Z Sex Forsch 2021; 34(04): 243-247
DOI: 10.1055/a-1669-6806
Buchbesprechungen

Zehn Monografien und Sammelbände über Sexualität und Behinderungen

Diese Sammelrezension bespricht zehn aktuelle Buchpublikationen (2018–2021) zum Thema Sexualität und Behinderungen. Die teils deutsch-, teils englischsprachigen Bücher fallen in drei Kategorien: (1) Es geht um Bücher, die sich dem Thema aus sexualpädagogischer, sozialarbeiterischer und/oder politischer Perspektive nähern und damit direkt auf praktische Verbesserungen abzielen. (2) Dann gibt es Bücher, die ausschließlich konkrete sexualpädagogische Materialien liefern. (3) Und schließlich liegen grundlagenwissenschaftliche Werke vor, die rekonstruieren, wie Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen in unterschiedlichen Kulturen ihre jeweiligen Sexualitäten leben. Pro Kategorie werden mindestens drei Bücher vorgestellt.

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Barbara Ortland. Behinderung und Sexualität. Grundlagen einer behinderungsspezifischen Sexualpädagogik. 2., erweiterte und überarbeitete Auflage. Stuttgart: Kohlhammer 2020. 268 Seiten, EUR 36,00

Barbara Ortland ist Professorin für Heilpädagogische Methodik und Intervention an der Katholischen Hochschule Nord-Rhein-Westfalen, Abteilung Münster. In Deutschland gehört sie zu den führenden Forscher:innen im Bereich Sexualität und Behinderungen. Ihr sexualpädagogisches Lehr- und Handbuch „Behinderung und Sexualität“ erschien 2008 in erster und 2020 nun in zweiter, überarbeiteter und aktualisierter Auflage. Es richtet sich an Studierende, pädagogische Fachkräfte und Eltern. Sehr gut strukturiert mit vielen Verweisen auf den Forschungsstand und zahlreichen Listen, Tabellen und Abbildungen beschreibt die Autorin, wie sich Sexualität unter der Lebensbedingung von Behinderungen entwickelt. Dabei werden Unterschiede zur Entwicklung bei Menschen ohne Behinderungen herausgearbeitet, aus denen sich dann Anforderungen an eine behinderungsspezifische Sexualpädagogik ableiten. Das Buch liefert praxisorientierte Hinweise, etwa mit Blick auf Unterricht, Elternarbeit und Pflege. Gegenüber der Erstauflage ist eine stärkere Berücksichtigung von sexueller Gewalt und Traumatisierung hinzugekommen, aus der dann die Notwendigkeit einer traumasensiblen Sexualpädagogik abgeleitet wird. Aktualisierungen betreffen zudem die Queer-Debatte und sexuelle Aktivitäten im Internet. Die Stärken des Buches liegen in der dichten und durchstrukturierten Darstellung, die nach Altersgruppen, verschiedenen Arten von Beeinträchtigungen und unterschiedlichen Lebenskontexten differenziert, sodass man von einem Grundlagenwerk sprechen kann.

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Katie Thune und Molly Gage. Sexuality for all Abilities. Teaching and Discussing Sexual Health in Special Education. New York, NY, Oxon, UK: Routledge 2021. 176 Seiten, GBP 26,99

Katie Thune ist als Lehrerin und Sexualpädagogin in Minnesota (USA) tätig und hat sich auf Sexuelle Bildung für Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen spezialisiert. Sie ist Gründerin von Mad Hatter Wellness (www.madhatterwellness.com), einem Zentrum zur Förderung von Empowerment und Sexueller Bildung für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen. Ihr Buch richtet sich an pädagogische Fachkräfte und möchte dazu anleiten, Sexuelle Bildung für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen auszubauen. Die Bedeutung umfassender Sexueller Bildungsangebote für die Zielgruppe begründet sie dreifach: Erstens gehe es darum, Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen besser vor sexueller Viktimisierung zu schützen. Zweitens auch darum, sie davor zu schützen, selbst unwissentlich sexuelle Übergriffe zu begehen. Nicht zuletzt soll ihr sexuelles Wohlbefinden gestärkt werden. Das Buch gliedert sich in sieben Kapitel. Das erste Kapitel erläutert den menschenrechtsbasierten Ansatz ganzheitlicher Sexualaufklärung. Im zweiten Kapitel werden zentrale Themen einer ganzheitlichen Sexualaufklärung vorgestellt. Das dritte Kapitel ist der Elternarbeit und das vierte der Curriculum-Gestaltung gewidmet. Das fünfte Kapitel beschreibt im Detail eine Unterrichtseinheit zu der Frage, was gute Beziehungen ausmacht. Das sechste Kapitel ist dem Umgang mit problematischen Verhaltensweisen gewidmet. Das siebte und letzte Kapitel beschreibt beispielhaft, wie Jugendliche mit sogenannten geistigen Behinderungen und deren Familien von ganzheitlicher Sexualaufklärung profitieren.

