physiopraxis 2021; 19(03): 52-55
DOI: 10.1055/a-1368-2099
Perspektiven

Energieräuber – Interaktion zwischen Therapeut und Patient

Oliver Schäfer
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Tom Schuster
 

Es gibt Begegnungen mit Menschen, die geben einem Energie – andere wiederum rauben sie einem. So ist es auch mit Patienten. Die gute Nachricht: Mithilfe verschiedener Strategien können sich Therapeuten davor schützen, dass andere Menschen ihre Akkus aufbrauchen.


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Oliver Schäfer

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Oliver Schäfer ist Sportlehrer, Sporttherapeut, Advanced-NLP-Master, NLP-Master und NLP-Practitioner.

Tom Schuster

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Tom Schuster macht derzeit seinen Master in Sporttherapie, Prävention und Betrieblichem Gesundheitsmanagement an der IST – Hochschule für Management. Außerdem ist er Entspannungstherapeut. Zu dem Thema bieten die beiden auch Kurse für Physiotherapeuten an (www.mastersofenergy.de).

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ABB. Energieraubende Patienten sind oft sehr einnehmend, kosten den Therapeuten viel Kraft und lassen ihn nicht selten mit leeren Energie-Akkus zurück. © Thieme Group/S. Schaaf

Kennen Sie dieses Gefühl am Abend nach Ihren Behandlungen, wenn Sie müde und ausgelaugt auf dem Sofa sitzen und sich selbst sagen: „Atmen, ich muss atmen.“

In diesen Momenten fragt man sich, was denn heute los war, dass man sich so ausgelaugt fühlt. Vielleicht sind Sie „Opfer“ einer energieraubenden Interaktion durch einen oder mehrere Patienten geworden? Vielleicht ging es Ihnen genauso wie der Therapeutin, die uns die oben genannte Geschichte erzählte. Uns jedenfalls ging es wie ihr und zahlreichen Therapeutinnen und Therapeuten aus ihrem Bekanntenkreis. Neugierig und motiviert begaben wir uns auf die Suche nach diesen „Energieräubern“, um künftig besser auf derartige Begegnungen vorbereitet zu sein. Bei der Suche nach Antworten in der Literatur und im Internet wurden wir erst einmal enttäuscht, da es kaum erwähnenswerte und hilfreiche Quellen bzw. Studien gab. Die Thematik „Energieraub“ bzw. „Energievampire“ wird in der Gesellschaft teilweise als spirituelles Hirngespinst abgetan, ähnlich wie der schlechte Schaf bei Vollmond.

Von Energieraub betroffene Menschen schieben ihr eigenes Energiedefizit häufig auf das Wetter, schlechte Laune, Hunger oder zu wenig Schlaf. So ist auch leicht zu erklären, dass entsprechende Literatur kaum verfügbar ist und Energieräuber häufig mit Zeitmanagement in Verbindung gebracht werden. Wir wollten schützende Werkzeuge beim Umgang mit Energieraub finden. Daher tauchten wir intensiver in diese Thematik ein und wurden fündig.

Bei jeder Interaktion fließt Energie.

Ist Energie messbar?

Was bedeutet Energieraub überhaupt? In der Wissenschaft ist es umstritten, ob es überhaupt eine physische bzw. emotionale Energie gibt, auch ob diese Energie gemessen werden kann. Jeder kennt Kälte und Wärme, doch wie lässt sich das Gefühl hierzu beschreiben? Objektiv messbar ist beides erst seit Erfindung des Thermometers. Vielleicht gibt es ja irgendwann auch eine Messvorrichtung für die emotionale Energie?

Wahrscheinlich kennt jeder das Phänomen, dass gewisse zwischenmenschliche Beziehungen uns bereichern und Kraft geben. Andererseits hat man manchmal mit Menschen zu tun, mit denen eine Begegnung anstrengend ist, was einem eher Kraft zu rauben scheint. Je länger man mit ihnen in Interaktion tritt, desto ausgelaugter, enttäuschter und emotional erschöpfter fühlt man sich.

