Eine der 5 Leserbriefverfasserinnen, Catherine Seo, Gründerin und Director von „Lipedema
Simplified“, ist auch Gründerin und Co-Director von „The Lipedema Project“ – gemeinsam
mit dem Liposuktions-Arzt Mark Smith [3 ]. Die anderen Mitverfasserinnen sind auch Akteurinnen dieses „Lipedema Projects“,
die sich zumindest im Leserbrief alle „President“ oder „Director“ nennen. Auf der
Website von „The Lipedema Project“ fungiert lediglich Leslyn Keith, eine Physiotherapeutin
und Keto-Coach, als President. Die erstgenannte Verfasserin, Brenda Gold, wird dort
als „Emotional Freedom Coach“, Raeann Sparks als „Keto Coach & Mobility Consultant“
aufgeführt [4 ]. IngMarie Bohmelin, die sich im Leserbrief ebenfalls „President“ nennt, ist die
Leiterin einer – lokalen – schwedischen SH-Gruppe und nicht – wie suggeriert – der
nationalen schwedischen Patientenvertretung [5 ]. IngMarie Bohmelin steht mit ihrer Haltung ohnehin in scharfem Kontrast zur offiziellen
nationalen Swedish Lymphedema Association (Svensk Förening för Lymfologi, SFL), die
den Erstautor dieser Replik im November 2019 nach Stockholm eingeladen hatte, um über
die Mythen und Fakten des Lipödems zu referieren. Der Vorstand der SFL, dem u. a.
auch die weltweit renommierten Lymphologen Karin Johansson sowie Hakan Brorson angehören,
hat darüber hinaus auch alle 5 Teile der Artikelserie „Lipödem – Mythen und Fakten“
[6 ]
[7 ]
[8 ]
[9 ]
[10 ] inklusive des in Teil 5 enthaltenen European Consensus auf der offiziellen Homepage
der SFL verlinkt [11 ].
Neben den beschriebenen Gemeinsamkeiten – über die wir uns freuen – kritisieren die
Leserbriefautoren im Wesentlichen 4 Punkte der Artikelserie bzw. des European Consensus,
die sich teilweise mit der Kritik des Leserbriefes von Karen Herbst and friends decken.
Wiederholungen in dieser Replik mit der Replik auf den Herbst-Leserbrief [1 ] lassen sich daher nicht vermeiden. Generell spiegelt auch dieser Leserbrief die
US-amerikanische Sichtweise des Lipödems wider, die man auf diese 4 Statements herunterbrechen
kann:
Adipositas und psychische Störungen der Patientin mit Lipödem werden (wenn überhaupt)
eher als Komorbiditäten betrachtet, nicht als hochrelevante Lipödem-aggravierende
Begleiterkrankungen.
Als dicker empfundene Beine (im Leserbrief „Dysmorphia“ genannt) werden – ganz unabhängig
von einer Beschwerdesymptomatik – als Lipödem diagnostiziert. Eine Differenzierung
in Lipohypertrophie (die beschwerdefreie überproportionale Fettgewebsvermehrung der
Beine) und Lipödem wird von der US-amerikanischen Selbsthilfeorganisation abgelehnt.
Das Lipödem inkludiert eine lymphatische Dysfunktion; daher müssen entstauende Maßnahmen
wie manuelle Lymphdrainagen zur Therapie eingesetzt werden.
Bariatrische Chirurgie ist keine empfehlenswerte Therapieoption – auch dann nicht,
wenn die Patientin mit Lipödem schwer adipös ist und einen BMI > 40 kg/m² aufweist.
Zu 1.
