physioscience 2021; 17(01): 34-38
DOI: 10.1055/a-1335-3997
Wissenschaftlicher Diskurs

Kritische Physiotherapie: die deutschsprachige Sektion des Critical Physiotherapy Network (DCPN) stellt sich vor

Critical Physiotherapy: Introducing the German-speaking Section of the Critical Physiotherapy Network (DCPN)
1   UiT – The Arctic University of Norway, Tromsø, Norwegen
,
Nadia El-Seoud
2   Universität Bremen, Human- und Gesundheitswissenschaften, Public Health, Deutschland
,
Mirjam Becker
,
Claudia Czernik
,
Erik Halm
3   Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg, Deutschland
,
Stephanie Moers
,
Robert Richter
4   Hochschule Furtwangen, Deutschland
,
5   Berner Fachhochschule, Departement Gesundheit, Fachbereich Physiotherapie, Schweiz
,
Barbara Vogel
6   Alice Salomon Hochschule Berlin, Deutschland
,
Stefan Zuber
5   Berner Fachhochschule, Departement Gesundheit, Fachbereich Physiotherapie, Schweiz
,
Heidi Höppner
6   Alice Salomon Hochschule Berlin, Deutschland
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Hintergrund Zu den Veränderungen in der Welt, die für Gesundheitsberufe von Bedeutung sind, gehören der tiefgreifende soziale und demografische Wandel, zunehmende Technologisierung, Digitalisierung, Umweltzerstörung sowie die Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Diese komplexen, neuen Herausforderungen verlangen Anpassungen von Berufsrollen und Aufgaben aller Fachkräfte im Gesundheitssystem.

Ziel Zeitgemäßer Fortschritt in der Physiotherapie ist nur auf Basis einer grundsätzlichen kritischen Analyse und Weiterentwicklung möglich. 2014 gründete sich das Critical Physiotherapy Network (CPN), das diese kritische Arbeit weltweit durch Forschung, Veröffentlichungen, Kurse und Konferenzbeiträge vorantreibt. Mit einer wachsenden Zahl von Mitgliedern aus dem deutschsprachigen Raum war es Zeit, eine deutschsprachige CPN-Sektion (DCPN) ins Leben zu rufen, um die Vernetzung und Zusammenarbeit zu erleichtern und die im deutschsprachigen Raum noch junge Kritische Physiotherapie zu fördern.

Methode Beantwortung erster Fragen hinsichtlich Notwendigkeit, Ziele, Arbeitsweise, Handlungsfelder und Perspektiven der Kritischen Physiotherapie. Methodologisch eng mit der qualitativen Forschung verwandt, ermöglicht die Kritische Physiotherapie eine professionelle Weiterentwicklung, die sich an den Bedürfnissen von Individuum und Gesellschaft in ihrer ökologischen Eingebundenheit orientiert.

Schlussfolgerung Durch das Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten und Grundfesten der physiotherapeutischen Handlungspraxis und Wissenschaft eröffnet die Kritische Physiotherapie ein neues Selbstverständnis und neue Handlungsräume.


Abstract

Background Amongst the dramatic changes in the world that are of particular importance to the health professions are profound social and demographic changes, increasing technologization, digitalization, environmental degradation and changing healthcare economics. These complex, new challenges require adjustments to the roles and tasks of all professionals in the health system.

Objective Contemporary progress in physiotherapy can only happen on the basis of fundamental critical analysis and further development of the profession. The Critical Physiotherapy Network (CPN) was founded in 2014 and advanced these critical work internationally, through research, publications, courses and conference contributions. With a growing number of German-speaking members, it was time to set up a German-speaking CPN section (DCPN) to facilitate networking and cooperation, and promote critical physiotherapy.

Method Answering first questions regarding the necessity, goals, approaches, field and perspectives of critical physiotherapy. Methodologically closely related to qualitative research, critical physiotherapy enables professional development based on the needs of individuals and society within their ecological context.

