CC BY-NC-ND 4.0 · Geburtshilfe Frauenheilkd 2021; 81(05): 555-561
DOI: 10.1055/a-1361-1715
GebFra Science
Review/Übersicht

Ovarialkarzinom durch Asbest – eine gynäkologische Berufskrankheit. Hintergrund, Meldepflicht, praktisches Vorgehen

Article in several languages: English | deutsch
Dennis Nowak
1   Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, LMU Klinikum, München, Germany
,
Barbara Schmalfeldt
2   Klinik und Poliklinik für Gynäkologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Germany
,
Andrea Tannapfel
3   Institut für Pathologie der Ruhr-Universität Bochum, Berufsgenossenschaftliches Universitätsklinikum Bergmannsheil, Bochum, Germany
,
Sven Mahner
4   Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, LMU Klinikum, München, Germany
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Seit 2017 gibt es eine neue, die erste gynäkologische Berufskrankheit, das Ovarialkarzinom durch Asbest. Asbest ist ein natürlich vorkommender mineralischer Faserstoff mit einem Verbrauch von 160 000 – 180 000 Tonnen jährlich in den 1960er- und 1970er-Jahren in Deutschland. Die Karzinogenität von Asbest für die Zielorgane Lunge, Larynx, Pleura einschließlich Perikard sowie Peritoneum einschließlich Tunica vaginalis testis ist seit vielen Jahren eindeutig gesichert. Neuere Metaanalysen von Daten aus Kohortenstudien zeigen, dass sich das Ovarialkarzinomrisiko bei Frauen etwa verdoppelt, die beruflichen Umgang mit Asbest hatten. Da die Personengruppe, bei der das Verdoppelungsrisiko für die Entstehung eines Lungenkarzinoms durch arbeitsbedingte Asbestexposition gegeben ist, ein im Mittel 2,25-fach erhöhtes Risiko für die Mortalität an einem Ovarialkarzinom aufweist, wurden für das berufsbedingte Ovarialkarzinom dieselben Anerkennungsvoraussetzungen wie für das berufsbedingte Lungen- (und Larynxkarzinom) festgelegt. Somit muss der Gynäkologe eine Arbeitsanamnese bezüglich langjährig zurückliegender beruflicher Asbestexposition erheben. Eine Meldepflicht des Verdachts an Unfallversicherungsträger oder Staatlichen Gewerbearzt ist gesetzlich vorgeschrieben.


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Einführung

Seit 2017 gibt es eine neue gynäkologische Berufskrankheit, das Ovarialkarzinom durch Asbest. Ziel des vorliegenden Artikels ist es, den wissenschaftlichen Hintergrund zu skizzieren und für die gynäkologische Fachwelt das praktische Vorgehen bei Patientinnen mit Ovarialkarzinom zu beschreiben. Dabei wird teilweise eng auf die Wissenschaftliche Begründung dieser Berufskrankheit Bezug genommen, an deren Erstellung einer der Autoren (DN) beteiligt war [1].

Vorab sei kurz die juristische Definition der Berufskrankheit genannt: „Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden“ (§ 9 [1] SGB VII). „Die Bundesregierung wird ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind“ (§ 9 [1] SGB VII). In der Praxis wird hierbei vielfach auf eine Verdoppelung des relativen Risikos (d. h. der Erkrankungshäufigkeit der exponierten Gruppe im Verhältnis zur nicht exponierten Vergleichsgruppe) abgestellt.


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Risikofaktoren und Pathomechanismen des Ovarialkarzinoms

Ein etablierter Risikofaktor ist die familiäre Häufung bestimmter Tumoren, die oftmals mit einem früheren Erkrankungsalter als in der Normalbevölkerung einhergeht. Die Mehrheit der genetischen Veränderungen beim familiären Brust- und Eierstockkrebssyndrom werden in den Genen BRCA1 und BRCA2 gefunden, darüber hinaus gibt es noch weitere – seltenere – Risikogene wie z. B. RAD51C, BRIP1 und andere.

Adipositas, eine Hormontherapie in der Peri- und Postmenopause und Infertilität erhöhen darüber hinaus das Risiko, an einem Ovarialkarzinom zu erkranken. Orale Kontrazeptiva und Sterilisation durch Tubenligatur reduzieren das Risiko, auch Parität und Laktation sind invers mit dem Risiko für seröse Ovarialkarzinome assoziiert [2].