Die US-amerikanische Patientinnenvertretung schreibt: „We agree with setting aside unsubstantiated claims and assertions from the past but
we caution against adopting new hypotheses that have not themselves been scientifically
validated, and treating them as established or proven. We prefer to acknowledge comorbidities
with lipedema addressing them in the present without ascribing causal relations. “
Die beiden im European Consensus on Lipedema genannten wesentlichen Komorbiditäten
des Lipödem-Syndroms sind Adipositas sowie Erkrankungen aus dem psychischen Spektrum,
wie z. B. Depressionen oder Essstörungen. Zur Adipositas schreibt der Consensus im
„Diagnostic Approach“: „Overweight/obesity is an aggravating factor of Lipoedema …
Conclusion: Obesity/weight gain must me focused on“ [10 ]. Mit diesem Statement wurde keine Kausalität hergestellt, allerdings auf die – von
Lipödem-Akteurinnen gerne ignorierte – Adipositas als bedeutsamen und aggravierenden
Faktor hingewiesen. Die internationale Datenlage ist hier sehr konsistent. Weit mehr
als 80 % der Patientinnen mit der Diagnose Lipödem sind adipös, ca. 50 % der Patientinnen
sind sogar morbid adipös, haben also einen BMI > 40 kg/m² [12 ]
[13 ]
[14 ]
[15 ]
[16 ]
[17 ]. Hier die Adipositas als entscheidenden Einflussfaktor auf das Lipödem zu missachten
ist vergleichbar mit dem Vorgehen, das eigene Haus brennen zu lassen und stattdessen
die Garage zu löschen
Zur psychischen Situation der Lipödem-Patientin schreibt der Consensus:
„Psychological issues are an additional aspect of Lipoedema. Impact of psychological
distress is underestimated. Psychological vulnerability contributes to the amount
of pain perception … Conclusion: Psychological assessment is a must“ [10 ].
Auch hier wurde keine Kausalität postuliert – allerdings auf den profunden Zusammenhang
zwischen psychischer Belastung (oft auch manifester psychischer Störung) und der Diagnose
Lipödem hingewiesen. In einer Untersuchung der Autoren dieser Replik im Europäischen
Zentrum für Lymphologie an 150 Patientinnen mit der gesicherten Diagnose Lipödem-Syndrom
präsentierten 80 % der Frauen psychische Störungsbilder (meist Depression, Essstörung
oder posttraumatische Belastungsstörung) oder eine schwere psychische Beeinträchtigung,
wie z. B. Burn-out oder chronische Stressbelastung. Diese Störungsbilder bzw. schweren
psychischen Beeinträchtigungen bestanden jedoch bereits vor der Entwicklung Lipödem-assoziierter Schmerzen im Weichteilgewebe [18 ]. Damit kann – formallogisch – die Erkrankung Lipödem-Syndrom nicht Ursache dieser
psychischen Belastung sein, was häufig behauptet wird.
Darüber hinaus ist auch der Einfluss psychischer Belastungen und Krankheiten auf die
Schmerzentstehung sowie auf die Schmerzwahrnehmung breit untersucht und sehr konsistent
[19 ]
[20 ]
[21 ]
[22 ]
[23 ]
[24 ]
[25 ]. In unserer Untersuchung an Patientinnen mit Lipödem waren Depression und Essstörungen
im Vergleich zur Prävalenz dieser psychischen Störungsbilder in der Allgemeinbevölkerung
[18 ] vor allem im 12-Monats-Zeitraum vor der Entstehung der Lipödem-assoziierten Schmerzsymptomatik
stark erhöht. Auch hier gilt wieder das Bild des brennenden Hauses: Psychische Erkrankungen
und Belastungen müssen bei der Betrachtung des Lipödems berücksichtigt und ins Behandlungskonzept
integriert werden.
Manche Patientinnen mit der Diagnose Lipödem mögen noch weitere Komorbiditäten aufweisen
(wie z. B. Bluthochdruck, Diabetes mellitus oder ein Lymphödem). Diese haben allerdings
keinen vergleichbar relevanten Einfluss auf die Erkrankung Lipödem-Syndrom wie Adipositas
und psychische Störungen.
Zu 2.
Den zweiten Kritikpunkt beginnt die US-amerikanische Selbsthilfegruppe mit dem Satz:
„Second, we are concerned that in a field where there is so much uncertainty, the
Forum members were forced to admit that „Serious scientific data on the patient’s
perspective do not exist.“ This is even more worrying in that „crucial questions“
the Forum members articulated were: „What do our patients with lipoedema really SUFFER
from?“ and „What is the therapeutic goal from the patient’s point of view?““
Offensichtlich wurde hier von den Leserbriefautoren übersehen, dass unsere „crucial
questions“ rein rhetorischer Natur waren, erfolgte doch die Beantwortung dieser Fragen
durch das Expertengremium unmittelbar:
„Patients with lipoedema suffer to varying degrees from:
pain/other symptoms in the soft tissues of the legs or arms
greater psychological vulnerability, which may in turn potentiate the pain
a lack of self-acceptance, mainly because of today’s ideal of beauty
overweight or obesity with numerous attempts at dieting
a lack of physical exercise and fitness, especially in obese patients“ [10 ].
