Nuklearmedizin 2022; 61(02): 77-79
DOI: 10.1055/a-1780-1490
Liebe Leser

Radiopharmazie des vergangenen Jahrzehnts

 

Einordnung

Die Radiochemiker/Radiopharmazeuten des deutschsprachigen Raums sind im Verbund der AGRR – der „Arbeitsgemeinschaft Radiochemie und Radiopharmazie“ – innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Nuklearmedizin organisiert. Die AGRR setzt sich vorrangig aus Kolleginnen und Kollegen der D-A-CH-Länder zusammen, sodass auf radiopharmazeutischer Seite eine Anbindung an die OGNMB und SGNM besteht. Sie pflegen dort – auch mit zahlreichen Mitgliedern aus der Industrie – während der jährlichen Arbeitstagungen einen intensiven Austausch, der über die Grenzen klassischer Vortragsveranstaltungen hinausgeht und so zu einer engen Vernetzung beiträgt. Neben klassisch-fachlichen Fragen bietet die AGRR eine Plattform zur Behandlung der vielen regulatorischen Probleme, die sowohl die pharmazeutischen als auch die Strahlenschutz-bezogenen Herausforderungen zur sicheren Versorgung der Nuklearmedizin mit anwendungsfertigen Radiopharmaka mit sich bringen.


#

Fachliches

Vorrangige Aufgabe der Radiopharmazeuten war und ist die zuverlässige Versorgung der großen, aber auch kleinen nuklearmedizinischen Einrichtungen mit Radiodiagnostika und Radiotherapeutika. Gerade während des vergangenen Dezenniums war dies mit erheblichem Aufwand verbunden, um die arzneimittelrechtlichen Voraussetzungen für die Eigenherstellung von Radiopharmaka zu erfüllen. Dies umfasst sowohl die technische Ausstattung für die GMP-gerechte Herstellung von Radiopharmaka inklusive deren Qualitätskontrollen als auch die umfangreichen und zeitintensiven Dokumentationen innerhalb eines vorzuhaltenden Qualitätsmanagementsystems und zur Erlangung von Herstellungserlaubnissen.

Die Herstellung sowohl zugelassener Produkte als auch neuer, innovativer Radiopharmaka, die nach § 13 Abs. 2b des AMG hergestellt und angewandt werden, stehen manchem Patienten als letzte Möglichkeit zur Verfügung. Dies erfordert auch bei den deutschen Pharmabehörden – BfArM und Landesbehörden – ein verantwortungsvolles Augenmaß.

Neben der routinemäßigen Radiopharmaka-Herstellung spielten Entwicklungen zu entsprechenden Methoden kontinuierlich eine wichtige Rolle in Form angewandter Forschung.

Die Entwicklungen von Radiotracern und potenziellen Radiotherapeutika wurden vor allem von den universitären Zentren der Nuklearmedizin/forschenden Radiopharmazie, aber auch den Forschungszentren in Heidelberg, Jülich und Rossendorf (und entsprechenden Einrichtungen der D-A-CH-Länder) sowie mit einem speziellen Beitrag des Instituts für Transurane der EU getragen. Die hervorragende internationale Stellung dieses Blocks von Radiopharmazeuten der D-A-CH-Länder wurde in Kontinuität der vorherigen Jahre gerade während der letzten Dekade sichtbar. Dies soll an wenigen Beispielen erläutert werden:

Die Herausforderung lag und liegt in der Entwicklung von Radiotracer-/Radiotherapeutika-Paaren, die den Kriterien der Theranostik genügen. Bereits in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren hatte sich die Somatostatin-Rezeptor-Szintigrafie und -therapie auf Basis radiomarkierter Octreotide als hochspezifische Substanzen für die Behandlung (nichtinvasive Bildgebung und Endoradiotherapie) neuroendokriner Tumoren etabliert. Die Substanzgrundlage – ein Neuropeptid – wurde überwiegend von D-A-CH-Radiopharmazeuten gelegt. Dies war, nach der klassischen Radiojoddiagnostik und -therapie für Schilddrüsenerkrankungen, der erste überzeugende Ansatz für die moderne Theranostik in der Nuklearmedizin.

