17 Mio
Mitglieder konnte XING 2019 im deutschsprachigen Raum verzeichnen. Damit ist die Plattform
in der D-A-CH-Region die beliebteste für berufliche Netzwerke.
Netzwerke begegnen uns an allen möglichen Orten und in vielen Zusammenhängen. Es gibt
kaum jemanden, der nicht in digitalen Netzwerken unterwegs ist. Für die allermeisten
von uns, insbesondere die sogenannte Generation der „Digital Natives“, gehören Facebook,
WhatsApp, Twitter, Instagram und Co. zum täglichen Leben dazu. Aber auch jenseits
der digitalen Welt haben wir mit einer Vielzahl von Netzwerken zu tun: im persönlichen
Umfeld von Familie, Freunden, als Mitglied in Vereinen, Clubs oder im ehrenamtlichen
Engagement. Dazu kommen Netzwerke im beruflichen Bereich, am Arbeitsplatz im Austausch
mit Kollegen und Vorgesetzten, Kooperationspartnern, auf Tagungen und in Fortbildungen
und im Umgang mit Klienten.
23 Millionen Menschen in Deutschland nutzten 2019 beispielsweise mindestens einmal
im Monat Facebook, 72 Prozent dieser Personen sogar täglich [1]. Berufliche Netzwerke kommen ebenfalls häufig zum Einsatz: Xing verzeichnete 2020
rund 19 Millionen Mitglieder im deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich, Schweiz),
bei Linkedln waren es etwa 14 Millionen. Im deutschen Verband der Ergotherapeuten
(DVE) sind rund 12.000 Mitglieder beruflich organisiert, im Bundesverband für Ergotherapeuten
in Deutschland (BED) rund 3.000.
Reduzierte Kontakte
In Zeiten der Corona-Pandemie wird die Bedeutung von sozialen Netzwerken auf besondere
Weise deutlich. Im privaten Bereich halten wir vor allem über digitale Kanäle Kontakt
zu Familie und zum Freundeskreis. Regelmäßige Videokonferenzen wurden für viele Menschen
zu einem Ritual, um miteinander im Austausch zu bleiben.
Je nach Arbeitsfeld erleben wir uns möglicherweise isoliert und distanziert von Kollegen,
Vorgesetzten und Klienten. Besprechungen mit persönlichem Kontakt wurden stark reduziert,
und Abstand halten zu Kollegen, Vorgesetzten und Klienten wurde zur Normalität. Aus
eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ich spüre, wie mir in meinem Klinikalltag der
zwanglose kollegiale Austausch, der üblicherweise „im Vorbeigehen an den Büros der
Kollegen“ stattfindet, fehlt. Größere, interdisziplinäre Besprechungen mit verschiedenen
Abteilungen wurden erheblich reduziert, und auch hier merke ich, wie mir für meine
tägliche Arbeit der Austausch in den sonst so im Arbeitsplan fest verankerten Übergaben,
Teamsitzungen und Fallbesprechungen fehlt.
Der Mensch hat ein Bedürfnis nach sozialem Kontakt und dem Gefühl von Verbundenheit.
Netzwerken als Kulturtechnik
Netzwerken als Kulturtechnik
In der Evolutionsgeschichte des Menschen spielen Gruppen und Gemeinschaften eine große
Rolle. Der Medienwissenschaflter Dr. Klaus-Dieter Müller unterstreicht das: „In der
Entwicklung der Gesellschaft haben sich zuerst Gemeinschaften herausgebildet: Jagdgemeinschaften,
Dorfgemeinschaften, Handwerkergemeinschaften, Ordensgemeinschaften usw. (...) Nach
den Gemeinschaften entstanden in der Gesellschaft Institutionen: Gerichte, Parlamente,
Kammern, Universitäten usw.“ [2].
Er führt weiter aus, dass im Zuge der Modernisierung Gemeinschaften immer mehr an
Bedeutung für die Organisation der Gesellschaft verloren haben. Gleichzeitig handelt
es sich aus evolutionspsychologischer Sicht beim Menschen um ein Gruppenwesen. Bedürfnisse
nach sozialem Kontakt, dem Erleben von Zugehörigkeit, Verbundenheit, Anerkennung und
Wertschätzung sind grundsätzlich tief verwurzelte Bedürfnisse von Menschen und suchen
nach Bestätigung und Befriedigung. Mit der fortschreitenden Modernisierung und Globalisierung
kam es zu einer zunehmenden Individualisierung des Menschen. In diesem Zusammenhang
kann man die Gründungen von (beruflichen) Netzwerken als eine Antwort auf diese gewaltigen
gesellschaftlichen Veränderungen und Herausforderungen verstehen [3].