Zum Schreiben des Buches hat Katie Thune die Literaturwissenschaftlerin Molly Gage hinzugezogen. Das ist deutlich spürbar: Das Buch ist sehr gut lesbar durch seinen flüssigen, persönlich engagierten und anschaulichen Stil. Die Autorin berichtet davon, wie sie als Jugendliche einem Mädchen mit Behinderung das Schwimmen beigebracht hat und sich damals schon ihr Berufswunsch formte. Sie schildert diverse Szenen aus dem Klassenzimmer, etwa wie Jungen unerwartet die Hose herunterziehen oder Mädchen die ganze Klasse über ihre Menstruation informieren, und schlägt passende Reaktionsweisen vor. Ihre Haltung ist dabei durchgängig gelassen, humorvoll und optimistisch. Im Vergleich zu dem deutlich akademischer geprägten, systematisierenden Grundlagenwerk von Barbara Ortland ist das Handbuch von Katie Thune praxisnäher und motivierender. Beide Bücher ergänzen sich.

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Julia Bahner. Sexual Citizenship and Disability. Understanding Sexual Support in Policy, Practice and Theory. Oxon, UK, New York, NY: Routledge 2020 (Reihe: Interdisciplinary Disability Studies). 248 Seiten, GBP 36,99

Julia Bahner ist als Sozialwissenschaftlerin mit Spezialisierung im Bereich Disability Studies an der Universität Lund (Schweden) tätig. Ihre Monografie „Sexual Citizenship and Disability“ wirft die politische Frage auf, wie es um die Rechte von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen bestellt ist, die handfeste Unterstützung benötigen, um mit sich selbst und/oder mit anderen Menschen sexuell aktiv sein zu können. In der Logik der UN-Behindertenrechtskonvention besteht hier ein Recht darauf, dass Barrieren abgebaut werden und Teilhabe ermöglicht wird, etwa durch Zugang zu professioneller Sexualassistenz. Die Autorin erklärt im Vorwort, wie sie auf das Thema gestoßen wurde: Während ihres Studiums der Sozialen Arbeit hat sie als persönliche Assistentin gejobbt und wurde von ihren Klienten mit Körperbehinderungen immer wieder darauf angesprochen, ob sie nicht auch sexuell helfend zur Hand gehen könnte. Sie beschreibt, dass diese Anfragen sie nicht besonders schockiert hätten, ihr aber aufgefallen sei, dass sie gar nicht genau gewusst habe, wie man professionell mit ihnen umgeht.

Seitdem widmet sie sich der Erforschung von aktiver Sexualassistenz. Im vorliegenden Buch vergleicht sie die Verhältnisse in Schweden, Großbritannien, den Niederlanden und Australien. Dazu analysierte sie in einem Mehrmethoden-Design Gesetzestexte, führte Interviews mit Politiker:innnen sowie mit Fachleuten von Behindertenrechtsorganisationen und organisierte Workshops mit diversen Stakeholdern (z. B. Menschen mit Behinderungen, persönlichen Assistent:innen, Einrichtungsleitungen, Sexualbegleiter:innen). Die Autorin arbeitet für alle vier Länder heraus, inwiefern aktive Sexualassistenz gesetzlich berücksichtigt wird, welche Interessenvertretungen sich in diesem Feld engagieren und welche konkreten Angebote existieren. Dabei wird deutlich, dass weder die UN-Behindertenrechtskonvention noch die Deklarationen sexueller Menschenrechte die sexuelle Situation von Menschen mit Behinderungen ausreichend berücksichtigen. Ebenso wird klar, dass der Umgang mit Sexualassistenz eng verbunden ist mit der Regulierung von Sexarbeit. Das Buch ist gut lesbar geschrieben: Viele Zitate fließen ein. Wichtig ist hier die Erkenntnis, dass Sexuelle Bildungsangebote nicht ausreichen, sondern dass auch praktische Sexualassistenz verfügbar und bezahlbar sein muss, um sexuelle Teilhabe praktisch zu ermöglichen. In diesem Feld gibt es noch viel Klärungsbedarf.

