Schmerz.Therapie 2022; 5(01): 18-24
DOI: 10.1055/a-1664-0542
Schwerpunkt

Periphere und zentrale Sensibilisierung durch das Immunsystem

Authors

  • Hans-Georg Schaible

 

Das nozizeptive System und das Immunsystem dienen primär dem Schutz des Körpers. Zwischen beiden Systemen gibt es enge Beziehungen. Einerseits beeinflusst eine Reihe von Immunzellen und -mediatoren das nozizeptive System. Zum andern steuern neuronale Vorgänge auch Entzündungs- und Immunprozesse. Die hochkomplexen Wechselwirkungen erklären, wie es zur peripheren und zentralen Sensibilisierung durch Immunprozesse kommen kann.


Grundlage für die gegenseitige Beeinflussung von nozizeptivem System und Immunsystem ist die Expression von Rezeptoren für Immunmediatoren in Nervenzellen sowie die Expression von Rezeptoren für neuronale Mediatoren in Immunzellen. Interaktionen sind überall im Körper möglich, so auch im Zentralnervensystem. Freilich führt nicht jeder Immunprozess zu Schmerzen: Manche Infektionen lösen Entzündungsreaktionen, aber keine Schmerzen aus.

Aktivierung und Sensibilisierung von peripheren Nozizeptoren durch Immunprozesse

Periphere Nozizeptoren sind sensorische Nervenfasern. Sie innervieren die Organe, nehmen dort gewebeschädigende bzw. noxische Reize auf und kodieren diese ([Abb. 1]).

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Abb. 1 Stark vereinfachtes Schema des nozizeptiven Systems mit Wirkorten von Immunzellen und Immunmediatoren auf das periphere und zentrale Nervensystem am Beispiel eines Gelenks.(Quelle: HG Schaible; graf. Umsetzung: Thieme Gruppe)

Funktionseigenschaften der Nozizeptoren

Aktivierung

Durch noxische Reize werden die sensorischen Endigungen der Nozizeptoren im Gewebe stark aktiviert. Nicht gewebeschädigende Reize führen, wenn überhaupt, nur zur allenfalls schwachen Aktivierung. Jeder noxische Reiz, ob mechanisch, thermisch oder chemisch, kann in den polymodalen Nozizeptoren Aktionspotentiale auslösen.


Sensibilisierung

Periphere Nozizeptoren werden durch Krankheitsprozesse wie z. B. Entzündungen sensibilisiert und sind folglich empfindlicher für Reize. Interessanterweise werden aber nicht nur die Antworten auf noxische Reize stärker, sondern auch die Antworten auf nicht noxische Reize. Das Auftreten starker Antworten bei nicht noxischen Reizen erklärt, weshalb bei entzündlichen Krankheitsprozessen normalerweise nicht noxische mechanische oder thermische Reize wie Berührung oder Wärme nun als schmerzhaft empfunden werden ([Abb. 2]).

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Abb. 2 Schematische Darstellung der Sensibilisierung eines Nozizeptors durch einen Krankheitsprozess wie etwa eine Entzündung. Dargestellt ist die Größe der Antwort der Nervenfaser auf einen nicht noxischen (grün) sowie einen noxischen Reiz (rot) vor dem sensibilisierenden Krankheitsprozess sowie nach Induktion der Sensibilisierung.(Quelle: HG Schaible; graf. Umsetzung: Thieme Gruppe)

Freisetzen von Mediatoren

Einige Nozizeptoren setzen Mediatoren frei, welche das innervierte Gebiet beeinflussen. Dies kann eine „neurogene“ Entzündung auslösen.


Molekulare „Ausstattung“ der Nozizeptoren

Eine zentrale Rolle für die Funktion der Nozizeptoren spielt ihre Zellmembran. In ihr befinden sich spezielle Ionenkanäle, und auf ihr sitzen spezifische Rezeptoren.