Der Pathomechanismus der Entstehung eines Ovarialkarzinoms basiert auf einer Aktivierung von Onkogenen, dem Nichtansprechen auf wachstumshemmende zelluläre Signale, dem Überstehen apoptotischer Prozesse und der Immortalisierung von Zellen. Angiogenese, invasives Wachstum und Metastasierung sind frühe Ereignisse [3]. Bei jeder Ovulation sind zytokinvermittelte entzündliche Vorgänge beteiligt, welche auch eine Rolle bei der Gewebereparatur spielen – insofern spielen Entzündungsprozesse vermutlich eine Rolle bei der Genese des Ovarialkarzinoms [4]. Die Rolle von Entzündungsprozessen in der Tumorentstehung wird durch die Beobachtung unterstützt, dass Frauen, die antientzündliche Medikamente wie nicht steroidale Antiphlogistika einnehmen, seltener an Ovarialkarzinomen erkranken [5].

Es existieren 5 unterschiedliche histopathologische Subgruppen des Ovarialkarzinoms: High-grade serös, Low-grade serös, endometrioid, Clear Cell und muzinöse Differenzierung. Epitheliale Tumoren des Peritoneums (of Müllerian type) werden als Low- und High-grade seröse Karzinome differenziert.


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Asbest als natürlich vorkommender mineralischer Faserstoff

Asbest (altgriechisch ἄσβεστος, deutsch „unvergänglich“), ist ein Sammelbegriff für verschiedene natürlich vorkommende, faserförmige kristallisierte Silikatminerale, die nach ihrer Aufbereitung technisch verwendbare Fasern unterschiedlicher Länge ergeben. Die Faser des Krokydoliths aus der Gruppe der Hornblenden (auch Blauasbest genannt) ist bläulich, die Faser des Chrysotils (Serpentingruppe) ist weiß oder grün. Chrysotil, auch Weißasbest genannt, fand die technisch weitaus breiteste Anwendung. Auf die Verwendung von Asbest als Arbeitsstoff wird weiter unten im praxisbezogenen Abschnitt „Berufliche Expositionsmöglichkeiten, die der Gynäkologe bei der Anamnese einer Patientin mit Ovarialkarzinom somit erfragen muss“ eingegangen.


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Asbestverbrauch und Asbestverbot in Deutschland

Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg der Asbestverbrauch in der Bundesrepublik von sehr niedrigem Niveau steil bis Ende der 1960er-Jahre auf rund 180 000 t/Jahr im Maximum an, verharrte bis Ende der 1970er-Jahre auf einem hohen Niveau von im Mittel rund 160 000 t und fiel dann sehr steil ab. Im Unterschied dazu fällt das Absinken des Verbrauchs in der DDR in den 1980er-Jahren deutlich schwächer aus. Der Asbesteinsatz in den damaligen beiden deutschen Staaten weist wichtige Unterschiede auf; so wurdein der DDR Spritzasbest nur bis 1969 und dabei fast ausschließlich im Schiffsbau verwendet. Lediglich in einigen Ausnahmefällen kam Spritzasbest auch später noch als Brandschutz von Stahlträgerkonstruktionen öffentlicher Gebäude (z. B. im „Palast der Republik“) zum Einsatz. Im privaten Wohnungsbau wurde Spritzasbest nicht verwendet, so wurden dort auch keine asbesthaltigen Fußbodenbeläge verlegt. Inzwischen ist der Asbestverbrauch in Deutschland aufgrund des Asbestverwendungsverbotes 1993 praktisch auf Null zurückgegangen. Ein Umgang mit Asbestmaterialien ist heute im Wesentlichen nur noch bei Abbruch-, Sanierungs- und Instandhaltungsarbeiten (ASI-Arbeiten) gegeben [6].

lsland war das weltweit erste Land mit einem nationalen Asbestverbot für alle Asbestarten, und zwar im Jahre 1983 – 10 Jahre vor Deutschland. Seither haben mehr als 50 weitere Länder ähnliche Verbote ausgesprochen. ln den letzten Jahren hat sich das Tempo dieser zusätzlichen nationalen Asbestverbote jedoch verlangsamt. Einige Schwellenländer haben Asbestverbote wieder rückgängig gemacht, andere haben viel zu lange Übergangsfristen. Neun der 10 bevölkerungsreichsten Länder der Welt haben kein Asbestverbot. Die Folge ist, dass der Schutz der Weltbevölkerung vor den gesundheitlichen Auswirkungen der Asbestexposition gering ist, ein Schutz ist vorrangig in lndustrieländern gegeben.