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Cathrin Ehlers. Sexualerziehung bei Jugendlichen mit körperlicher und geistiger Behinderung. Unterrichtsmaterialien 5.–9. Klasse. 8. Auflage. Hamburg: Persen 2020 (Reihe: Bergedorfer Förderschulpraxis/Sonderpädagogische Förderung). 125 Seiten, EUR 29,95

Unter den deutschsprachigen Büchern mit Unterrichtsmaterialien zur Sexualerziehung von Jugendlichen mit sogenannten geistigen Behinderungen kann das Werk von Cathrin Ehlers zu den Klassikern gezählt werden. Es erschien erstmals 2009 und erlebt seitdem regelmäßige Neuauflagen. Die Unterrichtseinheiten gliedern sich entlang der Geschichte von Julia und Jan, zwei Jugendlichen, die sich in der Schule kennenlernen und ineinander verlieben. Ob Jan und Julia behindert sind, steht nicht im Vordergrund und wird nicht näher behandelt. Beide erleben über mehrere Stationen hinweg einen relativ typischen, insgesamt recht glücklichen Beziehungsverlauf und können somit als Identifikationsfiguren dienen: Sie nähern sich bei Unternehmungen wie Kinobesuch, Eisessen und Badengehen an, halten Händchen, machen Petting, lernen Verhütungsmittel kennen und schlafen auch miteinander. Sie setzen sich mit unterschiedlichen sexuellen Bedürfnissen auseinander und auch mit Eifersucht. Beide haben zudem jeweils ihre eigene Sexualität und befriedigen sich selbst. Ein Freund von Jan und Julia outet sich als schwul. Ein anderer trennt sich von seiner Freundin. Julias Schwester bekommt ein Kind. Durch diese Erzählstränge werden zentrale Themen der Sexuellen Bildung ganz unkompliziert eingeflochten. Das Buch gibt Hinweise zur Unterrichtsgestaltung, beschreibt viele auflockernde Spiele und enthält zahlreiche Arbeitsblätter mit großen Abbildungen und kurzen Texten, die auf einer CD beigelegt und allesamt editierbar sind.

Diese Materialien bereiten die Themen gut verständlich für die Zielgruppe der Jugendlichen mit geistigen Behinderungen auf und werden gemäß diverser Online-Rezensionen von pädagogischen Fachkräften von der Zielgruppe auch wirklich gut angenommen. Nicht thematisiert werden behinderungsspezifische Fragen. Somit ist fraglich, inwiefern die im Titel des Buches genannten Jugendlichen mit körperlichen Behinderungen wirklich angesprochen werden. Nicht ganz zeitgemäß wirkt es, dass STI-Prävention unter dem Stichwort „Aids“ verhandelt wird und sexuelle Gewalt als Thema weitgehend außen vor bleibt. Etwas befremdlich ist auch der betuliche Ton, mit dem „zugunsten der Lesbarkeit“ durchgängig nur von „Lehrern“ und „Schülern“ gesprochen wird. Scheinbar sind weder der Adressteil noch der Theorieteil für die Neuauflage aktualisiert worden. Es wäre dem Buch zu wünschen, dass es in der kommenden Neuauflage an den notwendigen Stellen tatsächlich modernisiert wird. Aktuell und fortschrittlich ist der Materialienband bereits jetzt in seiner selbstverständlichen, direkten und geschlechterausgewogenen Behandlung von Selbstbefriedigung.

