Open Access
CC BY-NC-ND 4.0 · Geburtshilfe Frauenheilkd 2022; 82(04): 420-426
DOI: 10.1055/a-1769-6613
GebFra Science
Original Article/Originalarbeit

Häufigkeit von Verletzungen bei Frauen nach Sexualdelikten – Relevanz der gynäkologischen Untersuchung

Article in several languages: English | deutsch
Caroline M. Klasen
1   Klinik und Poliklinik für Gynäkologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg
,
Luise Meyer
2   Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Klinikum Kassel, Kassel
,
Sven Anders
3   Institut für Rechtsmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg
,
Larissa Lohner
3   Institut für Rechtsmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg
,
Benjamin Ondruschka
3   Institut für Rechtsmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg
,
Hans Pinnschmidt
4   Institut für Medizinische Biometrie & Epidemiologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg
,
Klaus Püschel
3   Institut für Rechtsmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg
,
Barbara Schmalfeldt
1   Klinik und Poliklinik für Gynäkologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg
,
Dragana Seifert
3   Institut für Rechtsmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg
,
Sandra Wilmes
3   Institut für Rechtsmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg
,
Isabell Witzel
1   Klinik und Poliklinik für Gynäkologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Einleitung Bis zu einem Drittel der Frauen weltweit geben an, in ihrem Leben sexuelle Gewalt erfahren zu haben. Häufig ist die gynäkologische Notaufnahme die erste Anlaufstelle dieser Betroffenen. Ziel der vorliegenden Untersuchung war die Evaluation des Stellenwerts der gynäkologischen Untersuchung von Frauen nach Sexualdelikten sowie die Evaluation des Verletzungsmusters.

Methode Retrospektive unizentrische Analyse der gynäkologischen und rechtsmedizinischen Untersuchungsbefunde aller Frauen, die in den Jahren 2013 – 2017 wegen eines mutmaßlichen Sexualdelikts in der zentralen Notaufnahme eines Universitätsklinikums untersucht wurden (n = 692). Genitale und extragenitale Verletzungsmuster, Alter, Täterprofil, Tatzeitpunkt, Substanzkonsum sowie die Durchführung einer postkoitalen Kontrazeption und HIV-Postexpositionsprophylaxe wurden ausgewertet.

Ergebnisse Die Betroffenen waren im Mittel 26 Jahre alt (12 – 91 Jahre). Fast 75% der Betroffenen stellten sich innerhalb von 24 Stunden nach dem angegebenen Sexualdelikt vor. Bei 78,6% der Patientinnen konnten extragenitale und bei 28,5% genitale Verletzungen festgestellt werden. Insgesamt gaben 20,1% der Frauen einen vollständigen und 18,7% einen teilweisen Erinnerungsverlust an die konkrete Tathandlung an. Risikofaktoren für eine Erinnerungslücke waren der Konsum von Alkohol und/oder die (ggf. unfreiwillige) Verabreichung anderer, auf das Zentralnervensystem wirkender Substanzen. Ein stattgehabter Alkoholkonsum des Opfers (Hazard Ratio [HR] 1,95; 95%-Konfidenzintervall [KI] 1,21 – 3,12, p = 0,006) und ein jüngeres Alter des Opfers zwischen 25 – 49 Jahren (HR 1,75; 95%-KI 1,07 – 2,85, p = 0,025) waren mit der Entstehung extragenitaler Verletzungen assoziiert, wohingegen ein dem Opfer bekannter Täter mit weniger extragenitalen Verletzungen vergesellschaftet war (HR 0,60; 95%-KI 0,36 – 0,99, p = 0,046). Das Auftreten genitaler Verletzungen, welches mit höherem Alter der Betroffenen und Angaben einer analen Penetration verbunden war, führte zu einer häufigeren Durchführung der Postexpositionsprophylaxe (29,1% vs. 19,5%, p < 0,012) und einer (aktiven) Hepatitis-B-Impfung (40% vs. 28,5%, p < 0,028).