Das genannte Verwendungsverbot für Asbest in Deutschland erfolgte 12 Jahre vor dem Verbot in der Europäischen Union (EU). Überschlägig konnten durch dieses frühere Verwendungsverbot in Deutschland im Vergleich zur restlichen EU wohl mehr als 20 000 Lungenkarzinome und Mesotheliome verhindert und fast ebenso vielen Menschen das Leben damit gerettet werden.


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Pathomechanismus der Asbestwirkung beim Menschen insbesondere für das Zielorgan Ovar

Eingeatmete Asbestfasern besitzen neben fibrogenen Effekten für den Menschen gesicherte lokal tumorerzeugende Eigenschaften. Die Kanzerogenität ist für die Zielorgane Lunge, Larynx, Pleura einschließlich Perikard sowie Peritoneum einschließlich Tunica vaginalis testis seit vielen Jahren eindeutig gesichert [7]. Erst in den letzten Jahren hat sich die Datenlage dahingehend verdichtet, dass auch die Verursachung des Ovarialkarzinoms durch Asbest gesichert ist [8].

Die Aufnahme von Asbestfasern erfolgt in erster Linie inhalativ mit der Atemluft. Durch die mukoziliäre Clearance wird der größte Teil deponierter Fasern zunächst in das Gastrointestinalsystem überführt und von hier aus offenbar z. T. in die Bauchhöhle. Darüber hinaus werden neben einem lymphogenen auch ein hämatogener Transport sowie die Penetration von Asbestfasern in die serösen Höhlen des Brust- und Bauchraumes diskutiert. Die körpereigene Abwehrreaktion einer Ferroproteineinhüllung der inkorporierten Fasern führt z. T. zur Bildung sogenannter Asbestkörperchen [9]. Diese können nicht nur in der Lunge, sondern in zahlreichen extrapulmonalen und extrathorakalen Organen nachgewiesen werden [10].

Da in zwei Arbeiten der Gebrauch von (früher oft asbesthaltigem) Talkumpuder in Dammpuder mit einer signifikant erhöhten Odds Ratio von 1,33 (95%-KI 1,16 – 1,45) [11], bzw. 1,24 (95%-KI 1,15 – 1,33) [12] für die Entstehung von Ovarialkarzinomen assoziiert war, kann auch über eine direkte transvaginale Inkorporation von Asbestfasern spekuliert werden. In keiner dieser beiden Studien fand sich allerdings eine signifikante Dosis-Wirkungs-Beziehung. Andere Autoren bezweifeln daher einen Kausalzusammenhang [13]. Schildkraut et al. [14] berichteten bei Afroamerikanerinnen, die nach Angaben der Autoren im Vergleich zur weißen Bevölkerung häufiger Damm- und Körperpuder verwenden, über eine erhöhte Odds Ratio beim Gebrauch von Dammpuder für Ovarialkarzinome von 1,44 (95%-KI 1,11 – 1,86), mit einer positiven Dosis-Wirkungs-Beziehung. In welchem Ausmaß eine Erinnerungsverzerrung (Recall Bias, also bessere Erinnerung bei Exponierten, insbesondere, wenn es um Regressforderungen geht) eine Rolle spielt [15] oder ob bei Afroamerikanern im Vergleich zur weißen Bevölkerung eine stärkere Bereitschaft zu entzündlichen Reaktionen des Organismus (z. B. [16]) zu der Beobachtung von Schildkraut et al. [14] beigetragen hat, muss derzeit offen bleiben.

Saad und Koautoren [3] sehen die Kanzerogenität von Talkumpuder (im Sinne von asbesthaltigem Talkum) und Asbest ebenfalls über entzündliche Vorgänge vermittelt, wenngleich hierzu kein Tiermodell existiert.


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Epidemiologische Daten zur Asbestverursachung des Ovarialkarzinoms

Die International Agency for Research on Cancer (IARC, Lyon) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) kam in ihrer Monografie 100 C nach Sichtung der publizierten Literatur bereits vor über 10 Jahren zu der Einschätzung, es gebe beim Menschen hinreichende Evidenz („sufficient evidence“) für die Karzinogenität von Asbest für die Verursachung von Ovarialkarzinomen (Sitzung vom 17. – 24. März 2009, [7]). Grundlage dieser Einschätzung waren 11 Kohortenstudien in 13 Populationen, davon 10 mit beruflicher Asbestexposition, sowie 3 weitere mit Umweltexposition, hinzu kam 1 Fallkontrollstudie. Eine Metaanalyse war in dieser Einschätzung der IARC [7] nicht vorgenommen worden.