Ionenkanäle Noxische Reize öffnen die Ionenkanäle in der Nozizeptoren-Membran. Dabei gibt es spezielle Kanäle für mechanische (z. B. Piezo- und TRPV4-Ionenkanäle), thermische (z. B. der TRPV1-Kanal für Hitzereize) sowie chemische Reize (z. B. Kanäle, die durch ATP und Protonen geöffnet werden). Das Öffnen der Ionenkanäle durch einen noxischen Reiz bewirkt eine lokale Depolarisation und erzeugt ein Rezeptorpotential (RP). Erreicht dieses Rezeptorpotential eine ausreichend große Amplitude, löst es durch Öffnen spannungsgesteuerter Natriumkanäle Aktionspotentiale aus. Die Aktionspotentiale leiten die Information zum Rückenmark weiter und aktivieren dort über Synapsen die nozizeptiven Neurone (unterer Teil der [Abb. 3]; vgl. [Abb. 1]).

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Abb. 3 Schema der sensorischen Endigung eines Nozizeptors im Gewebe. RP: Rezeptorpotential, ausgelöst durch noxische Reize, die einen Ionenkanal der Reiztransduktion in der Membran öffnen. AP: Aktionspotential, getriggert durch ein ausreichend großes Rezeptorpotential. CGRP: Calcitonin gene-related peptide, SP: Substanz P. DAMP: Damage associated molecular pattern, PAMP: Pathogen associated molecular pattern.(Quelle: HG Schaible; graf. Umsetzung: Thieme Gruppe)

Rezeptoren Auf der Membran der Nozizeptoren sitzen Rezeptoren für Moleküle mit besonderer Relevanz für Immun-und Entzündungsprozesse. Werden diese Rezeptoren stimuliert, kommt es zur Aktivierung intrazellulärer Second-messenger-Kaskaden in den Nozizeptoren, die – z. B. durch Phosphorylierung der Ionenkanäle – zur Sensibilisierung der Nozizeptoren führen (oberer Teil der [Abb. 3]; vgl. [Abb. 2]).




Exkurs: Immunsystem

Um verständlich zu machen, wie Nozizeptoren sensibilisiert werden bzw. warum unser Schmerzempfinden durch Vorgänge im Immunsystem beeinflusst wird, ist ein kurzer Exkurs zum Immunsystem unumgänglich.

Im Allgemeinen hat unser Immunsystem die Aufgabe, schädigende Erreger und schädigende Moleküle zu erkennen und zu eliminieren. Im Kampf gegen Viren, Bakterien, Pilze oder körperfremde Eiweiße muss es zwischen körpereigenem und körperfremdem Gewebe unterscheiden können. Bei einem Gesunden wird körpereigenes Gewebe als zugehörig erkannt und toleriert, wohingegen körperfremde Moleküle als solche identifiziert und nach Möglichkeit zerstört werden.

Autoimmunerkrankungen Bei einem ‚Toleranzbruch‘ wird körpereigenes Gewebe fälschlicherweise für fremdes Gewebe gehalten und bekämpft. Dies ist die Basis für Autoimmunerkrankungen wie rheumatoide Arthritis, Multiple Sklerose, Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, Psoriasis, Typ-1-Diabetes etc.

Unspezifische Immunreaktion

Innate Immunity Das angeborene Immunsystem besteht aus Immunzellen, die an ihrer Oberfläche spezielle Rezeptoren für Antigene besitzen. Diese sog. Pattern-Recognition-Receptors (PRRs, dt. etwa ‚Mustererkennungsrezeptoren‘) erkennen so bspw. bakterielle Polysaccharide als für das körpereigene Gewebe gefährlich. Dringt ein Erreger in den Körper ein, werden die Zellen der ‚Innate Immunity‘ sofort aktiviert und bilden eine erste Abwehrfront.