Schlussfolgerung Die gynäkologische (Notfall-)Untersuchung stellt einen elementaren Bestandteil in der medizinischen Versorgung und Begutachtung von betroffenen Frauen nach Sexualdelikten dar, da fast ein Drittel der Opfer Verletzungen im Genitalbereich aufwiesen. Neben einer ausführlichen Ganzkörperuntersuchung und fachgerechten gerichtsverwertbaren Dokumentation von Verletzungen am Körper und im Genitalbereich, sollte auch eine psychologische Betreuung der Opfer angeboten und niedrigschwellig ermöglicht werden.


Einleitung

Bis zu einem Drittel der Frauen weltweit sind im Verlauf ihres Lebens von sexueller oder körperlicher Gewalt betroffen [1]. Insgesamt zeigt sich über die letzten Jahre, durch die stete Zunahme an Anzeigen und auch nach der Verschärfung des Sexualstrafrechts im Jahr 2016, der Bedeutungszuwachs sexualisierter Gewalt in unserer Gesellschaft [2], [3]. In Deutschland wurden 2020 insgesamt 81 630 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung registriert [3]. Daten einer Untersuchung des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahr 2003 zeigen, dass 13% aller befragten Frauen in Deutschland in ihrem Leben bereits Opfer von sexueller Gewalt waren. Bei derartigen Umfragen handelt es um freiwillige Angaben, die lediglich eine Schätzung ermöglichen. Dennoch ist zusätzlich zu den gemeldeten Fällen eine hohe Dunkelziffer anzunehmen. Frauen nach einem Sexualdelikt suchen in vielen Fällen eine ärztliche Untersuchungsstelle auf. Hierbei gibt es international unterschiedliche Versorgungsmöglichkeiten. Ein Großteil der Frauen nach Sexualdelikt stellt sich in Notaufnahmen von Krankenhäusern vor und wird dann entweder von speziell ausgebildetem Pflegepersonal oder von ärztlichem Personal untersucht [4]. In vielen Ländern gehört die Untersuchung von Frauen nach Sexualdelikt zu einem zentralen Bestandteil der Tätigkeit von Gynäkologen/-innen.

In Deutschland ist keine gültige bundesweite Leitlinie zum Umgang bzw. zu der Versorgung von Frauen nach Sexualdelikten publiziert und es wird deswegen auf lokale Handlungsempfehlungen und SOPs (Standard Operating Procedures) zurückgegriffen.

Begrenzte Daten zeigen, dass der Nachweis von genitalen und/oder extragenitalen Verlertzungen medikolegale Konsequenzen im Hinblick auf Aufklärung und Verurteilung der Täter haben kann [5], [6], [7].

Ziele der vorliegenden Analyse waren deshalb die systematische Erfassung von Verletzungsmustern von Frauen nach Sexualdelikt im Rahmen einer durchgeführten Ganzkörperuntersuchung sowie die Evaluation des Stellenwertes der gynäkologischen Untersuchung.


Material und Methoden

Patientinnenkollektiv

Als Quellen zur retrospektiven Datenerhebung dienten die Patientenakten aller 692 Frauen, die aufgrund eines angegebenen Sexualdelikts im 5-Jahres-Zeitraum zwischen dem 01.01.2013 und 31.12.2017 in der Notaufnahme des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE), Deutschland, die als zentrale Anlaufstelle für Sexualdelikte der Stadt gilt, vorstellig waren.