Doch wenn es Energieräuber gibt, gibt es denn auch entsprechende „Gegenpole“? Ja, diese Energiegeber oder -schenker gibt es. Jede Interaktion zwischen Menschen ist stets ein Austausch von Energie. Im Optimalfall wird diese Energie dann potenziert, und beide Akteure gehen positiv und energiegeladen daraus hervor. Vielleicht erinnern Sie sich an Begegnungen mit Menschen, die Ihnen ein Lächeln auf die Lippen zaubern und aus denen Sie energiegeladen herausgehen. Es gibt aber auch Begegnungen, sei es als Therapeut oder im Alltag, nach denen man sich regelrecht „ausgesaugt“ fühlt. Energieraub im klassischen Sinn bedeutet, dass eine Person, die aufgrund der zuvor stattgefundenen Interaktion, sei diese nun auf körperlicher oder verbaler Ebene, energieärmer zurückbleibt als zuvor. Dies kann sich auch niederschwelliger abspielen und sich in leichter Müdigkeit, Kopfschmerzen, Zerstreutheit oder innerer Unruhe bzw. Unlust äußern.

Ein guter Walk & Talk gehört zu den besten Tankstellen, um seine Batterien wiederaufzuladen.


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Energieraub geschieht aus Mangel heraus

Eine Massagetherapeutin beschrieb das eigene Energieniveau als einen mit Wasser gefüllten Krug, der an manchen Tagen mehr Wasser und an anderen Tagen weniger Wasser in sich trage. An Tagen, an denen der Wasserkrug gefüllter mit Wasser sei, würde es ihr leichterfallen, Energie an ihre Patienten abzugeben. Doch welche Personen entziehen Energie und wie läuft das ab? Energieraub geschieht immer aus einem Mangel heraus. Ein Mensch mit Mangel im ureigenen Energieniveau dürstet nach Energie, die er von Menschen erhält. Hierbei ist es dieser Person völlig gleich, ob dieser „Energiespender“ über ausreichend Energie verfügt. Er bedient sich des Gegenübers, ähnlich wie bei einer Ladestation. Menschen, die Energie rauben, lassen sich unterschiedlich einteilen – auch in der Physiotherapie. So gibt es zum Beispiel solche, die den Therapeuten komplett vereinnahmen. Sie nehmen viel Raum und Zeit ein und somit Energie auf. Diese Menschen jammern, reden viel, nörgeln, klagen über alles und jeden. Sie lassen sich als „anstrengend“ bezeichnen, höflich würde man sie „herausfordernd“ nennen.


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Energieraub erkennen

Ein Energieraub kann verbal oder nonverbal erfolgen. Nicht nur eine Berührung oder ein Gespräch kann zu einem Energiedefizit führen, sondern auch ein flüchtiger Blickkontakt. Nach unserer Auffassung gibt es nur zwei Zeitpunkte, wann man einen Energieraub erkennt: direkt während des Energieraubes oder (unmittelbar) danach. Wir bezeichnen dies als Identifizierungsphase.

Wenn man eine energieraubende Person erkannt bzw. entlarvt hat, wird es einem deutlich leichterfallen, Schutzmechanismen zu aktivieren. Wie aber schützt man sich vor dem Kontakt mit solchen Menschen? Die sogenannte Schutzphase beschreibt den Zeitraum vor dem unmittelbaren Kontakt mit dem Patienten und hilft dem Therapeuten energiegeladener auf eine energieraubende Situation vorbereitet zu sein. In dieser Phase geht es auch darum, die eigene „Schutzausrüstung“ zu stärken. Dadurch lassen sich eventuelle energetische Angriffe abblocken oder zumindest abmildern. In der Schutzphase haben sich folgende exemplarisch genannte und hilfreiche Strategien bewährt: ein erholsamer Schlaf, Bewegung vor der Arbeit, eine mentale Vorbereitung und ein „Plan B“.

Hierbei könnten selbst Kleinigkeiten wie eine Kette, ein Lieblingskleidungsstück oder Accessoires verwendet werden, die dem Träger eine zusätzliche mentale Stärke schenken.

Bei allem, was wir tun, geht es letztlich darum, das Energieniveau zu halten oder zu steigern.