Hinzu kam eine Metaanalyse von Camargo et al. [8] zur Frage der Assoziation zwischen der beruflichen Exposition gegenüber Asbest und der Entstehung eines Ovarialkarzinoms. Die Autoren werteten 18 Kohortenstudien beruflich exponierter Frauen aus und führten zusätzlich eine Metaanalyse zum Zusammenhang zwischen beruflicher Asbestexposition und Ovarialkarzinom durch, wobei in 17 Studien die Mortalität, in einer die Inzidenz das Zielkriterium war.

Für die Vorbereitung einer wissenschaftlichen Begründung der Berufskrankheit „Ovarialkarzinom durch Asbest“ wurden darüber hinaus die systematischen Reviews von Reid et al. [17] und Bounin et al. [18] herangezogen, und es wurde unter anderem von einem der Autoren (DN) die wissenschaftliche Literatur mit Stand September 2016 nach Neuerscheinungen zum Thema gescreent. Sämtliche bis zum genannten Zeitpunkt verfügbaren Studien wurden einzeln kritisch bewertet, bezüglich Details sei auf die ausführliche Wissenschaftliche Begründung verwiesen [1].

Schließlich erfolgte vom Ärztlichen Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine eigene Metaanalyse aller Studien (Federführung M. Möhner, Stand September 2016).

Es ergab sich folgendes Ergebnis ([Abb. 1]).

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Abb. 1 Metaanalyse zum Zusammenhang zwischen beruflicher Exposition gegenüber Asbest und Ovarialkarzinomen, basierend auf Camargo et al. (2011) und zusätzlicher Berücksichtigung der Daten von Langseth et al. (2004), Ferrante et al. (2007), Wang et al. (2013) und Oddone et al. (2014), Ersatz von Pira et al. (2007) durch Pira et al. (2016). Aus [1].

Die Metaanalyse aller Studien unter Verwendung eines Modells mit zufälligen Effekten ergab SMRoverall = 1,88 (95%-KI 1,47 – 2,39).

Unterscheidet man wie bei Reid et al. [17] nach „Ovarian cancers confirmed“, so erhält man für die Studien ohne histologische Verifikation des Ovarialkarzinoms einen gepoolten Effektschätzer von 1,89 (95%-KI 1,40 – 2,55) und für jene mit histologischer Sicherung des Ovarialkarzinoms einen gepoolten Effektschätzer von 1,98 (95%-KI 1,32 – 2,97). Der Unterschied ist damit vernachlässigbar (p > 0.8).

Merke

Zusammenfassend ergibt sich bei Frauen mit einer beruflichen Asbestexposition in der Vorgeschichte im Vergleich zum Fehlen einer solchen Exposition ein etwa verdoppeltes Risiko, an einem Ovarialkarzinom zu versterben.

Das Verdoppelungsrisiko für Ovarialkarzinome bei beruflich Asbestexponierten wird insbesondere erreicht bzw. überschritten bei:

  • Probanden in europäischen Studien (SMR 1,95, 95%-KI 1,51 – 2,51),

  • Subgruppen, in denen die SMR für Lungenkarzinome über 2,0 lag (SMR 2,25, 95%-KI 1,64 – 3,07)

  • Probanden in den am höchsten exponierten Gruppen (SMR 2,78, 95%-KI 1,36 – 5,66)


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Prozedere zur Erweiterung der bestehenden Berufskrankheit 4104 um das Ovarialkarzinom

Zur Bewertung des Risikos eines Ovarialkarzinoms durch Asbest ist die Berechnung einer kumulativen Asbestfaserdosis, oberhalb derer sich das Erkrankungsrisiko verdoppelt, nötig. Bei Überschreiten dieser Dosis läge der Anteil der beruflichen Asbesteinwirkung an einer Krankheitsverursachung bei über 50%. Sowohl die Studien, die von der IARC [7] bzw. von Camargo et al. [8] zur Bewertung des Risikos eines Ovarialkarzinoms durch Asbest herangezogen wurden, als auch neuere Publikationen ließen keine quantitativ präzise Berechnung einer solchen Dosis zu. Es schien jedoch naheliegend, auf inländische Vorarbeiten zurückzugreifen, die das Verdoppelungsrisiko für die Entstehung eines Lungenkarzinoms im Sinne der BK-Nr. 4104 unter 3 Bedingungen bejahen: Dies war im deutschen Berufskrankheitenrecht bis 2017 gegeben

  • in Verbindung mit Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose),

  • in Verbindung mit durch Asbeststaub verursachter Erkrankung der Pleura oder

  • bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis am Arbeitsplatz von mindestens 25 Faserjahren (25 × 106 [{Fasern/m3} × Jahre]).