Netzwerken ist Beziehungsarbeit.
Definitionen
Schlägt man den Begriff „soziales Netzwerk“ im Pschyrembel nach, findet man dort folgende
Definition: „Beziehungen zwischen definierten Elementen eines sozialen Systems (in
der Regel Personen) als Gestalt (zum Beispiel mit Merkmalen wie Größe oder Dichte
der Verbindungen), als Summe relationaler Eigenschaften (zum Beispiel intime Beziehungen)
oder als Träger funktionaler Merkmale (Kontrolle und Unterstützung)“ [4]. Zum Netzwerken (Networking) findet man unter anderem folgende Erklärung: „Netzwerken
ist freiwillige Beziehungsarbeit mit Menschen vergleichbarer oder sich ergänzender
Interessen. Sie ist gekennzeichnet durch den vertrauensvollen Austausch von Informationen,
Kontakten und Wissen. Sie bringt Freude, schafft Bindungen und dient dem gegenseitigen
Nutzen in finanzieller und ideeller Weise gleichermaßen und soll persönliche Entwicklungen,
Erfolg, Sicherheitsempfinden und Glück aller Beteiligten fördern“ [2].
Im beruflichen Kontext versteht man unter Networking „alle Verhaltensweisen (...),
die dem Aufbau und der Aufrechterhaltung von informellen Beziehungen dienen, deren
(potenzieller) Effekt es ist, arbeitsbezogene Handlungen der beteiligten Person durch
freiwilliges Zur-Verfügung-Stellen von Ressourcen zu erleichtern und gemeinsame Vorteile
zu optimieren“ [5]. Die Sozialpädagogin Edeltrud Freitag-Becker hebt in diesem Zusammenhang die Aspekte
von sozialer Unterstützung, Beziehung, Kommunikation sowie Kooperation und weniger
monetäre Aspekte von Netzwerken hervor [3].
Merkmale sozialer Netzwerke
Merkmale sozialer Netzwerke
Bei aller Unterschiedlichkeit der Definitionen gibt es gemeinsame Aspekte, die in
vielen Theorien eine Rolle spielen. Soziale Netzwerke haben immer einen dynamischen,
sich kontinuierlich verändernden Aspekt. Des Weiteren lassen sie sich in Bezug auf
ihre primäre Verortung im privaten oder beruflichen Feld unterscheiden. In diesem
Zusammenhang wird auch vom persönlichen Netzwerk als üblicherweise auf lange Zeit
angelegte Verbindungen im Familien- und Freundeskreis verwiesen [6]. Diese Netzwerke sind begründet in gegenseitigem Interesse aneinander und sind gekennzeichnet
durch einen starken sozialen Aspekt.
Berufliche Netzwerke sind Netzwerke innerhalb der eigenen Organisation, in welchen
Menschen arbeiten. Beruflich orientierte Netzwerke außerhalb der eigenen Organisation
sind beispielsweise Qualitätszirkel, Intervisions- und Supervisionsgruppen. Dazu zählen
aber auch Aus- und Weiterbildungsgruppen oder die Organisation in Berufsverbänden.
ABB. 1 Impulse für die Beschäftigung mit dem eigenen beruflichen Netzwerk
Abb.: A. Brünen; Umsetzung: Thieme Gruppe
ABB. 2 In der Ergotherapie gibt es beim beruflichen Networking drei verschiedene Ebenen,
die eng miteinander zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen.
