgen und besondere Nebenerscheinungen von Operationen auf urologischem Fachgebiet bei Hochbetagten

  9. Sinnhaftigkeit und Nutzen von verschiedenen Assessments bei urologischen Patienten

  10. Nebenwirkungen und Folgen von etablierten urologischen Behandlungsmethoden bei Hochbetagten im Vergleich mit Jüngeren

Hier wird deutlich, dass für den vulnerablen, von Chronifizierung und Autonomieverlust bedrohten Betroffenen besonders durch die Kombination von Immobilität, Sturzneigung und kognitiven Veränderungen eine besondere Bewertung klassischer urologischer Behandlungsmethoden notwendig ist. Insbesondere beim multimorbiden Patienten mit wenig Therapiemöglichkeiten bekommt die angepasste Hilfsmittelversorgung des Betroffenen einen besonderen Stellenwert. Zu unterscheiden ist eine unabhängige Kontinenz von einer gut „versorgten“, sozial verträglichen oder akzeptierten Inkontinenz. In engem Austausch mit Patient, Angehörigen und unter Berücksichtigung der Art und der Schwere der Inkontinenz spielen eine richtige Versorgung mit adäquaten aufsaugenden Hilfsmitteln, beim Mann die Versorgung mittels Kondomurinal und ggf. eine Katheterversorgung eine wichtige Rolle.

Dies zieht einen Qualitätsanspruch für den Prozess einer Hilfsmittelversorgung nach sich, der neben der Materialqualität der einzelnen Produkte entscheidend für den Erfolg der Hilfsmittelversorgung ist.


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1.3. Prozessbeschreibung, Geltungsbereich

Der Prozess der Hilfsmittelversorgung vom Rezept bis zur Auslieferung umfasst viele Schnittstellen und Akteure unterschiedlicher Professionen und Fachrichtungen.

Gelebte Praxis ist, dass neben der ärztlichen Hilfsmittelversorgung der Betroffene selbst eine Beratungsleistung, zumeist bei leichter Harninkontinenz nachsucht. Diese Faktoren machen den Beratungsprozess anfällig für Informationsverluste und Qualitätsmängel.

Eine Reglementierung durch eine Leitlinienempfehlung, wie sie für andere Behandlungsoptionen selbstverständlich ist und häufig von mehreren Fachrichtungen parallel existieren, gibt es jedoch bisher nicht. Diesen Mangel will der Arbeitskreis „geriatrische Urologie“ der Deutschen Gesellschaft für Urologie ausgleichen und den Beratungsprozess bei der Hilfsmittelversorgung strukturieren, vereinheitlichen und verbessern. Dabei soll sich die vorliegende Leitlinie ausschließlich auf die Beratung zur Hilfsmittelversorgung bei Harninkontinenz beziehen und sich auf aufsaugende sowie sammelnde körpernahe und körperferne Hilfsmittel, die der Patient selbst benutzt, beziehen. Die Versorgung mit invasiven Hilfsmitteln (Katheter, Urethra-Pessare, etc.) ist ausdrücklich ausgenommen, diese erfolgt zusammen mit der Indikationsstellung und Erstberatung in aller Regel durch einen (Fach-) Arzt oder in Absprache mit diesem.

Geltungsbereich der Leitlinie soll die Hilfsmittelberatung in allen Verkaufs-Institutionen jenseits von Arztpraxen, Krankenhäusern und Kontinenzzentren sein. Hierzu zählen Apotheken, Sanitätshäuser und überregionale Versorger mit ihren Telefon-Hotlines.

Im Einzelnen sind damit gemeint (s. [Tab. 1]):

Tab. 1

Art der Hilfsmittel im Prozess der Hilfsmittelberatung

aufsaugend

körpernah

körperfern

Vorlagen

Betteinlagen

Futterale

Schutzhosen

sammelnd

Kondomurinal

Bettflasche

Toilettenstuhl

Toilettensitzerhöhung

funktionell-anatomisch

Inkontinenztampons

Der Beratungsprozess bei Hilfsmittelversorgung lässt sich in folgende Schritte gliedern (s. [Abb. 1]):

Zoom Image
Abb. 1 Prozess der Hilfsmittelberatung

Wünschenswert wäre eine Begleitung dieses Prozesses durch eine spezialisierte Pflegefachkraft, welche in Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen besondere Kenntnisse in der Versorgung von Personen mit Harn- und Stuhlinkontinenz erworben hat, wie das u. a. in den Niederlanden, in Skandinavien und in Australien die Regel ist.


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Zusatzmaterial



Publication History

Article published online:
01 April 2021

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  • Literatur

  • 1 Wiedemann A, Gleisner J, Karstedt H. et al. Geriatric urology: Definition. Urologe 2018; A57: 389
  • 2 Abrams P, Blaivas JG, Stanton SL. et al. The standardisation of terminology of lower urinary tract function. The International Continence Society Committee on Standardisation of Terminology. Scand J Urol Nephrol 1988; Suppl 114: 5-19
  • 3 Abrams P, Cardozo L, Fall M. et al. The standardisation of terminology in lower urinary tract function: report from the standardisation sub-committee of the International Continence Society. Urology 2003; 61: 37-49
  • 4 Batista Miranda JE, Da Silva Virgilio F, Granda Contijoch M. et al. Quantification of urine leaks: standardized one-hour pad test. Actas Urol Esp 1997; 21: 111-116
  • 5 Zuchelo LTS, Bezerra IMP, Da Silva ATM. et al. Questionnaires to evaluate pelvic floor dysfunction in the postpartum period: a systematic review. Int J Womens Health 2018; 10: 409-424