Zu den Zellen des angeborenen Immunsystems zählen neutrophile und eosinophile Granulozyten, Mastzellen sowie Makrophagen. Die auch als „Fresszellen“ bekannten Makrophagen können durch Mediatoren (z. B. Stickstoffmonoxid) Erreger und Zellen zerstören und über andere Mediatoren (z. B. Zytokine) eine Entzündungsreaktion einleiten. Auch das Komplementsystem ist Teil des angeborenen Immunsystems. Diese Molekülkaskade aus Proteinen unterstützt die aktvierten Immunzellen, indem sie geschädigte Zellen markiert, in der Membran Poren erzeugt und weitere Immunzellen stimuliert.


Spezifische Immunreaktion

Adaptive Immunity Das erworbene bzw. adaptive Immunsystem bildet eine zweite und sehr effektive spezifische Immuantwort gegen Erreger und Moleküle. T- und B-Lymphozyten sind die Immunzellen der ‚Adaptive Immunity‘.

Antigenpräsentation Der Körper besitzt ein großes Repertoire an T- und B-Lymphozyten mit verschiedensten Pattern-Recognition-Rezeptoren auf ihren Membranen. Wenn ein Fremdmolekül in den Organismus eindringt, wird dieses zunächst von ‚Antigen-präsentierenden Zellen‘ aufgenommen. Obwohl fast alle Körperzellen die Fähigkeit zur Antigenpräsentation haben, sind mit dieser Bezeichnung meist nur die sog. „professionellen“ antigenpräsentierenden Zellen des Immunsystems – dendritische Zellen, Monozyten, Makrophagen und B-Lymphozyten – gemeint. Nur diese Zellen können T-Lymphozyten aktvieren, welche zuvor noch nicht mit dem entsprechenden Antigen in Kontakt gekommen sind. Trifft eine aktivierte Antigen-präsentierende Zelle auf einen T- oder B-Lymphozyten mit einem zum Antigen passenden Pattern-Recognition-Rezeptor, wird eine Vermehrung dieses speziellen T- oder B-Lymphozytenklons ausgelöst.

Zytotoxische T-Zellen T-Lymphozyten sind gegen ein spezifisches Antigen gerichtet und können Zellen zerstören, die von Erregern befallen sind, weswegen sie auch als ‚zytotoxische T-Zellen‘ bezeichnet werden.

Plasmazellen Die gegen ein spezifisches Antigen gerichteten B-Lymphozyten differenzieren sich in Plasmazellen aus. Diese Effektorzellen produzieren und sezernieren spezifische Antikörper gegen das Antigen. Aus der Antigen-Antikörper-Reaktion bilden sich Antigen-Antikörper-Komplexe, die von spezialisierten Zellen des Immunsystems eliminiert werden. Gleichzeitig binden die Antigen-Antikörper-Komplexe an Immunzellen, aktivieren diese und lösen so entzündliche Prozesse aus.



Wirkung der Immunmediatoren auf Nozizeptoren

Wie kurz dargestellt bilden Immunzellen spezielle Mediatoren, um mit anderen Immunzellen zu kommunizieren und um in den Organen pathogenetisch bedeutsame Prozesse auszulösen. Immunmediatoren können darüber hinaus auch auf Nozizeptoren wirken. Im Folgenden wird dies am Beispiel der Zytokine, DAMPs, PAMPs und Antikörper genauer beschrieben.

Zytokine

Die von der Schmerzforschung am meisten untersuchten Zytokine sind der ‚Tumor necrosis factor‘ (TNF), Interleukin-1β sowie Interleukin-6 [1], [2].

TNF

TNF wird hauptsächlich durch Makrophagen gebildet und freigesetzt, jedoch auch durch eine große Anzahl anderer Zellen wie Lymphozyten, Mastzellen, Endothelzellen, Herzmuskelzellen, Fibroblasten und neuronalem Gewebe. Der Tumornekrosefaktor gilt als starker Entzündungsmediator, der u. a. das Einwandern von neutrophilen Granulozyten in geschädigtes Gewebe fördert und die Bildung von Prostaglandinen stimuliert.