Von dieser – auch durchaus in Umfragen an zahlreichen Frauen mit Lipödem bestätigten
– Leidenskonstellation ausgehend entwickelte die europäische Expertengruppe dann das
dargestellte Therapiekonzept.
Ausführlich widmet sich der Leserbrief dem Begriff „Dysmorphia“, ein Terminus, der
in diesem Abschnitt 10-mal aufgeführt wird und damit zeigt, welche Bedeutung dieses
Symptom für die US-amerikanische Selbsthilfegruppe hat. Aus deren Sicht stellt die
„Dysmorphia“ das einzige und alleinstehende Kriterium zur Diagnosestellung des Lipödems
dar. „Dysmorphia is not a cosmetic issue, but a divergence from the anatomically normal
that has real, verifiable musculoskeletal consequences in everyday life and in rehabilitation. “
Wir bestreiten nicht, dass es Patientinnen gibt, für die diese Beschreibung zutrifft,
Patientinnen mit ausgeprägter disproportionaler Fettgewebsvermehrung der Beine. [Abb. 1 ] zeigt eine Patientin, bei der der Terminus „Dysmorphia“ durchaus Anwendung finden
kann. Allerdings sehen wir im Europäischen Zentrum für Lymphologie diese Patientinnen
nur sehr selten – sicherlich weniger als 5-mal, bei ca. 3500 Patientinnen, die uns
jährlich ambulant und stationär mit der Diagnose Lipödem zugewiesen werden. Deutlich
häufiger sehen wir Frauen mit der Zuweisungsdiagnose Lipödem wie in [Abb. 2 ], für die der Begriff „Dysmorphia“ auch zutreffen könnte, die allerdings 2 weitere
lymphologisch relevante und – vorrangig – behandlungsbedürftige Krankheiten aufweisen:
eine morbide Adipositas (mit einem BMI von 58 kg/m²) und Adipositas-assoziierte Beinlymphödeme.
Abb. 1 Patientin mit Lipödem-Syndrom und ausgeprägter disproportionaler Fettgewebsvermehrung
der Beine. Quelle: Dr. Tobias Bertsch, Földiklinik Hinterzarten.
Abb. 2 Patientin mit morbider Adipositas III°, Adipositas-assoziierten Beinlymphödemen sowie
einem Lipödem-Syndrom. Quelle: Dr. Tobias Bertsch, Földiklinik Hinterzarten.
Die mit Abstand größte Patientinnengruppe unter den uns von hausärztlichen und phlebologischen
Kollegen zugewiesenen Frauen mit der Diagnose Lipödem zeigen die [Abb. 3 ], [4 ]; Patientinnen, bei denen aus unserer Sicht eher die Erkrankung Adipositas als eine
(auch additiv) bestehende Disproportion der Beine ins Auge springt.
Abb. 3 Patientin mit Adipositas und Lipödem-Syndrom. Quelle: Dr. Tobias Bertsch, Földiklinik
Hinterzarten.
Abb. 4 Patientin mit morbider Adipositas III° und Lipödem-Syndrom. Quelle: Dr. Tobias Bertsch,
Földiklinik Hinterzarten.
Dass das von den Leserbriefschreiberinnen geforderte Konzept der „Dysmorphia“ aber
auch durchaus kritisch zu hinterfragen ist, zeigen die – täglich – uns mit der Diagnose
Lipödem zugeführten Frauen in [Abb. 5 ], [6 ], die einen hohen Leidensdruck aufgrund der subjektiv wahrgenommenen Disproportionalität
der Beine aufweisen (oder um im Jargon der Leserbriefschreiber zu bleiben: an „Dysmorphia“
leiden) und eine Befürwortung zur Liposuktion erbitten.
Abb. 5 47-jährige Frau mit – aus medizinischer Sicht – gesunden Beinen. Quelle: Dr. Tobias
Bertsch, Földiklinik Hinterzarten.
Abb. 6 22-jährige Frau mit – aus medizinischer Sicht – gesunden Beinen. Quelle: Dr. Tobias
Bertsch, Földiklinik Hinterzarten.