Conclusion By questioning taken-for-granted assumptions and foundations of physiotherapy practice and science, critical physiotherapy opens toward new professional understandings and scopes of practice.


Einleitung

Das Critical Physiotherapy Network (CPN) wurde als Zusammenschluss internationaler Physiotherapeutinnen und -therapeuten im Jahr 2014 gegründet und vereint mittlerweile über 700 Klinikerinnen und Kliniker, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Lehrende und Studierende aus 51 Ländern. Im Juli 2020 trafen sich erstmalig interessierte Fachkräfte zu einer deutschsprachigen Sektion des CPN, um für diese Region spezifische Aspekte einer Kritischen Physiotherapie zu erörtern.

Als einführende Vorstellung beantwortet dieser Beitrag erste Fragen zur Kritischen Physiotherapie. Dabei wird zum einen die Notwendigkeit einer Kritischen Physiotherapie skizziert und zum anderen auf ihre Ziele, Handlungsfelder und Perspektiven eingegangen. Was die Mitglieder der Gruppe verbindet, sind ihre „physiotherapeutischen Wurzeln“ und die Annahme, dass es angesichts globaler und regionaler Herausforderungen eine zeitgemäße Weiterentwicklung der Physiotherapie nur geben kann, wenn die historisch gewachsene Physiotherapie einer grundlegenden kritischen Analyse unterzogen wird [1].

Kritische Physiotherapie kann aus mindestens 2 Perspektiven betrachtet werden: einer anwendungs- und einer theoriebezogenen. Im engeren Sinne ist also auch das Verhältnis von Handlungspraxis und Wissenschaft gemeint [2]. Physiotherapeutische Handlungspraxis ist Teil der Gesundheitsversorgung und braucht – um eine optimale Therapie der Patientenschaft zu ermöglichen – angemessene Handlungsoptionen. Wissenschaft hingegen bewegt sich im Spektrum von theoretischen Annahmen mit mehr oder weniger empirisch abgesicherten Wahrscheinlichkeiten. Der Wissenschaft ist immanent, dass sie bezüglich konkreter versorgungsrelevanter Fragen und ihrer Anwendbarkeit gegenüber vage bleibt. Diese Situation ist im generalistischen und abstrahierenden Blick der Wissenschaft begründet, während die Handlungspraxis auf den individuell spezifischen, komplexen Einzelfall fokussiert und somit konkreter ist. Eine gelingende Beziehung zwischen beiden Bereichen ist per Anlage nicht naturgegeben, sondern muss mittels Transferbemühungen hergestellt werden [3].

Eine Kritische Physiotherapie nimmt sich dieser Herausforderung an und macht es sich zur Aufgabe, Selbstverständlichkeiten, d. h. vermeintlich Naturgegebenes oder Tradiertes, fundamental zu hinterfragen. Somit rüttelt die Kritische Physiotherapie an den Grundfesten der Profession und Disziplin. Vertrautes und populäres Denken und Handeln sowohl im Beruf als auch in der Physiotherapiewissenschaft kommen durch die Kritische Physiotherapie auf einen unvermeidlichen und notwendigen Prüfstand.