Definitionen

In der hier vorgestellten Studie erfolgt die gemeinsame Untersuchung von Frauen nach Sexualdelikten regelhaft in einem langjährig bewährten Modell interdisziplinärer Zusammenarbeit durch Ärzte/-innen der Gynäkologie und Rechtsmedizin. Die Betroffenen werden entweder sofort gemeinsam gynäkologisch und rechtsmedizinisch untersucht, oder es erfolgt, je nach Fallkonstellation, die rechtsmedizinische Vorstellung am Folgetag in der rechtsmedizinischen Ambulanz. Die gynäkologische Untersuchung erfolgt mittels Spekulumeinstellung von regelmäßig geschulten Assistenz- oder Fachärzten/-innen der Gynäkologie unter oberärztlicher Supervision. Eine Vorstellung der Frauen ist auch ohne polizeiliche Anzeige niedrigschwellig möglich (sog. vertrauliche Spurensicherung). Zur Auswertung wurden pro Fall 46 definierte, unabhängige Variablen in einer Datenbank (Microsoft Excel 2007) erhoben. Als Verletzungslokalisationen wurden genitale und extragenitale Verletzungen unterschieden. Als Verletzungsmuster der genitalen Verletzungen, die das äußere Genitale (Mons pubis, Labia majora et minora, Introitus, posteriore Fourchette und Fossa navicularis), das innere Genitale (Hymen, Vaginalwand) und den Analbereich umfassen, wurden Schürfungen, Rissverletzungen, Hautunterblutungen und Rötungen nach dem TEARS-Schema unterschieden. Das TEARS-Schema (tear, ecchymosis, abrasion, redness, swelling, übersetzt: Riss, Hämatom, Schürfung, Rötung, Schwellung) wurde etabliert, um die Genauigkeit der Interpretation und Dokumentation von genitalen Verletzungen zu verbessern [8], [9] Bei extragenitalen Verletzungen (Kopf, Hals, Rumpf, obere und untere Extremitäten) wurde zwischen Schürfungen, Rötungen, Hautunterblutungen sowie Kratz- und Bissverletzungen unterschieden (Mehrfachnennungen waren möglich, sonstige Verletzungen wurden ebenfalls vermerkt).


Statistische Analyse

Die statistische Auswertung erfolgte mit SPSS (IBM SPSS Statistics Version 23). Es erfolgte eine deskriptive Analyse einzelner Variablen sowie der Vergleich mehrerer kategorialer Variablen hinsichtlich potenziell signifikanter Unterschiede mittels χ2-Test und Fisher-Exakt-Test. Zur Evaluation der Einflussfaktoren auf die Entstehung genitaler und extragenitaler Verletzungen erfolgte eine logistische Regression mit Rückwärtsselektion. Die deskriptive Analyse der Häufigkeiten der einzelnen Variablen erfolgte mit einem Konfidenzintervall von 95%. Ein p-Wert < 5% wurde als statistisch signifikant gewertet.


Datenschutz

Die Datenauswertung erfolgte anonymisiert nach den Datenschutzrichtlinien der Medizinischen Fakultät der Universität Hamburg unter Einhaltung der Vorgaben der guten wissenschaftlichen Praxis.



Ergebnisse

Patientinnencharakteristika

Im Mittel waren die 692 Betroffenen 26,3 Jahre alt (Alterspanne 12 – 91 Jahre). Fast 75% der Betroffenen stellten sich innerhalb von 24 Stunden nach dem angegebenen Sexualdelikt in der Notaufnahme vor (49,9% binnen 12 h, 24,3% binnen 12 – 23 h, 21,3% binnen 24 – 71 h, 3,6% binnen 72 – 119 h und 0,3% nach 5 Tagen). In den meisten Fällen handelte es sich bei dem angegebenen Sexualdelikt um eine penil-vaginale Penetration (88,3%), die in den frühen Morgenstunden zwischen 3:00 – 5:00 Uhr (17%) oder den späten Abendstunden zwischen 22:00 – 23:00 Uhr (8%) stattfand. In 53,9% der Fälle war der Täter (immer männlich) der Betroffenen persönlich bekannt. Wenn es sich um einen wiederholten Missbrauch handelte (10,4% der Fälle), wurde dieser in 57,4% von demselben Täter verübt.

Insgesamt erfolgte bei 95,2% der mutmaßlich Betroffenen eine rechtsmedizinische Untersuchung und bei 87,5% eine gynäkologische Untersuchung, 84,9% der Betroffenen wurden von beiden Fachdisziplinen untersucht. In 64,2% der Fälle wurde die mutmaßlich Betroffene primär von der Polizei bzw. Beamten/-innen des Landeskriminalamts zur Untersuchung vorgestellt und begleitet, sodass bei 35,8% der mutmaßlich Betroffenen eine vertrauliche Spurensicherung stattfand. Insgesamt erstatteten 83% der Betroffenen eine polizeiliche Anzeige. Weitere Charakteristika sind in [Tab. 1] dargestellt.

Tab. 1 Charakteristika der Frauen nach Sexualdelikt.