Nebenbei bemerkt: Beide Patientinnen in den [Abb. 5 ], [6 ] äußerten weder im Rahmen der Anamnese noch bei der klinischen Untersuchung eine
Schmerzsymptomatik, sodass wir weder die für die Diagnose Lipödem notwendige Disproportionalität noch das ebenso erforderliche Kriterium „Beschwerden“
klinisch nachvollziehen konnten. Auch diese im Europäischen Consensus definierten
Diagnosekriterien werden von den US-amerikanischen Akteurinnen nicht akzeptiert: „we cannot agree with the division of associated dysmorphia into two diagnostic categories:
lipedema and lipohypertrophy.“
Noch einmal zurück zum Dysmorphia-Konzept der US-Amerikanerinnen: Die Autorinnen des
Leserbriefes bleiben die Antwort schuldig, welche Kriterien für das Symptom „Dysmorphia“
herangezogen werden sollen, wer letztlich darüber entscheidet, ab wann ein Bein wirklich
„dysmorph“ ist. Die Medien durch das von ihnen propagierte Schönheitsideal? Die Patientin
selbst? Der absaugende Arzt? Bei Letzterem vermischen sich sicher merkantile Interessen
mit medizinischen – was der Medizin selten guttut. Soll die Patientin entscheiden?
Nur äußerst wenige Frauen, die der Erstautor dieser Replik in seiner lymphologischen
Ambulanz sieht, zeigen – aus subjektiver Sicht des Untersuchers – eine dysmorphe Beinkonfiguration.
Allerdings empfinden nahezu alle der überwiesenen Frauen die Konfiguration ihrer Beine
als disproportional bzw. „dysmorph“. Im Übrigen teilen auch die häufig mitanwesenden
Partner der Frauen (die der untersuchende Erstautor regelmäßig mitbefragt) nicht deren
kritischen Blick auf die Beine ihrer Partnerinnen.
Während des lymphologischen Weltkongresses (des ILF) 2018 in Rotterdam begann der
Erstautor dieser Replik seinen Vortrag zum Thema „Mythen und Fakten des Lipödems“
mit der Frage ins Publikum: „Who of you are happy with your legs?“ Im Publikum saßen
etwas 500 Zuhörer, in der Mehrheit Zuhörerinnen – wohlgemerkt keine Patientinnen,
sondern Therapeutinnen, Ärztinnen, Wissenschaftlerinnen. Fünf Hände gingen in die
Höhe, das entsprach in etwa auch der Gegenprobe. Dies macht eines deutlich: Wir haben
es beim Thema „Frauenbeine“ sicher nicht regelmäßig mit einem medizinischen, sondern
häufig auch mit einem gesellschaftlichen Phänomen zu tun.
Wir stimmen den Schreiberinnen des Leserbriefes zu, dass Frauen mit Lipödem Expertinnen
ihrer eigenen Lebens- und Leidenswirklichkeit sind – genauso übrigens wie Frauen mit
Depressionen, Brustkrebs, Lymphödemen oder Polyarthrose (ohne, dass wir uns hiermit
auf eine „Was ist die schlimmere Krankheit“– Diskussion einlassen wollen). Allerdings
– und das unterscheidet die „Lipödem-Patientinnen-Bewegung“ von den genannten und
allen anderen Erkrankungen – entscheiden dort Ärzte und wissenschaftlich fundierte
Fakten über Krankheitskonzepte und Therapie und nicht Sichtweisen oder Wünsche von
Patientinnen; Patientinnen, die (sicher auch aufgrund ärztlicher Fehlinformationen!)
glauben, dass manuelle Lymphdrainagen und Liposuktion für das Lipödem zwingend notwendige
Therapieoptionen darstellen.
Zu 3.
Die Leserbriefautoren schreiben: „Third, contrary to the view of this series, evidence of an edema component in lipedema
continues to mount. Several imaging studies have shown damaged lymphatics in a significant
proportion of women with lipedema independent of severity of their condition. “
Hervorgehoben werden hier die Studie von Crescenzi et al. [26 ] sowie der gerade von Stanley Rockson et al. propagierte Biomarker PF4 [27 ].
In der Studie von Crescenzi wurden 10 Frauen mit der Diagnose Lipödem mittels spezialisierten
MRT-Messungen untersucht. Eingeschlossen wurden hierbei auch Frauen mit einem sog.