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Carina Elmer, Brigitte Fries und Fachstelle Limita, Hrsg. Alles Liebe? Eine Geschichte über Freundschaft, Achtsamkeit und Gewalt. 2., überarbeitete Auflage. Luzern: Interact 2020 (Reihe: Sexuelle Gesundheit und Soziale Arbeit – Schwerpunkt Bildung). 36 Seiten, SFR 25,00 (auch als kostenloses Online-Dokument: https://interact-verlag.ch/collections/neuerscheinungen/products/alles-liebe-comic)

Während Julia und Jan im zuvor beschriebenen Werk eine recht unbeschwerte Liebesgeschichte erleben, müssen sich Lena und Jan im Comic „Alles Liebe?“ mehr Herausforderungen stellen. Lena und Jan sind zwei Jugendliche mit Lernschwierigkeiten. Lena ist 15 Jahre alt, lebt in einer betreuten Wohngruppe und macht eine Ausbildung in der örtlichen Gärtnerei. Jan geht noch zur Schule und wohnt zu Hause bei seinen Eltern. Beide kennen sich vom Reiten und sind verliebt. Jan will Lena küssen und anfassen, doch ihr geht das zu schnell. Und dann erlebt sie auch noch einen wiederholten sexuellen Übergriff durch ihren Ausbilder in der Gärtnerei. Das ist schlimm für Lena, aber sie kann sich einer Betreuerin in der Wohngruppe anvertrauen, bekommt Hilfe und die Gewalt nimmt ein Ende. Jan hält trotz aller Probleme zu Lena und akzeptiert auch, dass sie momentan nicht küssen und schmusen will. Beide verbringen viel Zeit miteinander, hören gemeinsam Musik, tanzen, sitzen am See, gehen zu den Pferden in den Stall und blicken voller Zuversicht in die Zukunft.

Der Comic ist durch seine einfache Sprache und die klaren, farbenfrohen Bilder gut verständlich. Die schweizerische Prägung des Buches ist spürbar, wenn Jan in die „Pfadi“ geht (also zu den Pfadfindern) und der Ausbilder zum „Lehrmeister“ wird. Die Stärken der Darstellung liegen darin, dass die sexuelle Gewalt klar benannt und gezeigt wird, die verwirrenden Gefühle rund um Scham, Schuld und Ungläubigkeit Raum finden und dazu ermutigt wird, sich Hilfe zu holen. Das Autorinnentrio besteht aus der Pädagogin Carina Elmer, der Grafikerin Brigitte Fries und der Fachstelle Limita zur Prävention sexueller Ausbeutung in Zürich.

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Philip Gonser und Fachstelle Limita, Hrsg. Manual zum Comic „Alles Liebe?“ Eine Geschichte über Freundschaft, Achtsamkeit und Gewalt, 2., komplett überarbeitete Auflage. Luzern: Interact 2020 (Reihe: Sexuelle Gesundheit und Soziale Arbeit – Schwerpunkt Bildung). 80 Seiten, SFR 31,00 (auch als kostenloses Online-Dokument: https://interact-verlag.ch/products/alles-liebe-manual)

Begleitend zum Comic „Alles Liebe?“ hat die Fachstelle Limita unter Erstautorschaft ihres Mitarbeiters Philip Gonser ein Manual herausgebracht, das sich an Betreuungs- und Bezugspersonen sowie Leitungen von Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen richtet. Im Manual werden die einzelnen Kapitel des Comics reflektiert, was Diskussionsprozesse unter den Fachkräften fördern soll. Weiterhin enthält das Manual Arbeitsblätter in Leichter Sprache, die eingesetzt werden können, wenn der Comic zusammen mit Jugendlichen angeschaut und gelesen wird. Das Manual besticht durch seinen kompakten Aufbau und die treffenden Reflexionsfragen. Die genannten Anlaufstellen beschränken sich allerdings auf die Schweiz. Hier wäre für eine Neuauflage zu erwägen, ob nicht auch Anlaufstellen in Deutschland und Österreich aufgenommen werden könnten.