Anzahl

Prozent

Alter in Jahren

  • 12 – 24 Jahre

395

57,4%

  • 25 – 49

258

37,5%

  • 50 – 74

31

4,5%

  • ≥ 75

4

0,6%

Tatzeitpunkt

  • 06:00 – 21:59 Uhr

220

41,7%

  • 22:00 – 05:59 Uhr

308

58,3%

Täter

  • unbekannt

315

46,1%

  • bekannt

368

53,9%

vorheriger Übergriff

  • erstmaliger Übergriff

588

89,6%

  • wiederholter Übergriff gleicher Täter

39

5,9%

  • wiederholter Übergriff anderer Täter

29

4,4%

zeitlicher Abstand zum Delikt

  • < 12 h

342

49,9%

  • ≥ 12 h

167

24,3%

  • ≥ 24 h

146

21,3%

  • ≥ 72 h

25

3,6%

  • ≥ 120 h

6

0,9%

Substanzkonsum

  • Alkoholkonsum angegeben

394

59,4%

  • Drogenkonsum angegeben

50

7,5%

  • toxikologisch positiver Nachweis bei angegebenem unfreiwilligem Konsum

14

2,3%

retrograde Amnesie

  • vollständig ausgeprägt

136

20,1%

  • teilweise ausgeprägt

126

18,7%

  • Erinnerungsvermögen vollständig

413

61,2%

HIV-Postexpositionsprophylaxe (PEP)

  • eingeleitet

135

21,3%

postkoitale Kontrazeption

  • empfohlen

352

53,4%

Hepatitis-B-Impfung (aktiv)

  • durchgeführt

20

3,9%


Verletzungsmuster

Im Rahmen der rechtsmedizinischen körperlichen Untersuchung konnten bei 78,6% der Patientinnen extragenitale Verletzungen festgestellt werden. Demgegenüber fanden sich im Rahmen der gynäkologischen Untersuchung bei 28,5% genitale Verletzungen ([Tab. 2]). Insgesamt waren 15,7% der Frauen (n = 100) unverletzt. Von den Frauen, die genitale Verletzungen aufwiesen (28,5%), wurden diese bei 63,4% am äußeren Genitale, bei 38,2% am inneren Genitale und bei 20,4% im Analbereich detektiert ([Tab. 2]). Bei den Verletzungen des äußeren Genitales handelte es sich zu 53,4% um Schürfungen, zu 39,9% um Rissverletzungen, zu 37,3% um Rötungen der Haut und zu 32,4% um Unterblutungen der Haut (Hämatome). Die Art der Verletzungen am inneren Genitale wiesen eine ähnliche Häufigkeitsverteilung auf. Im Analbereich hingegen wurden am häufigsten Rissverletzungen gefunden (55,3%). Von allen Patientinnen, die genitale und extragenitale Verletzungen aufwiesen, mussten 4 Patientinnen operativ versorgt werden (1× Orbitabodenfraktur, 1× retrobulbäres Hämatom, 1× Sphinkterverletzung mit Analhämatom, 1× tiefer vaginaler Riss) und eine Patientin erlitt eine Fraktur des Schambeins (penil-anale Penetration).

Tab. 2 Auflistung der genitalen und extragenitalen Verletzungsformen und -muster (Prozent in Bezug auf alle genitalen bzw. extragenitalen Verletzungen, Mehrfachnennungen möglich).

Anzahl

Prozent

Verletzungsformen

genitale Verletzungsformen

  • Schürfung

88

47,3%

  • Riss

75

40,3%

  • Rötung

60

32,2%

  • Hautunterblutung

40

21,5%

extragenitale Verletzungsformen

  • Hautunterblutung

437

83,9%

  • Schürfung

296

56,8%

  • Rötung

214

41,1%

  • Kratzer

165

31,7%

  • Biss

32

6,1%

Verletzungslokalisationen

genitale Verletzungslokalisationen

  • äußeres Genitale

118

63,4%

  • inneres Genitale

71

38,2%

  • Analbereich

38

20,4%

extragenitale Verletzungslokalisationen

  • obere Extremität

374

71,8%

  • untere Extremität

335

64,3%

  • Rumpf

262

50,3%

  • Kopf

140

26,9%

  • Hals

122

23,4%

Auch extragenitale Verletzungen wurden meist an mehreren Körperregionen gleichzeitig festgestellt (71,2%). Hierbei fanden sich die meisten Verletzungen an der unteren Extremität (71,6%), der oberen Extremität (64,3%) oder dem Rumpf (50,3%). Seltener wiesen Patientinnen auch Verletzungen am Kopf (26,9%) oder dem Hals (23,4%) auf.