Pathologie TNF ist ein Schlüsselmediator bei der rheumatoiden Arthritis. Dementsprechend gehören gegen TNF gerichtete Biologika hier zu den wertvollsten Medikamenten. Obgleich die gentechnisch hergestellten Biologika die Autoimmunerkrankung nicht heilen, können sie häufig den Krankheitsprozess zum Stillstand bringen [3]. Oftmals lindern sie binnen weniger Tage die Schmerzen, lange bevor die Entzündungsprozesse abgemildert werden [1]. Der Tumornekrosefaktor spielt eine gewichtige Rolle auch bei neuropathischen Schmerzen oder beim Fibromyalgiesyndrom, einer chronischen Schmerzerkrankung, die sich durch Schmerzen in verschiedenen Körperregionen äußert.

Schmerzgenerator TNF verursacht Schmerzen durch Auslösen einer Entzündung. Durch die Entzündung werden weitere Mediatoren wie z. B. Prostaglandine freigesetzt, die wiederum auf die Nozizeptoren wirken. Weil viele Nozizeptoren auch TNF-Rezeptoren in ihrer Membran exprimieren, kann TNF zudem direkt an den Nozizeptoren wirken. Im Experiment wurde TNF in ein gesundes Gelenk injiziert, was binnen einer Stunde zur deutlichen und über Stunden andauernden Sensibilisierung für mechanische Reize führte. D. h. durch den Tumornekrosefaktor werden Nozizeptoren sensibilisiert und reagieren dadurch stärker auf mechanische Reize (vgl. [Abb. 2]).


Interleukine

So wie TNF können auch Interleukine die Nozizeptoren langfristig sensibilisieren. Interleukin-1β wird aus stimulierten Knochenmarkmakrophagen freigesetzt und bewirkt einen Anstieg von neutrophilen Granulozyten, Thrombozyten und Prostaglandinen. Auch Interleukin-6 ist ein stark proinflammatorisches Zytokin, das viele Immunfunktionen stimuliert. Folgerichtig werden in der Therapie der rheumatoiden Arthritis auch Antikörper gegen Interleukin-6-Rezeptoren eingesetzt. Interleukin-17 ist beteiligt an der Abwehr von Bakterien und Pilzen und spielt eine wichtige Rolle in der Pathogenese von Autoimmunprozessen wie rheumtoider Arthritis, Psoriasisarthritis, Multipler Sklerose etc. Hier kann Interleukin-17 sogar synergistisch mit TNF zusammenwirken.



DAMPs und PAMPs

Beschädigte oder sterbende Zellen setzen ‚Damage associated molecular patterns‘ (DAMPs) frei. Als DAMPs wirken bestimmte Proteine, Polysaccharide und viele andere Moleküle, welche die passenden Pattern-Recognition-Rezeptoren auf Immunzellen stimulieren und so eine nicht-infektiöse Entzündungsantwort provozieren. ‚Pathogen associated molecular patterns‘ (PAMPs) sind Moleküle aus Bakterien. Sie aktivieren das angeborene Immunsystem.

Einige DAMPS und PAMPs können direkt an den Rezeptoren auf den Nozizeptoren binden. Bekanntes Beispiel ist der Toll-like-Receptor 4, an den sich Lipopolysaccharide aus Bakterienwänden binden können.


Antikörper

Im Zuge der adaptiven Immunantwort werden Antikörper gebildet. Diese Moleküle besitzen ‚Fab-Fragmente‘ (Fragment antigen binding) und ‚Fc-Fragmente‘ (crystallisable Fragment). Das Fab-Fragment ist die Region auf einem Antikörper, die an Antigene bindet. Fab-Fragmente werden in der Medizin auch als Diagnostika und Therapeutika verwendet. Das Fc-Fragment enthält die rezeptorbindende Domäne des Antikörpers. Dieser Molekülteil interagiert mit Fc-Rezeptoren auf phagozytierenden Immunzellen. Darüber hinaus kann das Fc-Fragment das Komplementsystem aktivieren. Durch das Fc-Fragment kann sich der Antikörper also an die Zielzellen anheften.