„Lipolymphödem“ (eine Diagnose, die ohnehin nicht korrekt ist [6 ]
[17 ]
[28 ], die aber verdeutlicht, dass die untersuchten Frauen additiv zum Lipödem auch an
einem Lymphödem litten). Darüber hinaus wurden schwer adipöse Patientinnen mit einem
maximalen BMI von 48,9 kg/m2 eingeschlossen (in der Kontrollgruppe lag dieser nur bei 38,6!), die per se schon
aufgrund ihrer Adipositas ein deutlich erhöhtes Risiko für eine Lymphabflussschwäche
haben [28 ]. Die Autoren der Studien fanden erhöhtes Sodium im Gewebe der untersuchten Patientinnen
und stellten fest: „Skin sodium accumulation is an ermerging hallmark of inflammatory
diseases and cardiovascular risk factor“ [26 ]. Dieser Befund stützt unsere in mehreren Publikationen dargelegte Auffassung, dass
dem Lipödem eine „low grade inflammation“ des Fettgewebes zugrunde liegt [7 ]
[10 ]
[17 ].
Von den Ergebnissen dieser Untersuchung aber darauf zu schließen, dass das Lipödem
eine lymphatische Dysfunktion und daraus folgend ein Ödem inkludiert; ein Ödem, welches
mit MLD entstaut werden muss, ist ein gewagter pathophysiologischer Kunstgriff, der
durch nichts belegt ist.
Auch der in Lipödem-Foren gerade propagierte PF4-Biomarker wurde im ersten US-amerikanischen
Leserbrief bereits erwähnt. Damit soll, so die Autoren um Stanley Rockson von der
Stanford University, gezeigt werden, „that in lipedema, lymphatic disfunction plays
a role“ [27 ].
In einem Webinar, das von Lipedema Simplified (bzw. vom Lipedema Project) organisiert
wurde, interviewt Catherine Seo, eine der Leserbriefverfasserinnen, Stanley Rockson
zu diesem Thema.
Rockson zeigt hier eine von ihm als Lipödem diagnostizierte Patientin, die erhöhte
PF4-Werte aufweist. Tatsächlich leidet die von ihm dargestellte Patientin vorrangig
an einem ausgeprägten LYMPHÖDEM – vermutlich Adipositas-assoziiert, mit deutlicher
Stauungsdermatose. Wir glauben gerne, dass bei DIESER Patientengruppe eine lymphatische
Dysfunktion vorliegt. Die richtige Diagnosestellung, konkret die Differenzierung der
Krankheit Lymphödem von der Krankheit Lipödem, ist aber unabdingbare Voraussetzung,
um zu validen und seriösen Studienergebnissen zu kommen. Interessierte an diesem kurzen
Videoclip von Rockson dürfen gerne den Erstautor dieser Replik um Zusendung bitten.
Alternativ kann auch das gesamte Webinar von Catherine Seo angeschaut werden [29 ]
Darüber hinaus zeigen auch die anderen von den Leserbriefautoren in diesem Kontext
aufgeführten Studien die bereits in unseren anderen Arbeiten genannten Schwächen [7 ]
[17 ] und sind daher in keiner Weise geeignet, die gemachten Behauptungen zu untermauern.
So präsentieren in der Arbeit von Lohrmann et al. 8 der 13 untersuchten Patientinnen
die nicht korrekte Diagnose „Lipolymphödem“, die aber darauf hinweist, dass auch Patientinnen
mit Lymphödem – und damit schon klinisch nachweisbarer Lymphabflussschwäche – in die
Studie aufgenommen wurden [30 ]. Darüber hinaus wurden keine Angaben zum BMI der Patientinnen gemacht, sodass der
Einfluss der Adipositas auf das Lymphödem unklar bleibt. In der zweiten aufgeführten
Arbeit (Forner-Cordero I. et al) bekennen die Autoren selbst, dass „because of a lack
of a test of diagnostic certainty of lipedema we may have included patients with lymphedema
instead of lipedema and would justify the lymphoscintigraphic findings“ [31 ]. Die bei Forner-Cordero untersuchten Frauen waren bis 80 Jahre alt. Es ist gut belegt,
dass mit zunehmendem Alter auch bei gesunden Menschen die lymphatische Funktion nachlässt.
Entscheidend hierbei sind der altersbedingte Verlust der Glykokalyx sowie die vermehrte
Produktion von proinflammatorischen Zytokinen, die die Permeabilität der Lymphgefäße
erhöhen [32 ]. Auch bei der dritten von den Leserbriefverfassern angegebenen Arbeit [33 ] beträgt das Durchschnittsalter der Frauen 54,8 Jahre, der durchschnittliche BMI
liegt bei 35,9, auch hier werden wieder Patientinnen mit der nicht korrekten Diagnose
„Lipolymphödem“ untersucht – alles Kriterien, die die Aussagekraft erheblich einschränken.