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Ann-Kathrin Lorenzen, Pia Zeiher, Ursula Schele, Marion Jahnke, Ralf Specht und Tanja von Bodelschwingh. Echt mein Recht! Selbstbestimmung und Schutz vor sexualisierter Gewalt für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Materialien und Methoden für Einrichtungen der Behindertenhilfe zur Selbstwertstärkung und zur Prävention von sexualisierter Gewalt. Kiel: PETZE-Institut für Gewaltprävention 2018. 108 Seiten, EUR 24,80

Das PETZE-Institut für Gewaltprävention in Kiel (www.petze-institut.de) ist seit rund 30 Jahren in der Prävention sexualisierter Gewalt aktiv und entwickelt innovative und praxisnahe Materialien und Ausstellungen, um alle Menschen in ihrem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zu stärken. Die partizipativ entwickelte Wanderausstellung „Echt mein Recht!“ richtet sich an Menschen mit Lernschwierigkeiten und geistigen Behinderungen ab einem Alter von 16 Jahren. Die Ausstellung besteht aus sechs modular aufgebauten Stationen, die durch ihre farbenfrohe und aufwändige Gestaltung Neugier wecken und zum aktiven Mitmachen einladen. Die Ausstellung kann zusammen mit Print-Materialien und Begleitveranstaltungen für die Zielgruppe und für Fachkräfte bei der PETZE gebucht werden. Das begleitende Handbuch liefert Informationen über die Inhalte der Ausstellungsstationen sowie Arbeitsbögen, Handouts und Übungen für Gruppen. Dabei sind die Materialien und Übungen auch unabhängig von der Ausstellung in der Sexuellen Bildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten nutzbar. Behandelt werden Themen wie Selbstbestimmung, Alltag, Gefühle, Liebe, Körper und Sex sowie Beratung. Das Buch ist sehr aufwändig und liebevoll gestaltet, besticht durch seine Authentizität und didaktische Qualität sowie die übersichtlichen Arbeitsbögen und vielfältigen lebensnahen Zeichnungen. Es wird klar vermittelt, was man sexuell darf und was man selbst und andere nicht dürfen. Menschen mit Lernschwierigkeiten sind in Text und Bild selbst vertreten und werden durchgängig mit „Sie“ angesprochen.

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Alex Toft und Anita Franklin, Hrsg. Young, Disabled and LGBT + . Voices, Identities and Intersections. Oxon, UK, New York, NY: Routledge 2020 (Reihe: Routledge Research in Gender and Society). 254 Seiten, GBP 120,00

Alex Toft, Soziologe an der Nottingham Trent University (UK) und Anita Franklin, Professorin für Kindheitsforschung an der University of Portsmouth (UK), verfolgen mit ihrem Sammelband „Young, Disabled and LGBT + “ das Ziel nachzuzeichnen, wie es jungen, nicht-heterosexuellen Menschen mit Behinderungen geht. Die einzelnen Kapitel im Buch liefern Zusammenfassungen des Forschungsstandes, kritische Reflexionen, empirische Daten und persönliche Erfahrungsberichte.

Im ersten Teil des Buches geht es um theoretische und methodische Grundlagen. So beschreibt Kapitel 5 beispielsweise die methodischen Herausforderungen, die bei der Forschung mit jungen LGBT + Personen mit Behinderungen bestehen, etwa hinsichtlich Rekrutierung von Untersuchungspersonen, ethischen Aspekten der informierten Einwilligung sowie praktischen Fragen der Durchführung von Interviews und Fokusgruppen. Der zweite Teil des Buches ist empirischen Studien gewidmet, wobei qualitative Interviewstudien die typische Untersuchungsform darstellen. Es geht beispielsweise um junge Transpersonen mit Behinderungen, um gehörlose und um autistische queere Jugendliche. Im dritten Teil des Buches werden Fragen der Inklusion behandelt, etwa die Integration von LGBT+-Themen in Curricula und die Einrichtung von LGBT+-Arbeitsgruppen in Bildungseinrichtungen.

Die 13 Kapitel des Sammelbandes weisen überwiegend auf große Probleme hinsichtlich Akzeptanz und Teilhabe hin: Das junge Lebensalter, die körperlichen und/oder geistigen Beeinträchtigungen und die nicht-heterosexuellen Identitäten führen in Kombination nicht selten zu Mehrfachdiskriminierungen, die in der Familie, in der Peergroup, in der Schule und im medizinischen Versorgungssystem hautnah erlebt werden. Zwar thematisieren die meisten Beiträge auch soziale Unterstützung, doch es wird insgesamt beklemmend deutlich, dass die Belastungen oft überwiegen.

