Z Sex Forsch 2021; 34(03): 189
DOI: 10.1055/a-1579-7267
Bericht

Tagung zu Sexualität und Schutz in Institutionen der Eingliederungshilfe

Lothar Sandfort
Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter (ISBB), Trebel
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Es war am 24. August 2020, als in Köln eine vom Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter (ISBB) (www.isbbtrebel.de) organisierte, finanzierte und moderierte Tagung zu „Sexualität und Schutz in Institutionen der Eingliederungshilfe“ stattfand. Im Fokus stand die Zielgruppe der Menschen mit kognitiven Einschränkungen.

Zum Hintergrund: Anfang 2020 waren die wissenschaftlichen Untersuchungen fertiggestellt, die als Gegenreaktionen auf die großen Skandale rund um sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche und in Internatsschulen der Reformpädagogik ab 2010 in Auftrag gegeben worden waren. Viele Autor*innen regten mit ihren Werken eine fachinterne Diskussion und den Beginn eines sich verändernden pädagogischen Alltags an. Im Fokus standen neben Kirchen und Schulen auch die Kinder- und Jugendhilfe und nicht zuletzt der Krankenhausbereich (siehe z. B. den Missbrauchsskandal am Universitätsklinikum des Saarlandes). Das „Schutzkonzept“ wurde zum Zauberwort und Hoffnungsträger der Prävention sexuellen Missbrauchs in Institutionen. Diese Botschaft wurde zwar auch in dem Bereich der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen gehört, rief dort aber eher Ängste hervor. Hier sollte man sich nun auch noch um sexuelle Selbstbestimmung kümmern? Die Träger dieser Institutionen schienen sich oftmals im Status quo eingerichtet zu haben, machten routiniert ihre Arbeit und hatten als Problem vor allem die chronische personelle Unterversorgung im Blick. Schlimm genug für die dort betreuten behinderten Menschen.

Ein Hauptreferent der Tagung war Michael Kölch, der Direktor der Klinik für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter der Universitätsmedizin Rostock ist und zum Gewaltschutz in Institutionen forscht. Er gab der Tagung seine Generalbotschaft mit: Schutzkonzepte sollen nach seiner Meinung keine Checklisten werden, die vorgeschrieben werden. In einem lebendigen Prozess innerhalb jeder einzelnen Institution sollen sie für diese entwickelt werden vom gesamten System. Besondere Verantwortung haben dabei die Leitungsebenen. Sie müssen darauf achten, dass der immerwährende Prozess lebendig gehalten wird. Die Schutzkonzepte werden dadurch für jede Institution etwas anders sein und hoffentlich in der Praxis gelebt.

Hervorragende Einblicke in die Praxis lieferte Susanne Steltzer von der Caritas für Köln. Sie hat sich intensiv mit dem sexuellen Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche befasst – auch mit den notwendigen Konsequenzen. Sie berichtete von den notwendigen Schulungen des Personals, dem Verhaltenskodex und den zeitgemäßen pädagogischen Konzepten (siehe z. B. www.caritasnet.de/themen/praevention-intervention).

Das ISBB, eine Sexualberatungsstelle für behinderte Menschen, hat in über 20 Jahren eine Beratungsform entwickelt, an der auch Sexualbegleiter*innen mitwirken: ausgebildete und supervidierte Frauen und Männer, die den Ratsuchenden (v. a. behinderte Männer) die Möglichkeit bieten, sich auch nonverbal auszudrücken und ganz praktische sexuelle Erfahrungen zu sammeln. Aktuell besonders nachgefragt ist die ISBB-Arbeit mit und für Männer, die sexuell übergriffig geworden sind bzw. bei denen die betreuende Umgebung davon ausgeht, dass sie übergriffig werden könnten. Partizipation wird vom ISBB als zentrales Element von Schutzkonzepten aufgefasst, was auch bedeutet , dass ein behinderter Betreuter, der von sich aus für seine Entwicklung die Hilfe einer Sexualbegleiterin möchte, in diesem Wunsch von den Betreuenden unterstützt wird. Es ist bedauerlich, dass es erst Übergriffe brauchte, damit Partizipation und Hilfen auch im sexuellen Bereich jetzt endlich für Menschen mit kognitiven Einschränkungen entwickelt und anerkannt werden.

Pia Hoffmann berichtete zum Thema „Sexualbegleitung als nonverbale Sexualberatung“. Heike Linke von der Arbeiterwohlfahrt Unterbezirk Münsterland-Recklinghausen teilte ihre Erfahrungen als Wohngruppenleiterin. Lisa Focken sprach als pädagogische Betreuerin bei der Caritas für Köln zu den Aufarbeitungen der kirchlichen Übergriffe im Erzbistum Köln und was das für die Mitarbeitenden und die Adressat*innen bedeutet. Gesche Kyabu ist für den Behindertenbereich der Caritas die Präventionsfachkraft und steuerte weitere Praxiserfahrungen bei.

Viele Tagungsteilnehmende aus dem Bereich der Eingliederungshilfe schienen in ihrer Auseinandersetzung mit Schutzkonzepten und einer Förderung sexueller Selbstbestimmung noch relativ am Anfang zu stehen. Unter den Anwesenden bestand Einigkeit: Schutz vor sexuellen Übergriffen, Partizipation und sexuelle Selbstbestimmung sind Themen, die in den Institutionen der Behindertenarbeit noch besser verankert werden müssen.



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Article published online:
10 September 2021

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