Bei den extragenitalen Verletzungen handelte es sich in 83,9% um Hautunterblutungen (Hämatome), Schürfverletzungen (56,8%) und Rötungen der Haut (41,1%). Kratzverletzungen (6,1%) und Bissverletzungen (6,1%) waren seltener zu finden ([Tab. 2]). Insgesamt erlitten jedoch 1,2% (n = 8) der Frauen durch die Gewalteinwirkung eine Fraktur, meist die Knochen des Gesichtsschädels betreffend, und 0,6% (n = 4) der Betroffenen ein Schädel-Hirn-Trauma.


Risikofaktoren für Verletzungen

Ein anamnestischer Alkoholkonsum der Betroffenen (Hazard Ratio [HR] 1,95; 95%-Konfidenzintervall [KI] 1,21 – 3,12, p = 0,006) und ein jüngeres Alter der Betroffenen zwischen 25 – 49 Jahren (HR 1,75; 95%-KI 1,07 – 2,85, p = 0,025) waren mit dem Vorliegen extragenitaler Verletzungen assoziiert. War der Täter der betroffenen Frau persönlich bekannt, zeigten sich signifikant seltener extragenitale Verletzungen (HR 0,60; 95%-KI 0,36 – 0,99, p = 0,046). Es zeigte sich kein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen dem Untersuchungszeitpunkt und der Detektion von extragenitalen Verletzungen (p = 0,173). Als Risikofaktor für das Vorliegen von genitalen Verletzungen konnte eine anale Penetration (HR 1,89; 95%-KI 1,08 – 3,29, p = 0,025) und ein höheres Lebensalter der Betroffenen zwischen 50 – 74 Jahre (HR 3,00; 95%-KI 1,02 – 8,87, p = 0,046) ermittelt werden ([Tab. 3]).

Tab. 3 Einflussfaktoren auf genitale und extragenitale Verletzungen. Signifikante Vergleiche sind fett markiert dargestellt.

genitale Verletzung

extragenitale Verletzungen

n

HR

95%-KI

p-Wert

n

HR

95%-KI

p-Wert

Alter in Jahren

  • < 25 (Referenz)

214

266

  • 25 – 49

143

0,649

0,40 – 1,06

0,084

170

1,75

1,07 – 2,85

0,025

  • 50 – 74

15

3,004

1,02 – 8,87

0,046

18

2,86

0,63 – 13,02

0,174

  • ≥ 75

1

2

anamnestischer Alkoholkonsum

  • nicht erfolgt (Referenz)

183

199

  • erfolgt

190

1,01

0,61 – 1,67

0,981

257

1,95

1,21 – 3,12

0,006

Tatzeit

  • 22:00 – 05:59 (Referenz)

204

258

  • 06:00 – 21:59

169

0,85

0,51 – 1,42

0,537

198

0,71

0,44 – 1,16

0,173

Täter

  • Täter unbekannt (Referenz)

123

184

  • bekannt

250

0,73

0,45 – 1,20

0,215

272

0,6

0,36 – 0,99

0,046


Retrograde Amnesie und Konsum von Substanzen

Nur 61,2% der Patientinnen gaben an, sich vollständig an den Übergriff erinnern zu können. 20,1% gaben einen vollständigen Erinnerungsverlust und 18,7% eine lückenhafte Erinnerung an die mitgeteilte Tat und ihre konkreten Umstände an. Als Risikofaktoren für eine Erinnerungslücke konnten der anamnestisch freiwillige Konsum von Alkohol (59,8%) und die anamnestisch unfreiwillige Verabreichung von Betäubungsmitteln durch den Täter (toxikologischer Nachweis in 2,3%) (K.-o.-Tropfen, Drogen, Alkohol) erfasst werden (p < 0,001).