(Hierbei muss jeweils nur eines der 3 im vorigen Absatz genannten Kriterien erfüllt sein – bei den ersten beiden Befunden handelt es sich um radiologische Diagnosen, beim dritten um ein arbeitstechnisch vom Unfallversicherungsträger zu rekonstruierendes kumulatives Dosismaß. Dabei entspricht ein Faserjahr dem Produkt aus der Konzentration einer 1-jährigen arbeitstäglich 8-stündigen Einwirkung von einer Million Asbestfasern kritischer Abmessungen pro Kubikmeter Luft am Arbeitsplatz bei 240 Arbeitstagen.)

Nun zeigte sich in der Personengruppe, bei der das Verdoppelungsrisiko für die Entstehung eines Lungenkarzinoms durch arbeitsbedingte Asbestexposition gegeben ist, aufgrund der Daten von Camargo et al. [8] ein im Mittel 2,25-fach (95%-KI 1,64 – 3,07) erhöhtes Risiko für die Mortalität an einem Ovarialkarzinom. Daher schien es wissenschaftlich legitim und gerechtfertigt, die Anerkennung eines Ovarialkarzinoms als Berufskrankheit infolge beruflicher Asbestexposition an dieselben medizinischen und arbeitstechnischen Voraussetzungen zu knüpfen, die für die Bejahung eines asbestbedingten Lungenkarzinoms gefordert werden. Auch bei Einführung dieser Berufskrankheit (BK-Nr. 4104) hatte nämlich das Verdoppelungsrisiko für die Entstehung eines Lungenkarzinoms (später auch Kehlkopfkarzinoms) durch eine berufsbedingte Asbestexposition im Fokus gestanden.

Die Legaldefinition der 2017 um das Ovarialkarzinom ergänzten Berufskrankheit 4104 lautet demnach:

Definition

Lungenkrebs, Kehlkopfkrebs oder Eierstockkrebs

  • in Verbindung mit Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose)

  • in Verbindung mit durch Asbeststaub verursachter Erkrankung der Pleura oder

  • bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis am Arbeitsplatz von mindestens 25 Faserjahren (25 × 106 [{Fasern/m3} × Jahre])

Dementsprechend wurde das Kapitel 5.2 „Das Ovarialkarzinom als meldepflichtige Berufskrankheit“ in die S3-Leitlinie „Maligne Ovarialtumoren“ mit Fragen zur Anamnese und Exposition sowie dem Vorgehen zur Meldung aufgenommen (S3-Leitlinie Diagnostik, Therapie und Nachsorge maligner Ovarialtumoren, https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/fileadmin/user_upload/Downloads/Leitlinien/Ovarialkarzinom/Version_4/LL_Ovarialkarzinom_Langversion_4.01.pdf).

Ärztinnen und Ärzte sind generell verpflichtet, den Verdacht auf das Vorliegen einer Berufskrankheit an den Unfallversicherungsträger oder an die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Landesbehörde zu melden (§ 202 SGB VII). Wenn also eine Patientin mit einem Ovarialkarzinom anamnestische Hinweise auf eine berufliche Exposition gegenüber Asbest hat, ist der Arzt gesetzlich verpflichtet, den begründeten Verdacht auf eine Berufskrankheit an den Staatlichen Gewerbearzt oder den zuständigen Unfallversicherungsträger zu melden.


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Berufliche Expositionsmöglichkeiten, die der Gynäkologe bei der Anamnese einer Patientin mit Ovarialkarzinom somit erfragen muss

In der Bundesrepublik Deutschland, welches Importland für Asbest war, wurden aus Rohasbest zahlreiche Produkte hergestellt. Beispielhaft aufgeführt seien die Asbestzementindustrie, die Reibbelagindustrie, die Gummi-Asbest-(IT-)Industrie, die Asbestpapier-, -pappen-, -dichtungs- und -filterindustrie, die Asbesttextilindustrie und die Asbestkunststoffindustrie.