Zur Notwendigkeit einer Kritischen Physiotherapie

Unsere Lebenswelt befindet sich im stetigen Wandel. Zu den vielen Veränderungen, die für Gesundheitsberufe von großer Bedeutung sind, gehört der gegenwärtig soziale Wandel und ein gewachsenes Verständnis für den Einfluss des sozioökonomischen Status auf Morbidität und Mortalität, d. h. für eine mit sozialen Faktoren assoziierte Erkrankungs- bzw. Sterbewahrscheinlichkeit. Nicht nur biologische, sondern in hohem Maße soziale Determinanten entscheiden über die Risiken und Ressourcen für Gesundheit und sind Voraussetzungen einer mehr und weniger gesunden Lebensführung. Multimorbidität und vor allem eine steigende Anzahl von Menschen, die mit chronischen Erkrankungen und bleibender Behinderung leben, werden zunehmend selbstverständlich zum physiotherapeutischen Alltag gehören [4]. Der demografische Wandel verändert die Chancen und Risiken eines langen Lebens und somit die Rolle und Aufgaben aller professionellen Fachkräfte im Gesundheitssystem. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und globale Einflüsse auf den einzelnen Menschen haben sich in den letzten 100 Jahren erheblich verändert und beeinflussen auf der Makro-, Meso- und Mikroebene das Leben und die Arbeit maßgeblich [5] [6] [7]. Die Physiotherapie kann sich den Veränderungen, z. B. der Technisierung und der zunehmenden Digitalisierung und Ökonomisierung des Gesundheitswesens, nicht entziehen. Familien- und Geschlechterverhältnisse, diverse Lebensentwürfe, aber auch Berufsrollen und Erwartungen der Patientenschaft an Fachkräfte im Gesundheitswesen verändern sich. Globale Gesundheitsprobleme wie die aktuelle Corona-Pandemie, der Klimawandel und eine weitgreifende Umweltzerstörung gehören ebenfalls zu den komplexen, neuen Problemlagen und stellen spezifische Herausforderungen an Gesundheitsfachkräfte [8].

Der durch diese Faktoren bedingte Wandel vollzieht sich auf allen Ebenen, der persönlich-individuellen, der kollektiven (z. B. Berufe) sowie der sozialen und gesellschaftlichen Ebene. Eine offene Auseinandersetzung innerhalb der Physiotherapie (in Beruf und Wissenschaft im deutschsprachigen Raum) mit diesen Problemen ist bisher allerdings nur an wenigen Stellen erkennbar. Daraus resultiert die Gefahr, dass die Physiotherapie auf die Vielfalt an aktuellen Fragen und neuen Herausforderungen keine adäquaten Antworten bieten kann. Im schlimmsten Fall wird sogar aufgrund eines Mangels an Anpassungsleistung und angemessenem Handeln die Weiterentwicklung der Physiotherapie im Sinne einer Bedarfs- und Bedürfnisorientierung verhindert. Kritische Physiotherapie ist nach diesem Verständnis daher überlebenswichtig.

Fachkräfte der Physiotherapie haben sich mit diesen wichtigen Themen bisher noch nicht tiefgehend befasst, was auf bekannte historische, soziale, kulturelle und politische Faktoren zurückzuführen und nicht ausschließlich ein Problem im deutschsprachigen Raum ist. Das Festhalten an alten Denkgewohnheiten und die reaktive Aktionsweise stehen im Zusammenhang mit einer nachholenden Entwicklung von Ausbildung und dem – im internationalen Vergleich – späten Beginn einer Physiotherapiewissenschaft im deutschsprachigen Raum. Das bislang relativ enge Interessen- und Handlungsfeld der Physiotherapie kann international durch die historisch fast exklusive Anbindung an die Schulmedizin und biomedizinischen Theorien und Methoden erklärt werden. Diesen liegt u. a. ein mechanistisches Weltbild zugrunde, welches noch heute die Ausrichtung der Physiotherapie und ihren Fokus auf die biologischen Aspekte von Pathologien prägt [1] [9]. Der Ausschluss der spezifischen Lebenswelten der Patientenschaft ist ein Effekt sowie sinnbildlicher Ausdruck dieser mechanistischen und biomedizinischen Grundlagen durch die Fokussierung auf die Behandlung von Patientinnen und Patienten in Kliniken, Rehabilitationszentren, ambulanten Praxen und anderen Institutionen. Eine Konsequenz dieser quasi architektonischen Abgrenzung ist, dass ein Lebensweltbezug im Sinne einer bewegungsbezogenen Befähigung von Patientinnen und Patienten für ihren individuellen Alltag dabei weitestgehend verloren geht. Wir wissen nicht wirklich, ob und wie Physiotherapeutinnen und -therapeuten das Alltagsleben der Menschen, die sie therapieren, beeinflussen, denn Therapie findet i. d. R. außerhalb von deren Lebenswelten statt. Bekannt ist die geringe Integration der Effekte von Physiotherapie auf psychosoziale Aspekte von Gesundheit und Krankheit [10] [11], obwohl diese im Verständnis einer systemischen und ganzheitlichen Definition als Wissensbestand verbreitet und für die Rehabilitation bedeutsam sind (im Sinne der ICF/WHO).

