Das Thema Gesundheitskompetenz erleben wir tagtäglich auch in der Physiotherapie.
Da gibt es Patienten und Patientinnen nach Kniearthroskopie, die nicht wissen, was
eigentlich gemacht wurde. Jene, die von Problemen „an der Bandscheibe“ berichten,
aber nicht informiert sind, wozu diese eigentlich dienen. Und solche mit Verbrennungen
am Brustkorb, weil ihnen unklar ist, wie und wo sie Wärme bei Verspannungen anwenden
sollen. Sind das Ausnahmen, oder haben wir in Deutschland ein grundsätzliches Problem
mit Unwissenheit der Patient(inn)en bzw. mangelhafter Wissensvermittlung der Fachkräfte?
Repräsentative Studien zur Gesundheitskompetenz belegen diese Vermutung.
„Die Erkenntnis der eigenen Unwissenheit ist der erste Schritt zum Wissen“, so der
britische Schriftsteller Benjamin Disraeli, und vielleicht ist das der einzige positive
Aspekt, der aus den Studien zur Gesundheitskompetenz von Deutschen hervorgeht. Schon
eine erste Untersuchung (Health Literacy Survey Germany – HLS-GER 1) aus dem Jahr
2014 ermittelte bei mehr als der Hälfte der Bevölkerung eine geringe Gesundheitskompetenz
[1]. Die vergleichenden Ergebnisse einer erneuten Untersuchung (HLS-GER 1‘) und erweiterten
Analysen (HLS-GER 2) zeigten sogar, dass sich die Werte verschlechterten: Rund 64
Prozent der über 15-Jährigen haben eine geringe Kompetenz in Sachen Gesundheit [2], [3]. Beurteilt wurde in den Studien die Fähigkeit, gesundheitsrelevante Informationen
zu suchen, zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden. Damit stützen sich
die Wissenschaftler auf ein konzeptionelles Modell, das im Rahmen des European Health
Literacy Survey (HLS-EU) entwickelt wurde ([ABB. 1]).
ABB. 1 Modell der Gesundheits-kompetenz
© Eigene Darstellung nach Sørensen et al. (2012) und Schaeffer et al. (2016) [1], [8]
Die untersuchten Einflussfaktoren machen ein hohes Ausmaß gesundheitlicher Ungleichheit
deutlich: Personen mit höherem Alter, niedrigem Bildungsstand und niedrigem Sozialstatus
haben eine besonders geringe Gesundheitskompetenz. Im Bereich der Krankheitsbewältigung
ist auffällig, dass es den meisten Befragten schwerfällt, zu beurteilen, wie vertrauenswürdig
die Informationen aus den Medien sind (76 Prozent). Außerdem können viele (69 Prozent)
die Vor- und Nachteile von Behandlungsmöglichkeiten nicht richtig einschätzen.
Dabei ist es nicht nur ein Problem, Gesundheitsinformationen zu verstehen und zu beurteilen.
Selbst die Informationen von Ärzten führen sehr häufig zu Verständnisschwierigkeiten:
Auch wenn Hausärzte an erster Stelle der genutzten Informationsquellen stehen, geben
42 Prozent der Befragten an, deren Angaben nicht verstanden zu haben.
Verhalten bei geringer Kompetenz oft ungesünder
Die Mängel im Verstehen von Informationen haben häufig gesundheitliche Konsequenzen:
Menschen mit geringer Gesundheitskompetenz zeigen ein ungesünderes Verhalten. Das
drückt sich in wenig Bewegung und schlechter Ernährung aus, die Menschen sind häufiger
übergewichtig, ihre subjektive Gesundheit ist schlechter, sie haben mehr Fehltage
am Arbeitsplatz und zeigen eine intensivere Nutzung des Gesundheitssystems (mehr Arztbesuche,
Krankenhausaufenthalte, häufigere Nutzung von Notfalldiensten) [3]. Diese Ergebnisse unterstreichen, dass mangelnde Gesundheitskompetenz auch hohe
finanzielle Folgen für das Gesundheitssystem hat. Dies macht sie zu einem bedeutsamen
gesellschaftlichen Faktor und zu einer Schlüsselkompetenz [3].
Dringender Handlungsbedarf
Trotz der bedenklichen Befunde steht Deutschland bei dringend benötigten Handlungskonsequenzen
noch am Anfang. Dabei hatte schon nach den Ergebnissen aus 2014 eine Gruppe anerkannter
Expertinnen und Experten einen Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz entwickelt.
Der Plan benennt vier Handlungsfelder ([ABB. 2]) und formuliert dazu Empfehlungen, um Gesundheitskompetenz zu fördern.
ABB. 2 Handlungsfelder des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz
© Nationale Aktionsplan Gesundheitskompetenz (www.nap-gesundheitskompetenz.de/aktionsplan/handlungsfelder) [9]
Zu dem Prinzip „Das Gesundheitssystem nutzerfreundlich und gesundheitskompetent gestalten“
empfehlen die Expertinnen und Experten unter anderem: Die Kommunikation zwischen den
Gesundheitsprofessionen und Nutzern sollte man verständlich und wirksam gestalten.
Dazu sollte eine patientenzentrierte Kommunikation durch die Gesundheitsprofessionen
über fundierte Gesprächsführungstechniken sichergestellt sein und in der Ausbildung
wissenschaftlich fundierte Standards im Bereich der Kommunikations- und Vermittlungskompetenz
fest in den Curricula und Lehrplänen verankert werden [4].
Patientenzentrierte Kommunikation spielt eine große Rolle.
Die aktuellen Befunde zeigen, dass wir bisher von der Umsetzung dieser Empfehlungen
weit entfernt sind. Dabei könnten gerade Physiotherapeut(inn)en die Gesundheitskompetenz
wesentlich beeinflussen, indem sie Wissen, Motivation und Fähigkeit der Patient(inn)en
hinsichtlich des Bewegungssystems verbessern. Diese drei Facetten gehören zum Selbstmanagement
und machen eine effektive und nachhaltige Physiotherapie aus [5]. Studien zeigen, dass allein eine verbesserte Wissensvermittlung zum Beispiel nach
einer Kniearthroplastik die Resilienz und das funktionelle Outcome verbessern [6]. Physiotherapie sollte sich als Profession verstehen, die Menschen auch zur Prävention
von Störungen des Bewegungssystems mit Einschränkungen in Aktivitäten und Teilhabe
begleitet [7]. Damit könnte ihr eine Schlüsselrolle in der notwendigen Verbesserung von Gesundheitskompetenz
zukommen. Die muss sie jedoch nach Studien wie der HLS-GER 2 aktiv einfordern, denn:
„Es ist nicht genug, zu wissen – man muss auch anwenden. Es ist nicht genug, zu wollen
– man muss auch tun“, wie Johann Wolfgang von Goethe einmal sagte.