Bindung des Fc-Fragments an Nozizeptoren

Interessanterweise besitzen nicht nur Immunzellen, sondern auch Nozizeptoren Bindungsstellen für Fc-Fragmente. Antigen-Antikörper-Komplexe können über Fc-Fragmente an Nozizeptoren binden und dort pronozizeptive Effekte auslösen. Dieser Mechanismus wird z. B. diskutiert für das Auftreten der Arthralgien vor dem Ausbruch der manifesten rheumatoiden Arthritis. Es wird vermutet, dass es sich um Autoantikörper gegen citrullinierte Proteine handelt [4].


Wirkorte

Immunfaktoren wirken nicht nur auf die sensorischen Endigungen der Nozizeptoren, sondern auch auf die Spinalganglien, in denen die Zellkörper der sensorischen Neurone liegen (vgl. [Abb. 1]). Bei peripheren Entzündungen oder Nervenschädigungen wandern Entzündungszellen wie bspw. Makrophagen in die Spinalganglien ein. Es wird angenommen, dass sie auch hier auf die Nozizeptoren einwirken können.


Aktivierungszustand

Die Wirkung von Makrophagen richtet sich nach ihrem Aktivierungszustand, ihr Effekt ist also nicht immer proinflammatorisch. Weniger stark – z. B. durch TNF – aktivierte M1-Makrophagen setzen das proinflammatorische Interleukin-6 frei. Bei maximaler Aktivierung aber – z. B. durch Lipopolysaccharide und Interferon-gamma – können sie Nervenzellen durch Stickstoffmonoxid zerstören. Dementgegen wirken unter dem Einfluss von Interleukin-4 differenzierte M2-Makrophagen antiinflammatorisch und möglicherweise – z. B. über die Freisetzung von Interleukin-10 – auch antinozizeptiv [5]. Die Invasion der Spinalganglien mit M2-Makrophagen, die kein Stickstoffmonoxid produzieren, kann folglich analgetisch wirken [6].




Aktivierung und Sensibilisierung des ZNS durch Immunprozesse

Periphere Nozizeptoren erregen über Synapsen die nozizeptiven Neurone des Rückenmarks. Diese bilden im Rückenmark Reflexbögen mit dem motorischen und autonomen Nervensystem. Ein Teil der Neurone sendet aufsteigende Axone zum thalamokortikalen System, wo die bewusste Schmerzempfindung entsteht (vgl. [Abb. 1]).

Zentrale Sensibilisierung

Bei starker noxischer Reizung, bei Entzündungen oder peripherer Neuropathie werden die spinalen nozizeptiven Neurone nicht nur erregt, sondern auch sensibilisiert. Sie antworten dann stärker auf Aktionspotentiale, welche dem Rückenmark über die Nozizeptoren zugeleitet werden. Diese ‚zentrale Sensibilisierung‘ erhöht die Schmerzempfindung in Intensität und räumlicher Ausdehnung und ist ein wichtiger Mechanismus klinisch bedeutsamer Schmerzen [7]. An der zentralen Sensibilisierung ist auch das Immunsystem des ZNS beteiligt.

Immunsystem des ZNS

Mikrogliazellen bilden das eigenständige Immunsystem des Zentralnervensystems. Neben Neuronen und Astrogliazellen machen Mikrogliazellen in Rückenmark, Hirnstamm und Gehirn einen großen Teil aller Zellen aus. Sie haben ähnliche Eigenschaften wie periphere Makrophagen, stammen aber dem sog. ‚Yolk Sac‘ (Dottersack), einem Ernährungs- und Stoffwechselorgan in der frühen Embryonalphase. Während der Entwicklung wandern sie von dort in das Nervensystem ein und bilden hier ein quasi autonomes lokales Immunsystem. Weil Mikrogliazellen im Laufe der Ausbildung des Nervensystems überflüssige Zellen und Synapsen eliminieren und auch nach Abschluss der Entwicklung permanent die Integrität des Nervensystems überwachen, haben sie eine physiologische Funktion.


