Eine Patientin stellt sich mit chronischen Schmerzen in der Halswirbelsäue vor. Die
Rotation und Seitneigung des Kopfes sind eingeschränkt, gelegentlich kommen Kopfschmerzen
hinzu. Trotz diverser Untersuchungen und Behandlungen konnten ihre Beschwerden bisher
nicht nachhaltig gelindert werden. Hinzu kommt, dass sie momentan in einem nicht gut
ausgestatteten Homeoffice arbeitet. Ihr Leidensdruck ist dadurch weiter gestiegen.
Statt nun auf einzelne Muskeln und Gelenkfehlstellungen einzugehen, zielt die neurozentrierte
Betrachtungsweise (auch unter dem Begriff „Neuroathletik“ bekannt) auf den Ursprung
der Schmerzen ab: das Gehirn.
Das Gehirn als Entscheider
Das Gehirn als Entscheider
Um die Wirkweise dieses Ansatzes zu verstehen, lohnt es sich, einen Schritt zurückzugehen
und sich bewusst zu machen, dass Schmerzen ausschließlich im Gehirn entstehen (HINTERGRUND,
S. 41). Bei jeder Schmerzerfahrung spielen viele unterschiedliche Faktoren eine Rolle
– ob etwas schmerzt oder nicht, entscheidet jedoch allein unser Gehirn. Dies gilt
ausnahmslos für alle Fälle [4].
Unser Nervensystem bzw. Gehirn ist also konstant damit beschäftigt, unseren Körper
und unsere Umwelt auf Anzeichen möglicher Gefahren oder Bedrohungen hin zu überprüfen.
Dazu nutzt es primär drei verschiedene Systeme zur Orientierung in der Umwelt [1]:
-
das visuelle System (Augen)
-
das vestibuläre System (Gleichgewicht)
-
das propriozeptive System
Jedes dieser Systeme beinhaltet bestimmte Fähigkeiten. Wird ein System nicht regelmäßig
trainiert, verschlechtert es sich mit der Zeit nach dem „Use it or lose it“-Prinzip.
Alle drei Systeme sind immens wichtig und erfüllen eine jeweils einzigartige Aufgabe.
Es zeigt sich jedoch, dass unser Nervensystem eine grundlegende Hierarchie innerhalb
dieser Systeme angelegt hat. Dabei orientiert es sich an dem zuvor beschriebenen Gedanken
des Überlebens. Einfach ausgedrückt: Unser Gehirn priorisiert die eingehenden Informationen
danach, welche davon ihm am schnellsten Auskunft über mögliche Bedrohungen in der
Umwelt liefern. Dies gilt sowohl für interne Bedrohungen, etwa eine Verletzung, als
auch für externe, zum Beispiel einen großen, gefährlich aussehenden Hund auf der anderen
Straßenseite.
Augenliegestütz/Pencil Push-up
Übungsausführung
Die Ausgangsposition ist ein neutraler Stand. Um die Übung einfacher zu machen, lässt
sie sich auch im Sitzen durchführen. Der Vision Stick bzw. ein Buchstabe darauf ist
das visuelle Ziel. Es ist auch möglich, die Übung mit einem einfachen Stift auszuführen.
Die Patientin hält den Vision Stick mit (fast) ausgestrecktem Arm mittig vor ihren
Augen ([ABB. 1]). Nun bewegt sie den Vision Stick langsam auf ihre Nase zu ([ABB. 2]). Wichtig ist, dass das visuelle Ziel (hier der Buchstabe) während der gesamten
Bewegung klar und deutlich erkennbar bleibt. Der Buchstabe ist weder verschwommen
noch doppelt zu sehen.
© Ludwig Artzt GmbH (Symbolbild)
© Ludwig Artzt GmbH (Symbolbild)
Kurz vor der Nase angekommen, bewegt die Patientin den Vision Stick langsam wieder
zurück zur Ausgangsposition ([ABB. 3]). Sie bleibt während der gesamten Übung mit ihren Augen auf dem Stick. Der Therapeut
achtet darauf, dass sich der Kopf nicht mitbewegt, die Augen auf dem Ziel bleiben
und sich gleichmäßig bewegen.
Der Pencil Push-up wird 3–5-mal durchgeführt.