Darüber hinaus werden bzw. wurden in den verschiedensten Gewerbezweigen asbesthaltige Produkte eingesetzt, z. B. bei bestimmten Tätigkeiten im Hoch- und Tiefbaugewerbe, Kraftfahrzeuggewerbe, Isoliergewerbe, im Lüftungs-, Klima-, Heizungs- sowie Fahrzeugbau.

Die Latenzzeiten zwischen Expositionsbeginn und Erkrankung dürften bei im Mittel etwa 30 bis 50 Jahren liegen, also ist die Erhebung der Arbeitsanamnese vor Jahrzehnten essenziell.

Wichtige Gefahrenquellen für das Einatmen von Asbeststaub sind bzw. waren insbesondere:

  • Asbestaufbereitung. Hierbei wird in Kollergängen, Prall- oder Schlagmühlen entweder asbesthaltiges Muttergestein zerkleinert und/oder Rohasbest zu stärker aufgeschlossenen Fasern aufgelockert.

  • Herstellung und Verarbeitung von Asbesttextilprodukten wie Garne, Zwirne, Bänder, Schnüre, Seile, Schläuche, Tücher, Packungen, Kleidung usw. Dabei kommen Tätigkeiten wie Abfüllen, Einwiegen, Mischen, Krempeln, Spinnen, Zwirnen, Flechten, Weben und Zuschneiden vor. Auch das Tragen unbeschichteter Asbestarbeitsschutzkleidung ist ggf. zu berücksichtigen.

  • Industrielle Herstellung und Bearbeitung von Asbestzementprodukten, speziell witterungsbeständiger Platten und Baumaterialien einschließlich vorgefertigter Formelemente, z. B. für Dacheindeckungen, Fassadenkonstruktionen, baulichen Brandschutz usw.

  • Bearbeitung und Reparatur der vorgenannten Asbestzementprodukte, z. B. Tätigkeiten wie Sägen, Bohren, Schleifen usw. im Baustoffhandel oder Bauhandwerk.

  • Industrielle Herstellung und Bearbeitung von asbesthaltigen Reibbelägen, speziell Kupplungs- und Bremsbelägen.

  • Ersatz von solchen Reibbelägen, z. B. Tätigkeiten wie Überdrehen, Schleifen, Bohren, Fräsen von Bremsbelägen in Kfz-Reparaturwerkstätten usw.

  • Herstellung, Anwendung, Ausbesserung und Entsorgung von asbesthaltigen Spritzmassen zur Wärme-, Schall- und Feuerdämmung (Isolierung).

  • Herstellung, Verarbeitung und Reparatur von säure- und hitzebeständigen Dichtungen, Packungen usw., z. B. im Leitungsbau der chemischen Industrie.

  • Herstellung, Be- und Verarbeitung von Gummi-Asbest-(IT-)Produkten.

  • Herstellung, Be- und Verarbeitung asbesthaltiger Papiere, Pappen und Filzmaterialien.

  • Verwendung von Asbest als Zusatz in der Herstellung von Anstrichstoffen, Fußbodenbelägen, Dichtungsmassen, Gummireifen, Thermoplasten, Kunststoffharzpressmassen usw.

  • Entfernen, z. B. durch Abbrucharbeiten, Reparaturen usw. sowie Beseitigung der vorgenannten asbesthaltigen Produkte.

Außerdem enthalten verschiedene Minerale, z. B. Speckstein (Talkum), Gabbro, Diabas usw. geringe Asbestanteile, unter anderem als Tremolit und Aktinolith. Sie können infolgedessen über eine Mischstaubexposition zu Asbestrisiken führen.

Die Arbeitsanamnese bezüglich einer beruflichen Asbestexposition kann sehr zeitsparend gestaltet werden, wenn die Patientin gebeten wird, eine ausführliche Aufstellung beruflicher Expositionsmöglichkeiten anhand einer im Internet verfügbaren Zusammenstellung durchzugehen: https://www.tumorzentrum-muenchen.de/fileadmin/Downloads/Patientenseite/Experten_Service/Fragebogen_Berufl._Risikofaktoren_2017.pdf

Gegebenenfalls kann auch die Unterstützung der ortsansässigen arbeitsmedizinischen Hochschulinstitute mit Ambulanzen in Anspruch genommen werden.