Abb.: A. Brünen; Umsetzung: Thieme Gruppe
Die allermeisten unserer Netzwerke bedienen sich sowohl digitaler als auch analoger
Austausch- und Kommunikationsformen. Es gibt drei Aspekte, wodurch digitale Netze
zu erheblicher Veränderung unserer gesellschaftlichen Welt führen [2]: die Geschwindigkeit und zeitliche Verdichtung, die Überwindung räumlicher Entfernung
und die Zusammenführung ansonsten getrennter Akteure. Insofern ist anzunehmen, dass
digitale und analoge Kommunikations- und Austauschebenen spezifische Besonderheiten
mit sich bringen, welche sowohl auf die Art und Weise der Entstehung von Netzwerken,
aber auch auf die Art und Weise des Austausches untereinander Einfluss nehmen.
ergopraxis geht ins Ohr
Wer mehr über das Netzwerken und dessen Wert für den Beruf erfahren will, dem sei
die neueste Folge des „Performance Skills“-Podcasts empfohlen: Andreas Brünen spricht
darüber, wie Therapeuten vom Networking profitieren können und wie man die zum Teil
anstrengende Kontaktpflege zur Tugend macht. Einfach QR-Code scannen und reinhören!
Drei Ebenen des Netzwerkens
Drei Ebenen des Netzwerkens
Betrachtet man Networking aus einer beruflichen Perspektive, berührt es drei unterschiedliche,
aber eng miteinander verbundene und sich wechselseitig beeinflussende Ebenen und sorgt
hier für Nutzeneffekte (ABB. 2, S. 27):
1. Ebene der Klienten: Diese profitieren von vernetzten Strukturen des Gesunheitswesens, von spezialisierten
Versorgungsnetzwerken, von gut vernetzten Ergotherapeuten und anderen Berufsgruppen
des Gesundheits- und Sozialwesens.
2. Ebene der eigenen professionellen Rolle: Berufliche Netzwerke können zur (Weiter-)Entwicklung der eigenen beruflichen Rolle
beitragen. Auch die persönliche Schärfung eines beruflichen Profils ist hier zu nennen.
3. Ebene der Ergotherapie als Profession: Networking, der Aufbau und die Pflege von berufspolitischen, forschungs- und wissenschaftsfördernden
Netzwerken, Interessenvertretungen und Lobbygruppen fördern die Professionsentwicklung
der Ergotherapie. Sie sind insofern auch von gesellschaftlicher Bedeutung und dienen
dem Wohl der Gesellschaft.
1. Ebene der Klienten:
In der Literatur lässt sich eine Vielzahl an Studien finden, in denen der Effekt von
(spezialisierten) Versorgungs- und Behandlungsnetzwerken deutlich wird. Zum Beispiel
im Rahmen der sogenannten integrierten Versorgung, aber auch anderer innovativer vernetzter
Behandlungsansätze: „Angebote der Integrierten Versorgung (IV) zielen ab auf eine
patientenorientierte interdisziplinäre medizinische Versorgung durch eine enge Kooperation
unterschiedlicher Leistungserbringer (zum Beispiel Haus- und Fachärzte, ärztliche
und nichtärztliche Leistungserbringer, Krankenhäuser, medizinische Versorgungszentren,
Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen, Arztnetze). Hierdurch sollen die Qualität
und die Wirtschaftlichkeit der medizinischen Versorgung verbessert werden“ [7]. So wird etwa in einer Untersuchung zur integrierten Versorgung von Essstörungen
gezeigt, dass Patienten davon sehr profitierten, das Angebot als sehr positiv erlebten
und auch günstige Effekte in Bezug auf Reduzierung von Symptomatik erzielt werden
konnten [8].
Eine Studie zur integrierten Versorgung von Patienten mit psychotischen Erkrankungen
über einen Vier-Jahres-Zeitraum konnte eine deutliche und anhaltende Verbesserung
der Symptomatik, des klinischen Schweregrads, der Lebens- und Alltagsbewältigungskompetenz,
der Lebensqualität und letztlich der Behandlungszufriedenheit der Patienten zeigen
[9].
Aber auch in anderen Bereichen des Gesundheitswesens gibt es Untersuchungen, die den
Nutzen von Versorgungsnetzwerken belegen. Eine Studie von 2013 beschreibt beispielsweise
den Nutzen einer integrierten Versorgung von Menschen mit chronisch entzündlichen
Darmerkrankungen [10]. Untersuchungen an Patienten mit chronischen Rückenschmerzen konnten die Effektivität,
aber auch Kosteneinsparungen von interdisziplinär multimodal angelegter Schmerztherapie
im Vergleich zu konventioneller Behandlung belegen [11].