Überhaupt liest sich die Arbeit der Kollegen der Plastischen Chirurgie des Keck Medical
Centers aus Los Angeles, die ihren Patientinnen mit Lipödem gerne gleich 2 Operationen
anbieten, wie eine Werbeschrift: „A combination of lymphovenous anastomosis and debulking
surgery, for expample, has been performed at our institution can offer improvement
in physiologic drainage of excess lymphatic fluid and removal of excess adipose tissue,
respectively“ [33 ]. Wie bereits an anderer Stelle vermerkt, gilt auch hier: „Money makes the world
go round“ [1 ].
Noch einmal zum US-amerikanischen Lipödem-Weltbild und der angeblichen „evidence of an edema component in lipedema “.
Ödeme sind bekanntlich definiert als „abnorme Flüssigkeitsansammlung“ im Gewebe [34 ]. Bisher konnten allerdings weder klinische Untersuchungen noch Bildgebungen jemals
ein relevantes Ödem bei Patientinnen mit Lipödem-Syndrom nachweisen [7 ]. Eine multizentrische Studie mit hochauflösendem Ultraschall bei Patientinnen mit
der Diagnose Lipödem fand keinen Nachweis für Flüssigkeit im Weichteilgewebe der Beine
[35 ]. In einer 2020 erschienenen Studie, in der Patientinnen mit Lipödem-Syndrom mittels
MR-Lymphografie untersucht wurden, konkludieren die Autoren: „The fat tissue was homogenous,
without any signs of edema in pure lipedema patients“ [36 ]. Auch in histologischen Untersuchungen wurde niemals die Präsenz eines Ödems beschrieben
[7 ]. Reich-Schupke, Altmeyer und Stücker schrieben bereits 2012 in einem bemerkenswerten
Artikel: „Der Begriff „Lipödem“ ist eigentlich irreführend, da es sich nicht um ein
Ödem, also um eine Flüssigkeitseinlagerung im Gewebe handelt“ [37 ]. Dies wurde auch von den Autoren der niederländischen Lipödem-Leitlinie bestätigt,
in der sie den Terminus Lipödem als unglücklich („unfortunate term“) beschreiben,
da er Flüssigkeit im Gewebe suggeriert, wo keine Flüssigkeit zu finden ist [38 ]. Das European Lipoedema Forum – eine hochrangig besetzte internationale Expertengruppe
aus 7 europäischen Ländern – resümierte in einem vielbeachteten Consensuspapier: „There
is no scientific evidence that Lipoedema is an „oedema problem‘“ (Hervorhebung im Original)
[10 ]. Dieser European Consensus wird inzwischen von Key Opinion Leaders aus 10 europäischen
Ländern unterstützt [17 ]. Last but not least: Prof. Hugo Partsch, einer der renommiertesten Phlebologen weltweit,
stellt in seinem Vorwort in dem inzwischen auch international publizierten International
Consensus Document fest: „…lipoedema neither include oedema nor is there any evidence
for lymphatic insufficiency. For this reason, decongestive lymphatic therapy is an
inadequate treatment for patients with pure lipoedema“ [17 ].
Zu 4.
Einigkeit besteht erfreulicher darin, dass temporär durchgeführte Diäten unbedingt
vermieden werden sollen. „Indeed, dietary intervention must constitute a life-long change. “ Dieser Sichtweise stimmen wir grundsätzlich zu, allerdings zeigt die gelebte Wirklichkeit,
dass diese lebenslange Umstellung auf gesunde Ernährung (und vor allem auch Ernährungsverhalten)
nur den allerwenigsten Menschen mit der Krankheit Adipositas gelingt. Die Studienlage
zur konservativen Therapie der Adipositas ist, man kann es nicht anders bezeichnen,
desaströs.
So nehmen je nach Studie zwischen 80 und 99 % aller Patienten, die auf konservative
Weise Gewicht abnehmen, dieses Gewicht im Langzeitverlauf wieder zu [39 ]
[40 ]
[41 ]
[42 ]
[43 ]
[44 ]
[45 ]
[46 ]. Gerade bei Frauen führen Gewichtsreduktionsversuche, die im Jugendalter begonnen
wurden, zu einer oft jahrzehntelang andauernden Diätspirale mit stetigem Gewichtsanstieg
[47 ].