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Schutzausrüstung stärken

Therapeuten sollten schon im Vorfeld dafür sorgen, dass ihre Energiedepots ausreichend gefüllt sind. Wie zuvor genannt, ist ein erholsamer Schlaf eine Möglichkeit, um die eigenen Ressourcen aufzuladen. Bewegung an der frischen Luft, ausreichend Pausen, eine sinngebende Aufgabe, Hobbys sowie ein positives Netzwerk aus Partner, Familie, Freunde, Kollegen usw. schenken zusätzlich Kraft und Energie. Das Aufsuchen von Kraftorten – dies kann ein Ausflug in die Berge, zum See oder zum nahe gelegenen Wald sein – ermöglicht es vielen Menschen, wieder „aufzutanken“ und dadurch gestärkt in den Alltag zurückzukehren. Überlegen Sie mal, wer oder was dafür sorgt, dass Ihr Energiedepot mit (mehr) Energie genährt wird? Nicht nur die Versorgung mit Energie ist für das Individuum wichtig, auch das Konservieren der Energie ist bedeutsam.

Umfrage

Erfahrungen bei Energieraub

Haben auch Sie schon Erfahrungen mit energieraubenden Patienten gemacht? Wenn ja, dann nehmen Sie an der einminütigen Umfrage teil:

www.surveymonkey.de/r/H97ZHMH. Bisherige Ergebnisse zeigen, dass über 80 Prozent der Teilnehmer bereits Energieraub erfahren haben.


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Stressor richtig bewerten

Jede Situation, in der man einen Energieraub erfährt, ist für den Organismus ein Stressor. Nach Richard Lazarus ist die Reaktion auf einen Stressor abhängig von den „Gedanken, den Beurteilungen und den Bewertungen“ des Menschen, der diesem Stressor ausgesetzt wird. Sobald das Gehirn einen Stressor identifiziert, folgt eine Stressreaktion, das umgangssprachlich als „Stress haben“ bezeichnet wird. Ohne näher auf die hierbei entstehende Hormonsituation einzugehen, ist der Umgang mit dieser Stresssituation von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Ein Drittel der Weltbevölkerung ist resilienter als der Rest. Das heißt, trifft ein Therapeut, der resilienter ist, auf eine energieraubende Person, hat er mehr Ressourcen zur Verfügung, diesen Energieraub auszugleichen.

Diese Ressourcen sind jedoch nicht unerschöpflich. Wir stellen die These auf, dass resilientere Menschen leichter mit Energieräubern umgehen können. Wie bereits erwähnt, schützt ein Schutzschild vor Energievampiren – und Resilienz ist ein trainierbares Schutzschild.


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Bei Gefahr direkt intervenieren

Wie gesagt, gibt es nach unserer Auffassung nur zwei Zeitpunkte, wann der Therapeut intervenieren kann: während eines gerade stattfindenden Energieraubs oder unmittelbar danach. Für uns stellt die Interventionsphase das „Herzstück“ der beschriebenen Thematik dar. Nachfolgend werden exemplarisch drei von vielen möglichen schützenden Werkzeugen für die beiden Zeitpunkte genannt:

  • Reduzierung der zugewandten Körperfläche: Zugegebenermaßen wirkt es zunächst unhöflich, wenn man sich als Therapeut anteilig bzw. komplett vom Patienten abwendet, und dies ist in einer Behandlung auch gar nicht immer möglich. Eine reduzierte zugewandte Körperfläche schützt aber ungemein vor Energieraub bzw. negativer Energie des Gegenübers, sodass man nicht alles direkt „von vorne“ abbekommt.

  • „mitfühlen und nicht mitleiden“ während des Kontakts mit dem Patienten (auch bei Patienten mit traumatischen (Lebens-)Geschichten)

  • Nach der Behandlung höflich, freundlich, aber bestimmt die Behandlung beenden und den Behandlungsraum verlassen.

In der Interventionsphase haben sich unter anderem Elemente aus der Positiven Psychologie, dem Neuro-Linguistischen Programmieren (NLP), der Transaktionsanalyse, dem Job-Crafting-Ansatz sowie diverse Resilienzkonzepte als erfolgreiche Strategien erwiesen. Der Therapeut wird mit ihrer Hilfe in eine Kompetenz gebracht, die ihn im Bedarfsfall dazu befähigt, individuell und unmittelbar zu reagieren und das Gelehrte in die Praxis zu transferieren.