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Kirsty Liddiard. The Intimate Lives of Disabled People. Oxon, UK, New York, NY: Routledge 2018. 232 Seiten, GBP 42,99

Die Soziologin Kirsty Liddiard ist an der University of Sheffield (UK) tätig, auf Disability Studies spezialisiert und bezeichnet sich selbst als disabled feminist. Ihre Monografie „The Intimate Lives of Disabled People“ basiert auf 27 qualitativen Interviews mit Menschen mit Behinderungen. In ihrer Darstellung scheint immer wieder auf, wie Frauen und Männer mit Behinderungen darum ringen und auch daran scheitern, normative Erwartungen an attraktives Aussehen und „normales“, geschlechtsrollenkonformes Sexualverhalten zu erfüllen. Gleichzeitig wird erkennbar, dass Beeinträchtigungen auch dazu führen können, sich von normativen Vorgaben zu emanzipieren und selbstbestimmt eine individuell passende Sexualität zu leben und zu genießen.

So äußern mehrere Interviewpartner ihre Frustration darüber, sich aufgrund körperlicher Beeinträchtigungen beim Sex kaum bewegen zu können und daher keine aktive oder gar dominante Rolle einnehmen zu können, wie sie beim Heterosex traditionell vom Mann erwartet wird. Beispielsweise erklärt Pete, er fühle sich als Mann als Versager, da er beim Sex noch nicht einmal oben liegen, geschweige denn es seiner Partnerin richtig besorgen könne. Seine Partnerin habe ihn zwar nie gebeten, den Sex anders zu gestalten, aber wünscht sie sich in Wirklichkeit nicht doch härteren Sex? Terry dagegen hat die Erfahrung gemacht, dass manche Frauen beim Sex ein passiveres Verhalten des Mannes durchaus schätzen. Als seine Partnerin ihm mitgeteilt habe, dass sie den Sex mit ihm viel besser und befriedigender finde als mit nicht behinderten Männern, weil sie immer oben sein und die Kontrolle übernehmen könne, habe ihm das als Mann richtig Auftrieb gegeben.

Während die Autorin im Methodenteil ausführlich erläutert, dass es ihr darum geht, die Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen zu rekonstruieren und sie daher für ihr Projekt sogar einen Beirat aus der Disability-Community hinzugezogen hat, ist ihr Ansatz methodisch und theoretisch kritikwürdig. So werden die methodischen Anforderungen an eine qualitative Interviewstudie nicht eingelöst: An keiner Stelle wird erklärt, wie die Datenauswertung abgelaufen ist. Erwarten würde man auch eine Beschreibung der Interviewpartner:innen und eine Verankerung ihrer Aussagen in der jeweiligen Biografie und Lebenswelt. Stattdessen werden immer nur Kurzzitate eingestreut und von der Autorin in stereotyper Weise interpretiert: Jede Annäherung an konventionellen Heterosex wird abgewertet als Affirmation von Heteronormativität und Sexismus, akzeptiert wird nur nonkonformes Verhalten. Ob dieses ideologische Raster den Erfahrungen der Befragten gerecht wird, ist fraglich. So berichtet Hannah begeistert, dass sie den Intimate Rider nutze. Der Intimate Rider ist ein von einem querschnittgelähmten Mann entwickelter Sexstuhl, der (Stoß-)Bewegungen erleichtert. Statt nun die sexuelle Erlebniswelt von Hannah und ihrem Partner Shaun zu entfalten, die aufgrund ihrer lustvollen Erfahrungen dafür plädieren, den Intimate Rider in der Community bekannter zu machen, belehrt uns die Autorin lieber, dass der Intimate Rider abzulehnen sei, weil er darauf abziele, normalen Heterosex nachzustellen, statt ihn zu überwinden.