Neuroinflammation

Unter pathologischen Bedingungen können Mikrogliazellen durch Botenstoffe aus den Nervenzellen aktiviert werden, in einen proinflammatorischen Modus übergehen, Zytokine freisetzen und eine ‚Neuroinflammation‘ erzeugen [8]. Eine solche chronische Entzündung des Zentralnervensystems wurde bei neurodegenerativen ZNS-Erkrankungen wie Morbus Alzheimer beobachtet, wobei vermutet wird, dass die Neuroinflammation einen Beitrag zum Krankheitsprozess leistet [9]. Eine Invasion von Immunzellen aus dem peripheren Immunsystem kommt nur bei Erkrankungen des ZNS vor, welche die Blut-Hirn-Schranke beeinträchtigen.


Aktivierung der Mikroglia des Rückenmarks bei Schmerzen

Mikrogliazellen werden durch Botenstoffe aus den Nervenzellen aktiviert. Zahlreiche Studien der Schmerzforschung belegen, dass eine Aktivierung der Mikroglia des Rückenmarks auch bei peripheren Erkrankungen wie Arthrose sowie bei peripheren Neuropathien auftritt – gerade hier scheint die Aktivierung der Mikroglia besonders akzentuiert [10]. Wird die Mikroglia-Aktivierung durch das Breitbandantibiotikum Minocyclin blockiert, ist die Entwicklung einer zentralen Sensibilisierung erschwert oder verhindert [11].


Überwachung der Homöostase des Gehirns durch Mikroglia

Zerebrale Mikrogliazellen haben außerdem wichtige Funktionen in der Aufrechterhaltung der Homöostase des Gehirns. Gleichzeitig wird ihnen, wie bereits oben angedeutet, eine wichtige Rolle im Krankheitsprozess neurodegenerativer Erkrankungen zugeschrieben. Welche Bedeutung die Mikroglia im Gehirn für den Schmerz hat, ist bis dato allerdings noch nicht ausreichend erforscht. Zytokine im Gehirn werden auch als Mediatoren bei der Entstehung von Fatigue und Depression angesehen [12], [13].




Steuerung der Immunprozesse durch das Nervensystem

Das Nervensystem kann Immunprozesse beeinflussen [14]. Dies hat in der Folge auch Auswirkungen auf den Schmerz. Im muskuloskelettalen System werden die neuronalen Einflüsse sowohl durch die Nozizeptoren als auch durch die Fasern des sympathischen Nervensystems vermittelt ([Abb. 4]).

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Abb. 4 Efferente neuronale Wege, welche die Wirkung des Nervensystems auf Immun-/Entzündungsprozesse im Gewebe vermitteln (rot: periphere Nozizeptoren, grün: prä- und postganglionäres sympathisches Neuron, blau: aszendierende Bahnen zum thalamokortikalen System).(Quelle: HG Schaible; graf. Umsetzung: Thieme Gruppe)

Nozizeptoren

Ein Teil der Nozizeptoren ist peptiderg, setzt bei Reizung die Neuropeptide Substanz P sowie ‚Calcitonin gene-related peptide‘ (CGRP) frei und löst so eine neurogene Entzündung aus (vgl. [Abb. 3]). Auch das Immunsystem „benutzt“ Nozizeptoren, um eine Entzündung zu erzeugen. Wird in Mäusen der Effekt von Interleukin-6 selektiv in den sensorischen Neuronen ausgeschaltet, bildet sich bei Induktion einer Arthritis eine geringere Gelenkschwellung aus, verbunden mit einer geringeren Freisetzung von CGRP [15].


Sympathikus

Die Fasern des sympathischen Nervensystems unterstützen ebenfalls die Entwicklung einer Entzündung [16]. Präganglionäre sympathische Nervenfasern verlassen das Rückenmark und erreichen nach Umschaltung in den sympathischen Ganglien als postganglionäre sympathische Nervenfasern das periphere Organ.