Was Physiotherapie ist und was sie für die Gesellschaft bzw. Bevölkerungsgesundheit leisten kann, ist international verschieden und abhängig von der jeweiligen Historie, der Tradition des Berufes im nationalen Kontext, seiner Einordnung in das Versorgungssystem einschließlich der Honorierung physiotherapeutischer Leistungen, Aufgaben und Handlungsautonomie in einem System, dem Grad der Professionalisierung und letztlich dem Verhältnis und den Abhängigkeiten von anderen Berufsgruppen [12]. Das Selbstverständnis und die Handlungsfelder von Physiotherapie orientieren sich daher nicht nur an internen Begrenzungen der Disziplin und Profession wie wissenschafts- und gesundheitstheoretischen Grundannahmen, interner oder externer Evidenz (Wirksamkeit) und an der tradierten Positionierung und Rolle im Versorgungssystem. Der Anspruch dieses Beitrages ist nicht, alle auf die Physiotherapie wirkenden Rahmenbedingungen erschöpfend darzustellen. Vielmehr stellt sich die Frage, welche Kompetenzen im jeweiligen Kontext von Bedeutung sind und was ggf. getan werden kann, um künftige Spielräume zu verändern [13]. Aus Sicht der Kritischen Physiotherapie verhindern die vorwiegend biomedizinische Ausrichtung und damit einhergehende wissenschaftliche und handlungspraktische Werkzeuge der Physiotherapie es, über Begrenzungen zu reflektieren und ggf. auf sie einzuwirken. Diese Ausrichtung ist quasi selbstreferentiell und macht es unmöglich, über aktuelle und zukünftige ethische, soziale, ökonomische, politische, kulturelle und ökologische Probleme sowie Veränderungen zu reflektieren und die Physiotherapie entsprechend weiterzuentwickeln und neu zu begreifen.

Die Anpassung der Berufe und Wissenschaft ist jedoch existentiell. Kritisch zu sein und nach neuen Wegen zu suchen heißt, die Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen und diese zu gestalten. Die Autorenschaft ist der Meinung, dass der Beruf der Physiotherapeutin bzw. des -therapeuten längerfristig gefährdet ist, wenn ein Anschluss an die beschriebenen Herausforderungen nicht gelingt. Die Kritische Physiotherapie begrüßt und fördert daher eine Vielfalt von Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten, die Antworten auf Herausforderungen geben können, damit Veränderung, Wachstum und Entwicklung im Hinblick auf neue Bedarfe und Herausforderungen überhaupt möglich wird.


Grundbewegung, Handlungsfeld und Ziel der Kritischen Physiotherapie

Die Grundbewegung der Kritischen Physiotherapie besteht darin, sich auf Gesundheits-, Sozial- und Humanwissenschaften zu beziehen, um Physiotherapie im Hinblick auf eine sich verändernde Gesundheit und Gesundheitswelt zu erforschen und weiterzuentwickeln (siehe auch Critical Physiotherapy Network Constitution: https://criticalphysio.net/cpn-constitution/). Mögliche Anregungen dafür bieten Disziplinen aus den wissenschaftlichen Bereichen der Geisteswissenschaften, zu denen auch die Human- und Sozialwissenschaften gehören, z. B. Anthropologie, Philosophie, Geschichte, Kultur, Politik und Soziologie. Methodologisch eng mit der qualitativen Forschung verwandt, ermöglichen derart interdisziplinäres Denken und Arbeiten neue Selbstverständnisse und eröffnen neue Handlungsräume. Im Folgenden werden einige Beispiele für die Annäherung an die Arbeitsweise im Sinne einer Kritischen Physiotherapie genannt:

  • Das Hinterfragen der historischen und impliziten Grundannahmen der Physiotherapiewissenschaft, der Handlungspraxis und ihres Verhältnisses, in vollem Bewusstsein dessen, dass es keine Praxis ohne Theorie gibt und keine Theorie ohne Praxis [3].