Merke

Ist bei einer Patientin mit Ovarialkarzinom die Arbeitsanamnese hinsichtlich einer der genannten oder ähnlicher Tätigkeiten positiv, ist eine Berufskrankheiten-Verdachtsanzeige zu erstatten.

Diese erfolgt auf dem amtlichen Formular: https://www.dguv.de/medien/formtexte/aerzte/f_6000/f6000.pdf

Sofern bei den Patientinnen Thorax-Computertomografien vorliegen, ist es hilfreich, wenn der befundende Radiologe nach typischen Zeichen von Asbest-Inhalationsfolgen (Asbestose, häufiger Pleuraplaques) fahndet, da diese Brückenbefunde die Anerkennung erleichtern. Anderenfalls wird vom Unfallversicherungsträger zu ermitteln sein, ob ein kumulatives Dosismaß von 25 Faserjahren erfüllt ist. Hierzu enthält der Faserjahr-Report 1/2013 [6] differenzierte Messwerte, auch von historischen Arbeitsplätzen.


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Sinnhaftigkeit der Meldepflicht

Abgesehen von der gesetzlichen Pflicht zur Verdachtsmeldung wird erfahrungsgemäß von Ärzten und Betroffenen oft die Frage gestellt, worin der Sinn einer Meldung für den Erkrankten bestehe.

Hier muss formal unterschieden werden zwischen Versicherungsfall und Leistungsfall. Der Versicherungsfall ist definiert als Krankheit eines Versicherten, welche die Kriterien eines Berufskrankheiten-Tatbestandes (hier der BK 4104) erfüllt und dieser infolge einer versicherten Tätigkeit erlitten hat. Der Leistungsfall tritt dann ein, wenn Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit gegeben ist oder eine Minderung der Erwerbsfähigkeit gegeben ist. Im Falle eines Ovarialkarzinoms als Berufskrankheit wird praktisch immer nicht nur der Versicherungs-, sondern auch der Leistungsfall gegeben sein. Zum Leistungskatalog der Gesetzlichen Unfallversicherung zählen neben Präventionsleistungen unter anderem

  • Heilbehandlung

  • Leistungen zur Rehabilitation

  • Leistungen zur Wiederaufnahme des Arbeitslebens

  • Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft

  • Leistungen bei Pflegebedürftigkeit

Zudem übernimmt die Gesetzliche Unfallversicherung finanzielle Leistungen während der Arbeitsunfähigkeit und zahlt Verletztengeld oder Übergangsgeld. Beim Ovarialkarzinom ist nahezu immer von einer Minderung der Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszugehen, sodass im Falle der Anerkennung einer Berufskrankheit mit einer Versichertenrente zu rechnen ist. Darüber hinaus sind Hinterbliebenenleistungen vorgesehen.

Der praktische Ablauf im Berufskrankheitenverfahrens einschließlich Begutachtung ist bei [19] ausführlich dargestellt. Weiterführende Informationen zum Thema Berufskrankheiten finden sich überdies bei Nowak [20] und Nowak und Ochmann [21].

Eine konsequente Meldung von Verdachtsfällen kann langfristig auch zur Beantwortung der praktisch wichtigen Frage der präventiven Adnektomie bei asbstbedingtem Pleuramesotheliom beitragen: Hierzu gibt es bislang keine Daten, wieviele Patientinnen mit einem Pleuramesotheliom ein Ovarialkarzinom entwickeln. Daher kann derzeit keine generelle Empfehlung zur präventiven Adnektomie gegeben werden. Diese Empfehlung bezieht sich aktuell nur auf BRCA1 und BRCA2 und weitere Hochrisikogene. Deshalb kann die aktuelle Empfehlung für Gynäkologen nur sein, eine Asbestexposition zu erfragen und bei Auftreten eines Ovarialkarzinoms dieses als begründeten Verdacht auf eine Berufskrankheit zu melden, um weitere Daten zu erlangen und ggf. oben stehende Frage beantworten zu können.