© Ludwig Artzt GmbH (Symbolbild)
Übungsausführung
Die Sehtafel „Periphere Wahrnehmung“ wird im Abstand von 30–40 Zentimetern vor dem
Gesicht auf Augenhöhe positioniert ([ABB. 4]). Die Ausgangsposition ist ein neutraler Stand. Alternativ lässt sich die Übung
zur Vereinfachung auch im Sitzen durchführen.
© Ludwig Artzt GmbH (Symbolbild)
Die Patientin fokussiert den innersten Buchstaben der Sehtafel. Währenddessen versucht
sie, die Buchstabenkreise um den Mittelpunkt herum wahrzunehmen, ohne ihre Augen von
der Mitte zu bewegen. Hierbei wird von innen nach außen gearbeitet.
Die Gesamtdauer je Einheit sollte zu Beginn rund 30 Sekunden betragen.
Variationen
verschiedene Kopf und/oder Körperpositionen einnehmen, die Übung mit je einem Auge
separat durchführen ([ABB. 5]), anstelle der Sehtafel im (Büro-)Alltag auch räumliche Gegebenheiten wie Wände,
Bilder, Kanten oder Fenster nutzen
© Ludwig Artzt GmbH (Symbolbild)
Visuelles System als wichtigster Informationsgeber
Visuelles System als wichtigster Informationsgeber
Wichtigster Informationsgeber sind die Augen bzw. das visuelle System (40 Prozent).
Dann folgt das vestibuläre System (35 Prozent) und erst an dritter Stelle das propriozeptive
System (25 Prozent) [1], [2]. Diese Zahlen sind lediglich grobe Richtwerte und können leicht variieren. Die Reihenfolge
bleibt jedoch jederzeit unverändert. Sind alle drei Systeme voll funktionsfähig und
frei von jeglicher Einschränkung, erreicht unser Gehirn 100 Prozent und fühlt sich
absolut sicher.
Zurück zu unserer Patientin: Da sie einen Computerarbeitsplatz hat und damit eine
vorwiegend sitzende Tätigkeit, ist die Wahrscheinlichkeit einer Augenproblematik zusätzlich
zu den propriozeptiven Problemen hoch. Üblicherweise folgt aus einer solchen Symptomatik
eine Behandlung der Muskulatur, der Gelenke etc.. Das heißt, die Therapie befasst
sich hier mit dem „geringsten“ Informationsgeber. Selbst wenn die Patientin optimal
auf die Behandlung reagiert und dieses System dadurch völlig wiederhergestellt wird,
müssen alle Systeme (visuell, vestibulär und propriozeptiv) in die Therapie integriert
werden, um eine bestmögliche Behandlung zu gewährleisten. Werden nicht alle drei Systeme
berücksichtigt, ist es möglich, dass sich die Beschwerden zwar kurzzeitig verbessern,
jedoch schnell wieder auftreten, sobald die Patientin zum Beispiel länger am PC gearbeitet
hat.
Unser Gehirn ist konstant damit beschäftigt, Körper und Umwelt auf Bedrohungen hin
zu überprüfen.
Die Augen in die Behandlung integrieren
Die Augen in die Behandlung integrieren
Statt nun erneut das propriozeptive System in den Vordergrund zu stellen, integriert
man im neurozentrierten Training den primären Informationsgeber in die Behandlung:
die Augen. Durch sie erhält das Gehirn die meisten Informationen über unsere Umwelt
und hierüber werden fast alle unsere Bewegungen koordiniert. Liefern die Augen mangelhafte
oder zu wenige Informationen an unser Nervensystem, ist das Gehirn nicht in der Lage,
Situationen adäquat einzuschätzen [1]. Dies kann zu Bewegungseinschränkungen und im schlimmsten Fall auch zu Schmerzen
führen. Somit ist es unerlässlich, dieses System bei Nackenschmerzen in die Behandlung
zu integrieren.
Für unser Fallbeispiel bieten sich die Übungen „Augenliegestütz/Pencil Push-up“, „Peripheres
Sehen“, „Augenmassage“ und „Lochbrille“ an. Mit dem „Augenliegestütz/Pencil Push-up“
(S. 39) können wir direkten Einfluss auf das Mittelhirn (Mesencephalon) nehmen, da
dort die Kerne der Hirnnerven III und IV liegen [1], [2], [3]. Ebenfalls entspringt der Tractus tectospinalis in den oberen Hügeln des Mittelhirndachs.