  • Das Hinterfragen und Weiterentwickeln von erkenntnis-, wissens- und wissenschaftstheoretischen Grundlagen, die das Denken und Handeln der Physiotherapie bestimmen.

  • Das Hinterfragen und Weiterentwickeln der beruflichen Identität der Berufsangehörigen sowie des Berufsstandes Physiotherapie, einschließlich der Ausformulierung des Berufsbildes.

  • Das Hinterfragen und Ausdifferenzieren physiotherapeutischer Grundbegriffe, z. B. Bewegung, Berührung, Gesundheit, Krankheit, Körper und Therapie.

  • Das Erforschen der sozio-ökonomischen, politischen und ökologischen Bedingtheit der Physiotherapie.

  • Das Erforschen materieller und kultureller Einflussfaktoren auf Wissenschaft, Lehre und klinische Praxis der Physiotherapie.

  • Die Beobachtung von Zielperspektiven der Therapie im Kontext einer inklusiven Gesellschaft. Gelingt konsequente soziale Teilhabe mit Hilfe von Physiotherapie?

  • Integration neuer Themen in die Physiotherapie (gesellschaftliche Fragen und Fragen zum Gesundheitssystem, Diversität, inklusive Physiotherapie, soziale Ungleichheit, Bildungsgerechtigkeit bzw. Kooperation, Interprofessionalität und Interdisziplinarität), um Problemfelder zu registrieren und daraus entstehende Handlungsbedarfe in der Physiotherapie abzuleiten.

  • Die Analyse von aktiven Machtverhältnissen in der Physiotherapie sowie deren Auswirkungen auf politische, soziale, wissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Ebenen oder auf der singulären, zwischenmenschlichen Ebene der therapeutischen oder pädagogischen Beziehung.

  • Das Reflektieren und Erforschen von Einstellungen und Haltungen gegenüber Differenz, Andersartigkeit, Pluralität und Diversität in der Theorie sowie Methoden, Praxis und der Umgang damit.

Die hier beispielhaft angerissenen Handlungsfelder laden ein, die Bearbeitung dieser Themen und Probleme auch mit einer gewissen Langsamkeit zu praktizieren. Einfache und schnelle Lösungen sind nicht zu erwarten. Es geht um adäquate Antworten auf komplexe Fragen vor dem Hintergrund der Mehrperspektivität und Mehrdeutigkeit. Kritische Physiotherapie fordert Physiotherapeutinnen und -therapeuten in ihrer umfangreichen Handlungsorientiertheit und zupackenden Art vielleicht besonders heraus. Es geht jedoch nicht um Aktionismus. Vielmehr hält Kritische Physiotherapie dazu an, nicht von einer Lösung oder Behandlungsmethode zur nächsten zu eilen, sondern in Aussicht zu stellen, dass es nicht nur eine Lösung gibt. Kritisches Denken fordert zu Bedachtsamkeit, Vorsicht und Reflexion auf. So betrieben wird die Kritische Physiotherapie bereits eine konkrete Handlungsalternative. Reflexion und Veränderung brauchen Zeit, vor allem, wenn sie in komplexen gesellschaftlichen Systemen wirken sollen, denn sie können nur wirkmächtig werden, wenn sie inner- und außerhalb der Profession durchgesetzt werden.