Durchführung der postkoitalen Empfängnisverhütung und der HIV-Postexpositionsprophylaxe

Im Rahmen der Vorstellung wurde nach Erhebung der Anamnese in 53,4% eine postkoitale Empfängnisverhütung durch die/den behandelnde/-n Gynäkologin/-en empfohlen und an die Patientinnen ausgehändigt. Hingegen wurde eine Postexpositionsprophylaxe zum Schutz vor einer HIV-Infektion (HIV-PEP) nur in 21,3% der Fälle verschrieben, und 3,9% der Patientinnen erhielten eine Impfung gegen Hepatitis B (aktiv) ([Tab. 1]). Das Auftreten genitaler Verletzungen führte zu einer häufigeren Durchführung einer PEP (29,1%, n = 50) mit Verletzung vs. 19,5% ohne Verletzung (n = 84, p < 0,012) wie auch einer Hepatitis-B-Impfung (40%, n = 8 mit Verletzung vs. 28,5%, n = 167 ohne Verletzung, p < 0,028).


Psychiatrische Erkrankung

Eine Borderline-Persönlichkeitsstörung in der Anamnese und/oder frühere Selbstverletzungen der betroffenen Patientinnen wurden in 13,4% der Fälle angegeben.



Diskussion

In der hier vorgestellten Studie über Frauen nach Sexualdelikt konnte gezeigt werden, dass durch eine kombinierte gynäkologische und rechtsmedizinische Untersuchung bei der Mehrzahl der Patientinnen Verletzungen detektiert werden konnten, deren Entstehung anamnestisch mit dem angegebenen Delikt assoziiert waren.

Durch die interdisziplinäre Untersuchung der Betroffenen und die ausgewertete Fallzahl erscheint die Verteilung der genitalen und extragenitalen Verletzungsmuster aussagekräftig und auf andere Standorte übertragbar.

Der hohe Anteil von genitalen Verletzungen in unserer Untersuchung mit 28,5% belegt den Stellenwert der gynäkologischen Untersuchung. In der Literatur variiert der Nachweis genitaler Verletzungen nach Sexualdelikten zwischen 6% [10] und 87% [11]. Dies lässt sich durch Unterschiede bezüglich der Einschlusskriterien der Patientinnen in die Studien, der Definition von genitalen Verletzungen, der Latenz zur Tatzeit und der Untersuchungsmethode erklären [12], [13], [14]. Flüchtige Befunde (Hautrötungen, Schwellungen) werden in manchen Studien nicht systematisch erfasst [12], [15] und können sich bei längerer Latenz einer späteren Nachweisbarkeit entziehen. Im Gegensatz zu Studien, die zeigen konnten, dass bei Frauen, die innerhalb von 72 Stunden nach einem Sexualdelikt untersucht wurden, signifikant mehr genitale Verletzungen detektiert werden konnten [16], [17], [18], konnten wir dies in unserem Kollektiv nicht bestätigen. Durch die zumeist tatzeitnahe gynäkologische Untersuchung in unserem Kollektiv sowie die Dokumentation der Intimverletzungen nach dem TEARS-System scheint eine relevante Unterschätzung genitaler Verletzungen in dieser Studie unwahrscheinlich.

Das Fehlen einer genitalen Verletzung schließt allgemein anerkannt ein Sexualdelikt nicht aus [12]. Gleichzeitig belegt das Vorliegen von genitalen Verletzungen auch kein Sexualdelikt, da auch nach einvernehmlichen Geschlechtsverkehr Verletzungen nachgewiesen werden können [17]. Bei sexuell aktiven Frauen kann es im Einzelfall Schwierigkeiten in der Differenzierung zur Herkunft von Befunden geben. Der Nachweis von Verletzungen ist aus morphologischer Sicht aber gut geeignet, um attestierte Penetrationsmechanismen und mitgeteilte Details einer Tathandlung sachverständig einzuschätzen und zu bewerten.

Aus dem gleichen Grund und aufgrund des hohen Anteils an extragenitalen Verletzungen von 78,6% erscheint eine zusätzliche Ganzkörperuntersuchung bei der Betreuung von Frauen nach Sexualdelikt notwendig.