Dieser ist mitverantwortlich für die Aktivierung bzw. Stabilisierung der Hals- und
Nackenmuskulatur [2], [5]. Auch für Schmerzpatienten ist das Mittelhirn ein interessanter Bereich. Hier liegt
das periaquäduktale Grau, das einen entscheidenden Einfluss auf die endogene Schmerzhemmung
hat [2], [3].
Übungsausführung
Die Ausgangsposition ist der neutrale Stand oder ein entspannter Sitz. Die Patientin
tastet mit ein bis zwei Fingern die oberen, unteren, äußeren und inneren Bereiche
der knöchernen Augenhöhle ab. Diese Stellen werden von der Patientin 3–5 Sekunden
kreisförmig massiert. Die Dauer kann auf bis zu 1 Minute je Muskel gesteigert werden.
Bereichen mit höherer Spannung bzw. Empfindlichkeit kann vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt
werden.
ABB. 6 Lage der äußeren Augenmuskeln (Mm. externi bulbi oculi) an einem rechten Auge. Die
Bewegungen des Augapfels werden von vier geraden (Mm. recti superior, inferior, medialis
und lateralis) und zwei schrägen Muskeln (Mm. obliquii superior und inferior) bewirkt.
© Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Kopf, Hals
und Neuroanatomie. Illustrationen von K. Wesker und M. Voll. 5. Aufl. Stuttgart: Thieme;
2018
Refresher Schmerzentstehung
Oft herrscht immer noch ein falsches Verständnis von Schmerzen. Dieses führt häufig
dazu, dass Schmerzbehandlungen nicht den gewünschten Erfolg erzielen. Auch kann solch
ein falsches Verständnis in manchen Fällen den Schmerz verschlimmern oder ihn gar
erst entstehen lassen. Daher ist es für Therapeuten entscheidend zu verstehen, was
Schmerz bedeutet und wie und wo er entsteht.
Ein Irrglaube ist, dass Schmerzen im Körper entstehen, und zwar in den häufigsten
Fällen dort, wo das „Problem“ besteht [4]. Im Fallbeispiel wäre das in der HWS. Diese Sichtweise definiert Schmerz als ein
„Eingangssignal“ bzw. als Input im Gehirn, was jedoch nicht richtig ist. Schmerzen
entstehen ausschließlich im Gehirn [4]. Allein dieses entscheidet, ob Schmerzen empfunden werden oder nicht – und auch,
wo sie empfunden werden. Somit sind Schmerzen als eine Art Ausgangssignal („Output“)
unseres Gehirns zu verstehen. Das Nervensystem entscheidet also darüber, ob wir Schmerz
verspüren, wie viel Schmerz wir verspüren und beispielsweise auch, wie stark unsere
Beweglichkeit durch ein Problem eingeschränkt wird. Durch Schmerzen beeinflusst unser
Gehirn unsere Handlungen mit dem Ziel, eventuelle Schäden zu vermeiden oder zu reduzieren
[4]
Ebenfalls wird oft angenommen, dass irgendeine Art von „Schaden“ vorhanden sein muss,
wenn Schmerzen auftreten. Doch auch dies ist nicht zwangsläufig der Fall. Die Ursache
kann eine völlig andere sein. Schmerzen entstehen immer dann, wenn unser Gehirn der
Meinung ist, dass wir uns in „Gefahr“ befinden [4]. Vielleicht fühlt sich unser Gehirn in diesem Moment unsicher und nutzt einen eventuell
schon bekannten Schmerz, um unsere Handlung zu beeinflussen und wieder mehr Sicherheit
zu gewinnen. Das Gehirn ist einzig und allein an unserem Überleben interessiert. Dazu
wird jede Situation danach beurteilt, ob sie potenziell gefährlich ist oder nicht.
Um sich gut bewegen zu können und Schmerzen zu reduzieren, braucht das Gehirn vor
allem eins: Sicherheit [1], [4].
Übungsausführung
© Ludwig Artzt GmbH (Symbolbild)
Eine Alternative zur Augenmassage ist die Lochbrille (auch Rasterbrille genannt).