Sympathektomie Nach einer Sympathektomie – einer operativen Durchtrennung einzelner Sympathikus-Bahnen oder einer Inaktivierung des Sympathikus durch bestimmte Wirkstoffe – ist die Gelenkschwellung reduziert, und das Schmerzverhalten deutlich weniger ausgeprägt [17] ([Abb. 4]). Ein ähnlicher Effekt wird durch die Neutralisierung von TNF im Rückenmark erzeugt [18]. Diese Befunde weisen darauf hin, dass das Immunsystem des Rückenmarks reflektorisch die Entstehung der Gelenkentzündung beeinflusst [19]. Der spinale Einfluss kann über die retrograde Aktivierung von Nozizeptoren durch sog. ‚Dorsal Root Reflexe‘ sowie über die sympathischen Fasern erfolgen [18], [20].

Parasympathikus Der Gegenspieler des Sympathikus, der Parasympathikus, kann antiinflammatorisch wirken [21]. Allerdings innerviert der Parasympathikus zwar die Organe des Bauchraums, aber nicht das muskuloskelettale System. Mögliche Hemmungen der Entzündung im muskuloskelettalen System durch das parasympathische System kommen daher eher indirekt zustande [22].




Autorinnen/Autoren

Prof. Dr. med. Hans-Georg Schaible

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ist Direktor des Institutes für Physiologie 1/Neurophysiologie am Universitätsklinikum Jena (UKJ). Zusammen mit seinen Mitarbeitern forscht er über die neurobiologischen und immunologischen Grundlagen des Gelenkschmerzes. Ziel ist es, Gelenkschmerzen durch die Identifizierung wichtiger Schmerzmechanismen besser therapieren zu können. Das Institut ist an der Ausbildung der Studierenden der Medizin und Zahnmedizin im Fach Physiologie beteiligt.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Hans-Georg Schaible
Direktor des Institutes für Physiologie 1/Neurophysiologie
Universitätsklinikum Jena – Friedrich Schiller Universität Jena
Teichgraben 8
07743 Jena
Deutschland   

Publication History

Article published online:
05 January 2022

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Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


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Abb. 1 Stark vereinfachtes Schema des nozizeptiven Systems mit Wirkorten von Immunzellen und Immunmediatoren auf das periphere und zentrale Nervensystem am Beispiel eines Gelenks.(Quelle: HG Schaible; graf. Umsetzung: Thieme Gruppe)
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Abb. 2 Schematische Darstellung der Sensibilisierung eines Nozizeptors durch einen Krankheitsprozess wie etwa eine Entzündung. Dargestellt ist die Größe der Antwort der Nervenfaser auf einen nicht noxischen (grün) sowie einen noxischen Reiz (rot) vor dem sensibilisierenden Krankheitsprozess sowie nach Induktion der Sensibilisierung.(Quelle: HG Schaible; graf. Umsetzung: Thieme Gruppe)
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Abb. 3 Schema der sensorischen Endigung eines Nozizeptors im Gewebe. RP: Rezeptorpotential, ausgelöst durch noxische Reize, die einen Ionenkanal der Reiztransduktion in der Membran öffnen. AP: Aktionspotential, getriggert durch ein ausreichend großes Rezeptorpotential. CGRP: Calcitonin gene-related peptide, SP: Substanz P. DAMP: Damage associated molecular pattern, PAMP: Pathogen associated molecular pattern.(Quelle: HG Schaible; graf. Umsetzung: Thieme Gruppe)
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Abb. 4 Efferente neuronale Wege, welche die Wirkung des Nervensystems auf Immun-/Entzündungsprozesse im Gewebe vermitteln (rot: periphere Nozizeptoren, grün: prä- und postganglionäres sympathisches Neuron, blau: aszendierende Bahnen zum thalamokortikalen System).(Quelle: HG Schaible; graf. Umsetzung: Thieme Gruppe)