Als Risikofaktoren für das Auftreten von genitalen Verletzungen konnten wir die anale Penetration und ein höheres Alter der Betroffenen ermitteln. Die mit dem höheren Lebensalter einhergehende postmenopausale vaginale Schleimhautatrophie kann Verletzungen begünstigen [19]. Das erhöhte Auftreten genitaler Verletzungen mit steigendem Alter konnte in einer amerikanischen Studie mit 819 Patientinnen (20% genitale Verletzungen) [20] und einer dänischen Studie mit 249 Patientinnen (32% genitale Verletzungen) [21] sowie einer australischen Studie mit 1266 Patientinnen (24,5% genitale Verletzungen) [18] ebenfalls beobachtet werden. Die unfreiwillige(n) anale(n) Pentration(-sversuche) gehen ebenfalls mit einer erhöhten Verletzungswahrscheinlichkeit einher. Als risikoerhöhend für das Auftreten von Verletzungen gelten außerdem die Art der Penetration bzw. die Nutzung von Gegenständen, Betäubungsmittelkonsum und die Beziehung des Opfers zum Täter. So treten laut Sugar et al. (2004) vermehrt extragenitale Verletzungen auf, wenn die Betroffene dem Täter unbekannt war [20]. Auch in unserer Untersuchung wiesen die Patientinnen mehr extragenitale Verletzungen bei unbekanntem Täter auf (HR 0,60; 95%-KI 0,36 – 0,99, p = 0,046). Es kann spekuliert werden, dass in dieser Täter-Opfer-Beziehung ein höheres Maß an körperlicher Gewalt angewendet wird. Zilkens et al. (2017) stellten einen Zusammenhang zwischen der Betäubung der Opfer durch Sedativa und weniger genitalen Verletzungen fest [18] und schlussfolgerten, dass intoxikierte und schläfrige Patientinnen weniger Widerstand leisten und so das Verletzungsrisiko geringer sei [21]. In unserer Untersuchung konnten wir einen Zusammenhang zwischen einer vollständigen oder teilweise bestehenden Erinnerungslücke und der Angabe von Alkoholkonsum zeigen, allerdings ohne Auswirkungen auf das existente genitale Verletzungsmuster. Demgegenüber und in Übereinstimmung mit Maguire et al. (2009) konnten wir in unserem Kollektiv mehr extragenitale Verletzungen bei angegebenem Alkoholkonsum erfassen (HR 1,95; 95%-KI 1,21 – 3,12, p = 0,006) [16]. Einschränkend muss erwähnt werden, dass die Einnahme von Alkohol und/oder Drogen in unserer Untersuchung nur anamnestisch erhoben wurde und kein routinemäßiges toxikologisches Screening durchgeführt wurde. Dieses erfolgte in unserem Kollektiv nur auf Anordnung der Ermittlungsbehörden. K.-o.-Tropfen konnten bei Betroffenen, die eine Erinnerungslücke in Bezug auf den Tathergang angeben haben, in unserer Untersuchung nur in 2,3% der Fälle (n = 14) laborchemisch detektiert werden.

Im Rahmen der gynäkologischen Vorsorgeuntersuchung könnte, durch Aufklärung über die möglichen Folgen von freiwilligem hohem Alkoholkonsum, gerade bei jungen Frauen Prävention betrieben werden. Frauenärzte/-innen kommt hierfür eine wichtige präventive Rolle zu.

Im Rahmen der Erstversorgung von Opfern sollte der Fokus auch auf der psychologischen Betreuung der Patientinnen und dem Unterbreiten von niedrigschwelligen Kontaktmöglichkeiten liegen. Dies wird durch den hohen Anteil an psychiatrisch vorerkrankten Patientinnen in unserem Kollektiv verdeutlicht. Eine Borderline-Persönlichkeitsstörung in der Anamnese und/oder Selbstverletzungen wurden in unserer Untersuchung in 13,4% der Fälle angegeben, wobei die Prävalenz dieser Erkrankung in ganz Deutschland nur bei 2,7% liegt [22]. In internationalen Studien wird ebenfalls ein hoher Anteil der Betroffenen von 25,8 – 39,7% [18], [20] mit psychiatrischer Vorerkrankung beschrieben. Durch eine zeitnahe psychologische Betreuung der Frauen können typische Folgen von sexueller Gewalt, wie Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen (PTSB) und Angststörungen, zumindest adressiert werden [23]. Eine psychologische Versorgung ist jedoch im Rahmen einer Vorstellung in der Notaufnahme schwierig zu bahnen.