2. Ebene der professionellen Rolle:
Es liegt auf der Hand, dass berufliche Netzwerke der eigenen Karriere und beruflichen
Fortentwicklung nutzen und auch dafür eingesetzt werden [12]. Ihr Vorteil geht aber weit über materielle Nutzeneffekte hinaus. Vielmehr geht
es beim Networking immer auch um den Zugang zu sozialen Ressourcen, das Erlernen neuer
Fähigkeiten, das Erleben von sozialer Unterstützung, Entlastung (Psychohygiene) und
somit auch um den Erhalt der professionellen Handlungsfähigkeit.
So beschreiben mehrere Autoren den Resilienz fördernden Effekt von Netzwerken auf
psychische Gesundheit, sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich [3], [13]. Eine Untersuchung aus Australien aus dem Jahr 2004 zeigt, dass Ergotherapeutinnen,
die neu in den Beruf starten, von der Einbindung in berufliche Netzwerke profitieren
können. Sie haben es leichter, berufliche Fertigkeiten zu entwickeln. Demgegenüber
zeigte sich ein Mangel an Unterstützung in einer erhöhten Verunsicherung in Bezug
auf die eigene berufliche Rolle und zog auch einen Verlust an Arbeitszufriedenheit
nach sich [14].
ABB. 3 Im Privaten halten wir vor allem über digitale Kanäle Kontakt, doch auch in den beruflichen
Bereich haben Smartphone und Co. Einzug gehalten.
Abb.: K. Oborny/Thieme Gruppe (Symbolbild)
Digital
vernetzt sind wir aus verschiedenen Gründen: So halten wir Kontakt zu Freunden und
Familie, tauschen uns zu beruflichen Fragen aus oder bilden uns weiter.
Bei der Ergotherapie handelt es sich wie bei allen Berufen im Sozial- und Gesundheitswesen
um eine Profession, in der neben Techniken, Methoden usw. ein erheblicher Teil der
Arbeit mit Klienten im Rahmen einer professionellen therapeutischen Beziehung stattfindet.
Insofern ist die stetige Weiterentwicklung der eigenen Rolle in Bezug auf die Fähigkeit,
mit dem Klienten eine professionelle und hilfreiche Arbeitsbeziehung eingehen und
aufrechterhalten zu können, die Grundvoraussetzung für eine gelingender Arbeit.
3. Ebene der Ergotherapie als Profession
Die Ergotherapie beschäftigt sich mit der gesellschaftlich relevanten Aufgabe, Klienten
zu behandeln, zu fördern und zu stärken. Netzwerkstrukturen sorgen für die Weiterentwicklung
und -verbreitung der Ergotherapie.
Soziale und gesellschaftliche Innovationen benötigen Netzwerke, in denen sie entstehen
können. Wissenschafts- und Forschungsnetzwerke übernehmen die Funktion der Generierung
von Wissen, der Professionalisierung und Akademisierung der Ergotherapie und liefern
Berufsverbänden Argumente für Lobbyarbeit und gesellschaftliche Einflussnahme, beispielsweise
bei Gesetzgebungsverfahren im Gesundheitsbereich.
Nicht zuletzt spielt auch aus psychologischer Sicht die Zugehörigkeit zu Gruppen eine
erhebliche Rolle beim Erleben der eigenen Identität. Insofern ist die Zugehörigkeit
zu einer Berufsgruppe und den damit verbundenen professionellen und berufsbezogenen
Netzwerken nicht nur aus individueller Perspektive, sondern auch aus Sicht der gesamten
Berufsgruppe ein elementarer Faktor in der Entwicklung von Professionen.
Weiterentwicklung und Engagement
Weiterentwicklung und Engagement
Networking hat auf verschiedenen Ebenen positive Effekte. Gehen Sie in berufliche
Netzwerke und nutzen Sie diese für Ihr persönliches berufliches Fortkommen. Engagieren
Sie sich für Ihren Beruf, beteiligen Sie sich berufspolitisch, bringen Sie sich ein
und verhelfen Sie damit auch der Ergotherapie zu einer kontinuierlichen Weiterentwicklung.
Dabei kommt es auch auf Sie persönlich an. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Netzwerken!
Andreas Brünen