Der große Fortschritt, der gegenwärtig zu einer neuen Bedeutung der Nuklearmedizin führt, erfolgte im letzten Jahrzehnt durch die Entwicklung und beginnende klinische Einführung einer neuen Klasse radiomarkierter niedermolekularer PSMA-Inhibitoren zur Diagnose und Therapie des Prostatakarzinoms, dem zweithäufigsten diagnostizierten Krebs bei Männern (Inzidenz < = 100/100 000). Diese Glutaminsäure-Harnstoff-basierten PSMA-Inhibitoren entsprechen überzeugend den Kriterien des theranostischen Einsatzes. Nach ersten Entwicklungen in den USA wurde der Durchbruch von deutschen Radiopharmazeuten (DKFZ und Universität Heidelberg) erzielt. Sie gelangten von einem Molekül, das ursprünglich für die Anwendung im neuropsychiatrischen Bereich vorgesehen war, durch systematische strukturelle Veränderungen auf der Basis von Arbeiten über Struktur-Aktivitäts-Beziehungen zu anwendungsbereiten Substanzen. Dabei handelt es sich vorrangig um 68Ga-PSMA-11, 177Lu(90Y,225Ac)-PSMA-617, 18F-PSMA-1007 (DKFZ und Universität Heidelberg), aber auch Varianten wie PSMA I&T (TU München).

In Zusammenarbeit mit Nuklearmedizinern und der pharmazeutischen Industrie ist es gelungen, in den USA eine Zulassung einer ersten dieser Substanzen ([177Lu]Lu-PSMA-617, vipivotide tetraxetan) für die therapeutische Anwendung am Patienten zu beantragen. Die Zulassung steht bevor. Die Markteinführungsstudie (Phase III, VISION Trial) wurde erfolgreich abgeschlossen und im N Engl J Med veröffentlicht. Eine weitere Substanz ([18F]PSMA-1007 (RADELUMIN)) wurde im Dezember 2021 in Frankreich zugelassen. Eine Übertragung der Zulassung auf weitere europäische Länder erfolgt derzeit. Bereits in den Jahren 2020 und 2021 wurden [68Ga]Ga-PSMA-11 (DKFZ-Entwicklung) und [18F]DCFPyL (Johns-Hopkins-Entwicklung) in Australien bzw. in den USA zugelassen, PSMA-11 als Illucix Kit und DCFPyL als PYLARIFY. Diese Radioliganden haben bereits heute einen bemerkenswerten Einfluss auf die klinische Behandlung des Prostatakarzinoms.

Eine weitere bedeutsame Radiotracer-Entwicklung zur Tumordiagnostik – und zukünftig möglicherweise Tumortherapie -, deren Potenzial bisher noch nicht umfassend bewertet ist, erfolgte an der Universität Heidelberg. Grundlage ist ein Inhibitor des Fibroblasten-Aktivierungsproteins (FAP), das auf aktivierten stromalen humanen Fibroblasten in Karzinomen hoch exprimiert wird. Die entsprechenden DOTA-Chinolin-basierten PET-Tracer, z. B. [68Ga]Ga-FAPI-04 oder [18F]AlF-FAPI-74, zeigen eine hohe Aufnahme in einigen Tumorentitäten.

Die entsprechenden Entwicklungen zu beiden Substanzklassen – PSMA-Inhibitoren und FAP-Inhibitoren – sind auf breites internationales Interesse gestoßen und von zahlreichen Gruppen mit dem Versuch einer weiteren Optimierung aufgenommen worden.