Das Risiko für eine unerwünschte Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung variiert nach Alter der Patientin und vorhandener Kontrazeption und liegt bei ungefähr 5% [24]. Das Risiko einer HIV-Infektion liegt je nach Vaginal-, Oral- bzw. Analverkehr zwischen 0,001 – 0,03% [25], [26]. Unsere Ergebnisse zeigen, dass die postkoitale Verhütung in über der Hälfte der Fälle innerhalb von 120 Stunden nach dem Delikt verordnet wurde, während die PEP nur in 21,3% der Fälle indiziert war und durchgeführt wurde. Die Beratung durch Frauenärzte/-innen bezüglich ungewollter Schwangerschaften und Infektionen ist somit ein weiterer wichtiger Bestandteil der Erstversorgung. Das Auftreten genitaler Verletzungen erhöhte hierbei die Indikationsstellung zur HIV-PEP und auch zur Hepatitis-B-Impfung. Es gibt keine bundeseinheitliche Empfehlung zur Indikation der HIV-PEP nach Sexualdelikten. Eine strenge Indikationsstellung besteht nur einem bekannt positivem HIV-Status des Täters.

Limitationen der vorliegenden Studie sind der retrospektive Charakter der Datenerhebung mit einem möglichen Selektionsbias. Hierdurch könnte z. B. auch die hohe Rate an psychiatrischen Vorerkrankungen erklärt werden. Einschränkend muss außerdem erwähnt werden, dass die Angaben zur Tathandlung als solcher, zum Tatzeitpunkt, zum Substanzkonsum und der psychiatrischen Vorerkrankung nur anamnestisch erfolgten und nicht durch kriminalpolizeiliche Ermittlungsergebnisse verifiziert werden konnten (Recall Bias). Es ist aus der praktischen Arbeit im Themenkontext bekannt, dass ein Teil der anamnestischen Angaben zu Tatdetails, z. B. auch hinsichtlich der Freiwilligkeit, sich nachträglich als nicht mehr verifizierbar herausstellen, auch und gerade bei Patientinnen mit psychiatrischen Vorerkrankungen.

Ob die Patientinnen im Nachhinein Hilfsangebote suchten bzw. annahmen, konnte in unserer Studie nicht ausgewertet werden. Weiter ist das hier ausgewertete Verletzungsspektrum nur auf das hier untersuchte Kollektiv anwendbar, ein Transfer auf kindliche und jugendliche Betroffene ist nicht möglich.


Schlussfolgerung

Eine kombinierte rechtsmedizinische Ganzkörperuntersuchung mit gynäkologischer Untersuchung von Frauen nach angegebenem Sexualdelikt ermöglicht eine fachgerechte und gerichtsverwertbare Dokumentation und Beurteilung von Verletzungen.

Die gynäkologische Untersuchung stellt einen elementaren Bestandteil und Grundpfeiler in der medizinischen Versorgung von Frauen nach Sexualdelikten dar, da 28,5% der Betroffenen Verletzungen im Genitalbereich aufwiesen. Zudem erhalten mehr als die Hälfte der Frauen eine postkoitale Verhütung, die von Frauenärzten/-innen indiziert wird. Nach unseren Ergebnissen scheinen ein junges Lebensalter, Konsum von Alkohol, die Verabreichung von Betäubungsmitteln und das Vorliegen psychiatrischer Erkrankungen Risikofaktoren für das Auftreten von Sexualdelikten und damit assoziierten Verletzungen zu sein. Eine interdisziplinäre Versorgung von weiblichen Opfern nach Sexualdelikten könnte als Vorbild einer nationalen Leitlinie dienen.



Conflict of Interest/Interessenkonflikt

The authors declare that they have no conflict of interest./Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Correspondence/Korrespondenzadresse

Dr. med. Caroline Klasen
Klinik und Poliklinik für Gynäkologie
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Martinistraße 52
20246 Hamburg
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Publication History

Received: 13 October 2021
Received: 09 February 2022

Accepted: 10 February 2022

Article published online:
05 April 2022

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