Kritische Physiotherapie rüttelt an den Grundfesten des Berufes und seiner Wissenschaft. Nicht jeder kritische Ansatz wird dabei eine Relevanz erfahren oder in bedeutsamen Veränderungen münden. Eine kritische Betrachtung ermöglicht es jedoch, Missstände zu erkennen und proaktiv in der Forschung aufzugreifen. Ziel ist es, zu einer Entwicklung von Gesundheitsversorgung beizutragen, die sich an den Bedarfen und Bedürfnissen des Individuums in seiner gesellschaftlichen und ökologischen Eingebundenheit orientiert.

Kritische Auseinandersetzung und offener Diskurs sind angezeigt, damit die Entwicklung der Physiotherapie nicht durch äußere Umstände getrieben wird und modischen Trends folgt. Kritische Physiotherapie möchte helfen, aus der Reaktion in die proaktive Gestaltung des Berufes und der Wissenschaft zu gelangen. Dieses Vorgehen braucht Selbstkritik und Aufgeschlossenheit für kritisches Denken. Der entstehende Handlungsdruck, der mit neuen Ideen wächst, sollte dabei nicht abschrecken, sondern ermutigen, neue Wege zu gehen. Es sei die Frage erlaubt: Was ist gewonnen, wenn alles bleibt, wie es ist?

Kritische Physiotherapie zielt auf die positive und konstruktive Förderung neuer Herangehensweisen und das Verständnis für Aufgaben, Ziele, Methoden und Auswirkungen der Physiotherapie in Forschung, Lehre und Praxis. Dadurch kann die Kritische Physiotherapie transformatorisch unterstützen, durch Veränderungen zu wachsen und ein breites Spektrum an Fähigkeiten zu entwickeln. Hier sind sowohl Kompetenzen für die therapeutische Beziehung zwischen Therapeutin bzw. Therapeut und Patientin bzw. Patient gemeint als auch die Entwicklung von Fähigkeiten einer sozialen und ökologischen Einflussnahme in einer Zeit dynamischer Welt- und Gesellschaftsveränderungen.


Kritische Physiotherapie richtig verstehen

Kritik und kritisches Denken können und werden regelmäßig falsch verstanden. Ein klarer Stellungsbezug ist daher notwendig: Durch die Grundbewegung der Kritischen Physiotherapie – sich auf Gesundheits-, Sozial- und Humanwissenschaften zu beziehen, um die Wissenschaft und Handlungspraxis der Physiotherapie hinsichtlich notwendiger Veränderungen zu erforschen und weiterzuentwickeln, – lässt sich die Kritische Physiotherapie als etwas Spezifisches identifizieren und vom umgangssprachlichen Gebrauch von Kritik unterscheiden.

Der Name „Kritische Physiotherapie“ ist von der Kritischen Theorie der „Frankfurter Schule“ geprägt [14]. Er fungiert allerdings in Anlehnung an weltweite Entwicklungen der kritischen Forschung als Überbegriff für ein wesentlich breiteres Feld an Perspektiven und Methoden [15] [16]. Kritische Forschung in diesem Sinne und in diesen Traditionen braucht sowohl Zeit als auch Mut und Theorie. Es ist ein Prozess des Sicheinlassens auf eine neue Sichtweise. Zweifelsohne verunsichert dieser Prozess, denn Bewährtes bzw. Bekanntes bietet (vermeintlich) Halt in bewegten Zeiten.

Auf dieser Grundlage meint eine Kritische Physiotherapie nicht Verunglimpfung, Ablehnung oder gar Denunziation. Es geht nicht darum, negativ oder abwertend zu agieren, alles absolut in Frage zu stellen oder das „Haar in der Suppe“ zu suchen. Es geht auch nicht um eine Frontenbildung zwischen theorieorientierenten und praxisorientierten Fachkräften und Richtig oder Falsch, was immer darunter verstanden werden mag. In der Kritischen Physiotherapie geht es vielmehr um konstruktive Weiterentwicklung. Diese bedarf jedoch eines kritisch-konstruktiven Blickes, eine gleichberechtigte Integration von individuellen Deutungen und Lebensweltbezügen, Offenheit für die Wahrnehmung von Unbehagen und Wachheit für Widersprüchlichkeit und ggf. Begrenzung im Denken und Handeln. Kritik wird hier als Anregung zur Reflexion genutzt, zum Prüfen von Perspektiven und zu entsprechend nuanciertem Reagieren oder anderem Agieren. Kritische Physiotherapie ist somit nicht schwarzmalerisch, sie stellt jedoch in Frage und ist daher unbequem.