Direkte anwendungsbezogene Entwicklungen erfolgten zu einer breiten Palette von Target-spezifischen PET-Radiotracern/Radiopharmaka – typische Beispiele seien genannt:

  • Enzym-Inhibitoren im Kontext der Tumoradressierung (Universität Münster, HZ Dresden-Rossendorf),

  • ZNS-Rezeptorsysteme im Kontext neurodegenerativer Erkrankungen (ETH Zürich, HZ Dresden-Rossendorf/Leipzig, FZ Jülich, Med. Universität Wien),

  • Rezeptorsysteme für die Tumoradressierung (TU München, Med. Universität Wien, HZ Dresden-Rossendorf/Leipzig, Uni Erlangen, ETH Zürich) oder

  • bakterielle Infektionen/Entzündungen (MHH Hannover, HZ Dresden-Rossendorf).

Mit all diesen Untersuchungen verbunden waren Arbeiten zur Radiopharmakologie und damit der weite Bereich tierexperimenteller Arbeiten sowie In-vitro-Untersuchungen aller Art. Insgesamt wurde die moderne Biochemie nun überall ein integraler Bestandteil der Entwicklungsarbeiten.

Die bei der Entwicklung neuer radioaktiver Arzneimittel wichtige Fachrichtung Radiochemie/Radiopharmazeutische Chemie dient der Entwicklung von Werkzeugen, um die spätere Radiosynthese des Radiopharmakons möglichst einfach und hocheffizient zu gestalten. Dies umfasst nuklearchemische Arbeiten zu „alternativen“ Radionukliden, vorrangig für die Therapie (Paul-Scherrer-Institut Villigen, FZ Jülich, Universität Mainz). Das sind weiterhin Arbeiten zur Entwicklung von Chelatoren für die stabile Bindung von Radiometallen wie 64Cu, 89Zr, 22xRa, 225Ac u. a., die sowohl in Diagnose als auch Therapie eingesetzt werden (HZ Dresden-Rossendorf, TU München, ETH Zürich). Ein Fokus liegt derzeit auf dem Einsatz kurzlebiger Alpha-Strahler.

Markierungstechniken (beispielsweise zur schonenden Einführung von n.c.a. [18F]Fluorid (FZ Jülich) in komplexen Molekülen oder die Nutzung von 3 + 2-Cycloadditionen (Nutzung für eine breite Substanzpalette (viele Arbeitsgruppen)) wurden kontinuierlich weiterentwickelt.

Zahlreiche Untersuchungen dienten der Herstellung und tierexperimentellen Nutzung von Radiotracern, deren Einsatz zunächst vor allem im Bereich der medizinischen Forschung liegt. Der Vorlaufforschung zu zahlreichen physiologischen Fragestellungen, u. a. für die Krebsforschung, dient die Herstellung einer Vielzahl von (meist PET-)Radiotracern für den tierexperimentellen Einsatz (Universität Tübingen, Universität Münster, HZ Dresden-Rossendorf).

Die Anwendbarkeit von Nanopartikeln als Träger für Radionuklide, aber auch von MR-aktiven Nukliden wurde in verschiedenen Arbeitsgruppen für diverse Anwendungen (Universität Heidelberg/Mannheim, FZ Jülich, HZ Dresden-Rossendorf, Universität Mainz) untersucht.

Infolge der mangelnden Verfügbarkeit von Teilchenbeschleunigern und Forschungsreaktoren für die Radionuklidgewinnung kann dieser Teil der nuklearchemischen Arbeiten speziell in Deutschland und Österreich nur ungenügend vorangetrieben werden. Dies kann sich künftig zu einem immer größeren Problem auswachsen, vor allem wenn es die Nutzung bisher wenig genutzter Radionuklide erforderlich macht.