Sie hilft vielen Patienten effektiv, visuellen Stress auf der Netzhaut zu reduzieren.
Lochbrillen reduzieren die Zerstreuungskreise des Lichtes. Hierdurch kommen weniger
„Stresssignale“ im Gehirn an, und es fühlt sich somit sicherer [6]. Gerade bei PC-Arbeitsplätzen können die Patienten hierdurch auf einfache Art eine
angenehme Entlastung der Augen erreichen. Die Lochbrille lässt sich mehrmals täglich
für jeweils bis zu 10 Minuten tragen.
Die Übung „Peripheres Sehen“ (PERIPHERES SEHEN, S. 38) trainiert die visuelle Wahrnehmung,
bei der nicht die Fixierung eines Objekts im Mittelpunkt steht (wie ein PC-Bildschirm),
sondern die Umgebung. Wie gut wir Dinge sehen, auf die wir nicht schauen, ist in Bezug
auf die Vorhersehbarkeit und somit Sicherheit für das Gehirn unabdingbar. Eine Verbesserung
des peripheren Sehens ist somit eine schnelle und einfache Möglichkeit, dafür zu sorgen,
dass das Gehirn sich sicherer fühlt.
Das periphere System liefert eine Vielzahl von visuellen Informationen an das ZNS,
die im Mittelhirn verarbeitet werden. Das Mittelhirn hat gleichzeitig einen großen
Einfluss auf die Steuerung der Nackenmuskulatur und begünstigt eine gute Kopf-, Nacken-
und Rumpfstabilität [6]. Dadurch eignet sich die Übung des peripheren Sehens ebenfalls hervorragend als
schnelle und einfach Alltagsübung für Patienten mit (chronischen) Nackenbeschwerden.
Da unsere Patientin täglich viele Stunden vor dem PC verbringt, werden die Augen quasi
einem „Dauerreiz“ ausgesetzt. Daher sind weitere Übungen für die Augenentspannung
im Alltag unabdingbar. Die folgenden Übungen „Augenmassage“ (S. 41) und „Lochbrille“
(Kasten oben) eignen sich zum Entspannen der Augen und erzielen auch bei Patienten
mit Kopfschmerzen häufig gute Ergebnisse. Bei der Augenmassage werden die außerhalb
der Augen liegenden Muskeln, die für die Bewegung der Augen zuständig sind ([ABB. 6], S. 41), massiert. Diese befinden sich in kleinen Einstülpungen am inneren Rand
der knöchernen Augenhöhle. Die Technik kann sehr gut während und nach langer Bildschirmtätigkeit
verwendet werden. Bei der Anwendung mit dem Patienten ist zu beachten, dass der Augenbereich
sehr sensibel sein kann. Dementsprechend ist die Augenmassage vorsichtig anzuleiten.
Die mechanische Herangehensweise erweitern
Die mechanische Herangehensweise erweitern
Die neurozentrierte Herangehensweise ist mittlerweile in vielen Bereichen etabliert.
Auch in der Physiotherapie ist sie ein weiterer elementarer Baustein zu den bekannten
Behandlungsmethoden. Es ist empfehlenswert und aus unserer Sicht absolut notwendig,
neben dem propriozeptiven System auch das vestibuläre und visuelle System mit in den
Praxisalltag einzubinden. Dies bedeutet, dass zusätzlich zu der mechanischen Herangehensweise
die neuronalen Gesetze beachtet und etabliert werden müssen.
Diese zusätzliche Herangehensweise erfordert Offenheit für neue Konzepte, neurologisches
Grundlagenwissen und die Bereitschaft, umzudenken. Belohnt wird man mit dankbaren
Patienten, einem äußerst interessanten und spannenden Ansatz sowie vielen neuen Ideen.
Neurozentriertes Training hilft Patienten, bei denen klassische Therapieansätze keinen
Fortschritt erzielen.
Vor allem aber hilft das neurozentrierte Training im Praxisalltag bei Patientenfällen,
bei denen die klassischen Therapieansätze nicht den gewünschten Fortschritt erzielen.
Das neurozentrierte Training eignet sich daher ideal, um langfristig die Behandlungsqualität
und -kreativität zu steigern.