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Paul Chappell und Marlene de Beer, Hrsg. Diverse Voices of Disabled Sexualities in the Global South. Cham: Palgrave Macmillan 2019. 304 Seiten, EUR 90,94

Paul Chappell identifizierte sich als disabled researcher und war bis zu seinem Tod im Jahr 2018 an der University of the Witwatersrand (Südafrika) am Centre for Diversity Studies tätig. Marlene de Beer ist als Lektorin für Sozialarbeit an der University of Johannesburg (Südafrika) beschäftigt. Ihr gemeinsamer Sammelband „Diverse Voices of Disabled Sexualities in the Global South” enthält Erfahrungsberichte und qualitative Studien aus Subsahara-Afrika, Süd- und Lateinamerika, Indien und China. Es ist das bislang erste Werk, das die sonst übliche angloamerikanische und eurozentrische Perspektive bei der Behandlung von Sexualität und Behinderung überwindet. Von allen zehn hier besprochenen Publikationen vermittelt dieses Werk die vielfältigsten und überraschendsten neuen Einblicke.

Das Buch gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil geht es um kulturelle Ästhetiken, also um den Umgang mit Schönheitsnormen rund um Sexualität und Behinderungen. Einzelne Kapitel drehen sich darum, wie sich Menschen mit Behinderungen in Südafrika selbst auf Fotos sexuell in Szene setzen, wie junge körperbehinderte Frauen in Indien mit Mode umgehen und was von Disability Porn zu halten ist. Der „Behindertenporno“ ist eine pornografische Subgattung, die Sex zwischen behinderten und nicht-behinderten Menschen zeigt. In angemessener Differenzierung diskutiert der Beitrag, dass „Behindertenpornos“ sowohl emanzipatorische Züge tragen, indem sie sexuelle Aktivitäten von Menschen mit Behinderungen sichtbar machen und normalisieren, gleichzeitig aber auch problematisch sein können, weil sie behinderte Körper fetischisieren. Anstelle vorschneller Wertungen lädt der Beitrag zur Reflexion ein und verweist auf weiteren Forschungsbedarf.

Der zweite Teil des Buches konzentriert sich auf sexuelle und romantische Beziehungen von Menschen mit Behinderungen. Ein Erfahrungsbericht schildert beispielsweise, wie man als blinde, lesbische, schwarze Frau in Südafrika lebt, wo Homosexualität nicht selten als „unafrikanische Sünde“ und Behinderung als „Fluch“ betrachtet wird. Mitreißend ist auch die Lebensgeschichte von Farai Chisi aus Harare (Zimbabwe), die nach einem Verkehrsunfall querschnittgelähmt ist und daraufhin zusammen mit den gemeinsamen Kindern von ihrem Mann verstoßen wird, bis er – mittlerweile an Aids erkrankt – Jahre später zu ihr zurückkehrt. Ein Happy End gibt es hier nicht. Qualitative Studien rekonstruieren die Lebensrealitäten behinderter Frauen in Jamaica und blinder Sexarbeiterinnen in Zimbabwe.

Der dritte Teil des Buches schließlich thematisiert sexuelle Rechte und politischen Aktivismus. Vordinglich sind dabei Fragen der Sexuellen Bildung für junge Menschen mit Behinderungen, etwa in China, Zimbabwe oder Kolumbien. Besonders eindrücklich ist zudem die Fallstudie über Fayzal, einen 60-jährigen, heterosexuellen, geschiedenen Mann indischer Abstammung und muslimischen Glaubens, der in Südafrika lebt und seinen über 30-jährigen schwerstmehrfachbehinderten Sohn allein in Vollzeit pflegt. Nach eingehender Überlegung und mangels anderer Unterstützungsmöglichkeiten hat Fayzal ab der Pubertät seines weitgehend immobilen Sohnes dessen Masturbation in die Pflege integriert. Er wollte die offensichtlichen sexuellen Bedürfnisse seines Sohnes nicht ignorieren und ihm zumindest zweimal pro Woche sinnliches Wohlbefinden ermöglichen. Fayzal ist mit dieser Entscheidung auch an die Öffentlichkeit gegangen und hat weltweite mediale Resonanz ausgelöst. Der Beitrag rekonstruiert die Perspektive des Vaters sowie die divergierenden Reaktionen der Außenwelt zwischen Zustimmung, Ratlosigkeit und Missbrauchsvorwürfen. Die Fallstudie verdeutlicht, wie herausfordernd und irritierend es sein kann, die theoretische Anerkennung sexueller Rechte von Menschen mit Behinderungen in gelebte sexuelle Praxis umzusetzen.

Nicola Döring (Ilmenau)



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Article published online:
07 December 2021

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