Beim Lipödem ist der Rat zur konservativen Gewichtsreduktion besonders tückisch. Studien
der Universität Hohenheim haben ergeben, dass Frauen (im Gegensatz zu Männern) nach
einer Gewichtsabnahme überproportional im Bereich der unteren Körperhälfte ihr Gewicht
wieder zunehmen [48 ] – und wie oben dargelegt, nimmt die weitaus große Mehrheit der Diätteilnehmer ihr
abgenommenes Gewicht wieder zu. Mit anderen Worten: Jede Empfehlung an die Lipödem-Patientin,
Gewicht abzunehmen, erhöht das Risiko einer weiteren Fettgewebszunahme im Bereich
der Beine – und damit auch das Risiko einer Zunahme der Beschwerden.
Dennoch empfehlen die Schreiber des Leserbriefes „metabolische Therapien (gemeint
ist hier die Keto-Diät), „even for patients with lipoedema and a BMI of > 40 kg/m2 .“ Studien, die diesen Ansatz im Langzeitverlauf unterstützen, werden nicht genannt.
Stattdessen wird, wie bereits im Leserbrief von Karen Herbst and friends, die bariatrische
Operation äußerst kritisch beurteilt.
„We disagree that, ‘It has been shown that bariatric surgery is the most effective
treatment for losing weight’.“ Begründet wird diese ablehnende Haltung zur Adipositas-Chirurgie mit: „This is not our experience.“ Es fällt auf, dass die Leserbriefschreiberinnen in diesem Abschnitt auffällig viele
Formulierungen wie „in our experience“, „we believe“, „patients often say“ benutzen.
Dafür, dass zu Beginn des Leserbriefes wissenschaftliches Vorgehen angemahnt wurde,
erscheinen uns diese Glaubensbekenntnisse der Verfasserinnen bemerkenswert.
Darüber hinaus ist die Datenlage zum Langzeiterfolg der bariatrischen Chirurgie bei
morbider Adipositas sehr konsistent und überzeugend [49 ]
[50 ]
[51 ]
[52 ]
[53 ]
[54 ]
[55 ]
[56 ]
[57 ]. Eine aktuelle Untersuchung des Universitätsklinikums Freiburg gemeinsam mit dem
Europäischen Zentrum für Lymphologie in Hinterzarten zum Effekt der bariatrischen
Operation bei schwer adipösen Patientinnen mit Lipödem-Syndrom zeigt den guten Erfolg
dieser Therapieoption und bestätigt UNSERE seit 2008 bestehenden äußerst positiven
Erfahrungen mit diesem Patientengut auch wissenschaftlich [58 ].
Die jetzt hier debattierten Differenzen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass
es durchaus auch Gemeinsamkeiten in den Auffassungen der US-amerikanischen Lipödem-Akteurinnen
und den unseren gibt.
Beide Autorengruppen sind sich einig darüber, dass die im Europäischen Consensus beschriebenen
inflammatorischen Prozesse die pathophysiologische Grundlage des Lipödems darstellen,
und dass psychische Belastungen sich negativ auf diesen inflammatorischen Verlauf
auswirken können. Beide Autorengruppen sind darüber hinaus der Auffassung, dass ein
Lipödem nichts mit Schuld oder Versagen der Patientin zu tun hat, wenngleich wir dies
offener und direkter ansprechen. Dies erlaubt, die komplexe Beschwerdeproblematik
(z. B. auch die Adipositas oder bestehende psychische Störungen) zielbewusst zu fokussieren.
Frauen mit Lipödem-Syndrom sind Expertinnen ihrer eigenen Lebens- und Leidenswirklichkeit
– auch dem stimmen wir zu. Unser Bestreben liegt allerdings auch darin, Patientinnen
– in dem bestehenden Chaos der Miss- und Desinformation zu diesem Krankheitsbild –
nicht allein zu lassen, sondern sie auf dem Boden wissenschaftsbasierter Erkenntnisse
in dieser Lebens- und Leidenswirklichkeit unterstützend zu begleiten.
Leserbriefe stellen nicht unbedingt die Meinung von Herausgebern oder Verlag dar.
Herausgeber und Verlag behalten sich vor, Leserbriefe nicht, gekürzt oder in Auszügen
zu veröffentlichen.