Resiliente Menschen gehen leichter mit Energieraub um.


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Perspektive wechseln

Sich in das Gegenüber hineinzuversetzen, ist das Grundprinzip der Psychologie. Wenn der Therapeut nicht nur die eigene Position, sondern auch die des Patienten und die eines außenstehenden Beobachters einnimmt, ermöglicht dieser Perspektivwechsel ihm ein besseres Verständnis für den Energieräuber und führt zu einer ganzheitlichen Wahrnehmung der energieraubenden Situation. Auch das eigene Hinterfragen, weshalb man vielleicht (immer) selbst Opfer von Energieraub wird, während andere Kollegen kaum darüber berichten, kann helfen. Liegt es daran, dass die Kollegen nicht darüber sprechen wollen, oder sende ich bewusst oder unbewusst Signale an Patienten, die sich auf der „Energiesuche“ befinden.

Uns ging es ähnlich: Als gut erzogener Mensch und freundlicher Therapeut fragten wir selbstverständlich den Patienten, wie es ihm geht. Der Patient hat einen Beweggrund, wenn er zu einer Behandlung erscheint, sodass es unseres Erachtens nach wichtig ist, ihn zu begrüßen und eine angenehme Behandlungsatmosphäre zu schaffen. Sicherlich gibt es Behandlungen, also Aufeinandertreffen mit Patienten, bei denen die Chemie von Anfang an angenehmer ist. Selbstverständlich wird dann die Behandlung „angenehmer“ verlaufen. Wenn allerdings auf der Stirn des Therapeuten steht: „Erzähle mir all deine Probleme!“, dann werden die Patienten dies auch tun. Wir schließen uns Paul Watzlawik an, der meinte, „man kann nicht nicht kommunizieren“. Und wir stellen die These auf, dass auch in Behandlungen, in denen geschwiegen wird, Energie in Richtung eines Energieräubers fließen kann.


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Resümée

Bei jeder Interaktion (mit einem Patienten) fließt Energie, aber unseres Erachtens findet nicht bei jeder Interaktion ein Energieraub statt. Es wäre bedauerlich, wenn der Therapeut, sobald die Behandlungstür aufgeht, mit einer Person rechnet, die ihm Energie raubt. Energieraub findet sowohl wissentlich als auch unwissentlich statt. Dem Patienten ist es oft nicht bewusst, dass er Energieraub am Therapeuten begeht, er möchte jedoch, wenn es ihm nach einer Behandlung gut geht, dieses energiegeladene Gefühl erneut erleben. Es wird immer Therapeuten geben, die aufgrund ureigener Ressourcen widerstandsfähiger mit Patienten interagieren, die zu Energieraub neigen. Es gibt sowohl Energieräuber als auch Energiespender. Es ist wichtig, täglich seine Energie zu schützen. Nicht nur Patienten können Energie rauben, auch Familienangehörige, Freunde, Bekannte, Kollegen, Vorgesetzte, die Person vor uns an der Kasse usw. Des Weiteren ist es bedeutend zu erwähnen, dass auch ein körperlich besonders anstrengender Arbeitstag kräftezehrend sein kann. In diesem Fachartikel können wir nur einen kleinen Ausschnitt auf einem nahezu unbekannten Gebiet darstellen. Wir sind aber überzeugt, dass es unerlässlich ist, dass angehende Therapeuten entsprechend geschult werden und entsprechende Inhalte in die Lehrpläne aufgenommen werden sollten. Nur wer für sich selbst gut sorgt, kann auch für andere gut sorgen.

Wir möchten Therapeuten aus allen Fachbereichen ermutigen, sich klar gegenüber Energieräubern zu positionieren und achtsam, jedoch mit Bedacht, zu reagieren.


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Publication History

Article published online:
12 March 2021

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ABB. Energieraubende Patienten sind oft sehr einnehmend, kosten den Therapeuten viel Kraft und lassen ihn nicht selten mit leeren Energie-Akkus zurück. © Thieme Group/S. Schaaf