Die Zukunft der Kritischen Physiotherapie im deutschsprachigen Raum

Im Vergleich zu anderen Gesundheitsberufen sind die kritische Forschung und ihre handlungspraktischen Konsequenzen in der Physiotherapie international noch relativ jung. Durch die Arbeit des CPN und dessen Mitgliedern ist sie in den letzten Jahren ein fester Begriff in der Physiotherapie geworden und bietet inzwischen eine beachtliche und stetig wachsende Zahl von akademischen Veröffentlichungen [15]. Mit einer wachsenden Zahl von Mitgliedern aus dem deutschsprachigen Raum und vor dem Hintergrund von Sprachbarrieren erschien es nun an der Zeit, eine deutschsprachige Sektion des CPN ins Leben zu rufen. Ein grundlegendes Ziel hierbei ist, bereits existierende Mitglieder im deutschsprachigen Raum enger zu vernetzten und Kollaboration zu erleichtern. Die weiterführende Hoffnung ist, der im deutschsprachigen Raum noch deutlich jüngeren Kritischen Physiotherapie dadurch vermehrt Nachdruck zu verleihen.

Mit dem vorliegenden Beitrag möchte die Autorenschaft mögliche Interessierte dazu einladen, sich unseren Bemühungen anzuschließen. Als noch sehr junge Sektion des DCPN (Deutschsprachiges Netzwerk Kritischer Physiotherapie) sind vorerst monatliche Online-Treffen geplant, bei denen verschiedene Themen rund um die Kritische Physiotherapie gemeinsam diskutiert und bearbeitet werden. Für die nächsten Treffen sind verschiedene Themen und Formate geplant, die sich an den Interessen der Teilnehmenden orientieren, darunter auch:

  • das gemeinsame Lesen und Diskutieren einschlägiger Veröffentlichungen;

  • die Sammlung, Identifizierung und Bearbeitung spezifischer Fragestellungen;

  • die Präsentation und Diskussion von Veröffentlichungen der aktiv forschenden Autorenschaft in der Gruppe der Kritischen Physiotherapie;

  • die interdisziplinäre Verknüpfung mit Mitarbeitenden und Gruppen in Forschung, Lehre und Praxis innerhalb und außerhalb der Gesundheitswissenschaften;

  • kollaborative Schreibprojekte;

  • die Unterstützung von Studienarbeiten;

  • persönliche Treffen auf Konferenzen, Tagungen und ähnlichen Anlässen;

  • die Verbindung zum internationalen Netzwerk.

Die Mitgliedschaft im internationalen CPN ist nicht zwingend, wird jedoch bei regelmäßiger Teilnahme empfohlen, damit die Anknüpfung an und die Kollaboration mit internationalen Mitarbeitenden sowie die Entwicklung gefördert werden. Neugierige und Gäste sind jederzeit willkommen und dazu eingeladen, sich im DCPN zu beteiligen. Für Fragen rund um das Thema CPN/DCPN können die hier genannten Kontaktdaten genutzt werden. Abschließend bleibt zu betonen, dass es eine der wichtigsten Bestrebungen des CPN/DCPN ist, ein einladendes und konstruktives Forum für kreativen Austausch und Reflexion zu sein, das von den aktiven Beiträgen der sich beteiligenden Fachkräfte lebt.



Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Filip Maric, PhD
Institute for Health and Care Sciences
University of Tromsø
Hansine Hansens veg 74
9019 Tromsø
Norwegen   

Publication History

Article published online:
24 February 2021

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