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Fallfindung „Ovarialkarzinom durch Asbest“

Die Studien, die der Schaffung der Berufskrankheit „Ovarialkarzinom durch Asbest“ zugrunde lagen, wiesen vielfach Limitationen auf wie mangelhafte histologische Validierung oder geringe Teilnehmerzahlen. Für die Weiterentwicklung der Berufskrankheit wäre die noch präzisere Ausarbeitung einer Dosis-Wirkungs-Beziehung wünschenswert gewesen. Es wurde daher mit Unterstützung durch die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) eine Pilotstudie durchgeführt, um die Testung der Machbarkeit einer groß angelegten epidemiologischen Studie zur noch präziseren Untersuchung des quantitativen Zusammenhangs zwischen einer beruflichen Asbestexposition und der Erkrankung an einem Ovarialkarzinom zu prüfen. Zugleich sollte versucht werden, möglichst viele Erkrankte auf diesem Wege der „aktiven Fallfindung“ aus dem Kollektiv der Gesundheitsvorsorge (GVS) einem Berufskrankheitenverfahren zuzuführen. Aus insgesamt 16 000 bei der Gesundheitsvorsorge (GVS) c/o Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse (BG ETEM) erfassten weiblichen Versicherten, die als ehemals beruflich asbestexponiert registriert waren, wurden von der GVS zwischen Dezember 2017 und April 2018 insgesamt 1000 Versicherte per Zufallsziehung gezogen und zur Studienteilnahme eingeladen. Diejenigen Versicherten, die sich zur Teilnahme bereit erklärten, wurden anschließend mittels eines telefonischen Interviews befragt. Dabei kam der Fragebogen zum Einsatz, der auch im Rahmen der Hauptstudie eingesetzt werden sollte. Die Machbarkeit des Projekts wurde anhand genau festgelegter Kriterien überprüft. Die Kriterien bezogen sich auf die zu erwartende Teilnahmebereitschaft, die voraussichtliche Fallzahl, die Möglichkeit detaillierter Faserjahrberechnungen anhand der per Fragebogen gesammelten Daten zur Asbestexposition sowie der Verfügbarkeit relevanter medizinischer Unterlagen (Aufnahmen aus bildgebenden Verfahren, Arztbriefe, histologisches Material). Die Teilnahmebereitschaft war mit 17% deutlich geringer als die angestrebte Zahl (60%). Die Fallzahl lag mit 6 Verdachtsfällen auf Vorliegen eines Ovarialkarzinoms, von denen 2 Diagnosen aufgrund medizinischer Unterlagen als gesichert angesehen werden konnten, innerhalb des erwarteten Bereichs. Faserjahrberechnungen konnten mithilfe der Fragebogenangaben bei 29% der Befragten vorgenommen werden, darunter jedoch nur für einen der Verdachtsfälle. Medizinische Unterlagen konnten bei nur sehr wenigen Versicherten erhoben werden. Somit wurde nur das Machbarkeitskriterium der erwarteten Fallzahl erfüllt. Die Ergebnisse der Pilotstudie deuten somit darauf hin, dass das beabsichtigte Vorhaben aufgrund der limitierten Teilnahmebereitschaft nur sehr begrenzt machbar ist [22].

Da also eine „flächendeckende“ Befragung der beruflich ehemals asbestexponierten Frauen, die bei der GVS erfasst sind, mangels hinreichender Teilnahmeraten nicht sinnvoll erscheint, kommt der verantwortungsvollen Erhebung der Asbestanamnese und Berufskrankheiten-Verdachtsmeldung durch den einzelnen Gynäkologen besondere Bedeutung zu. Hierzu möchte der vorliegende Artikel einen Beitrag leisten.


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Conflict of Interest/Interessenkonflikt

The authors declare that they have no conflict of interest./Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Correspondence/Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Dennis Nowak
Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin
LMU Klinikum
Ziemssenstraße 1
80336 München
Germany   

Publication History

Received: 15 April 2020

Accepted after revision: 18 January 2021

Article published online:
20 May 2021

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Fig. 1 Meta-analysis on the association between occupational exposure to asbestos and ovarian cancer, based on Camargo et al. (2011) and additional consideration of data from Langseth et al. (2004), Ferrante et al. (2007), Wang et al. (2013) and Oddone et al. (2014), replacement of Pira et al. (2007) with Pira et al. (2016). From [1].
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Abb. 1 Metaanalyse zum Zusammenhang zwischen beruflicher Exposition gegenüber Asbest und Ovarialkarzinomen, basierend auf Camargo et al. (2011) und zusätzlicher Berücksichtigung der Daten von Langseth et al. (2004), Ferrante et al. (2007), Wang et al. (2013) und Oddone et al. (2014), Ersatz von Pira et al. (2007) durch Pira et al. (2016). Aus [1].