#

Sonstige Aktivitäten

Gremienarbeit

Radiopharmazeuten der D-A-CH-Länder sind – gesteuert über die AGRR – in de facto allen bedeutenden internationalen Gremien tätig. Dies betrifft das „Board of Directors“ der SRS und der Society of Radiopharmaceutical Sciences, deren Vorsitz im letzten Jahrzehnt von einem unserer Mitglieder ausgeübt wurde; daneben waren 2 unserer AGRR-Mitglieder auch Mitglied dieses Gremiums der internationalen Dachorganisation. AGRR-Mitglieder wirken seit Langem in verschiedenen Komitees der EANM mit, so im „Radiopharmacy Committee“; beispielsweise wird der gegenwärtige Vorsitz dieses Gremiums von einem AGRR-Mitglied ausgeübt. Eine Mitwirkung erfolgt ebenso im „Drug Development Committee“. Auch die Europäische Arzneibuchkommission macht sich das Wissen von AGRR-Mitgliedern zunutze.


#

Ausbildung

Eng verknüpft mit der Gremienarbeit sind die Aktivitäten zur Ausbildung im Rahmen des „Postgraduate certificate course in Radiopharmaceutical Chemistry/Radiopharmacy” (ETH-CAS-Kurs) für bereits erfahrene Radiopharmazeuten, der von der ETH Zürich organisiert wird. Eines von 3 Ausbildungsmodulen (Radiopharmacology and Clinical Radiopharmacy) wird von der Universität Leipzig getragen; nicht nur an den Modulen in Leipzig, sondern auch in Zürich (Radiopharmaceutical Chemistry) wirken Dozenten aus dem Bereich der DGN mit.

Unabhängig von diesem Postgraduiertenkurs, der durch die EANM anerkannt wird, wird an mehreren deutschen Universitäten im Rahmen von Vorlesungen und Praktika eine Grundlagenausbildung in radiopharmazeutischer Chemie und Radiopharmazie angeboten.


#

Veranstaltungen

Im Jahr 2017 konnte die wichtigste, 2-jährig veranstaltete radiopharmazeutische Tagung, die ISRS (International Symposium on Radiopharmaceutical Sciences), in Dresden ausgerichtet werden. Das European Symposium on Radiopharmaceuticals and Radiopharmacy (ESRR) wurde 2016 in Salzburg von den österreichischen Kollegen ausgerichtet. Die AGRR hat es vermocht, eine nun schon nahezu 3 Jahrzehnte bestehende Arbeitstagung zu organisieren, die an geografisch wechselnden Standorten des D-A-CH-Bereichs stattfindet. Leider konnten, bedingt durch die Corona-Pandemie, die Arbeitstagungen 2020 und 2021 nicht stattfinden. Im Jahr 2022 wird die nächste AGRR-Tagung durch die Tübinger Kollegen ausgerichtet werden.


#

Ausbau der Infrastruktur

Die o. g. Erfordernisse zum Erfüllen von behördlichen Auflagen; neue Erfordernisse des Tierschutzes und Notwendigkeiten zur Anpassung der Forschungsinfrastruktur haben deutschlandweit zu einem erheblichen Ausbau der infrastrukturellen Möglichkeiten geführt. Neben vielen nuklearmedizinischen Kliniken wurden große Investitionen vor allem an den Standorten Erlangen, Hannover, Jülich, München, Dresden-Rossendorf/Leipzig, Münster und Tübingen getätigt. Dies kommt sowohl der täglichen Routineherstellung von vorrangig PET-Radiopharmaka als auch den Möglichkeiten einer auf zukünftige Aufgaben ausgerichteten Forschung zugute.


#

Zusammenarbeit mit der Industrie

Die in Deutschland produzierende radiopharmazeutische Industrie hat sich während des letzten Jahrzehnts spürbar entwickelt – es haben sich nicht nur die Zahl der Unternehmen, sondern sowohl deren Produktpalette als auch Umsatz vergrößert. Diese Entwicklung korreliert unmittelbar mit der Ausbildung junger Fachkollegen und mit der fruchtbaren Forschung im Rahmen des Fachgebietes. So ist es gelungen, die durch den Ausstieg großer Hersteller entstandenen Lücken nicht nur zu füllen, sondern auch durch innovative Produkte zu ergänzen.

Jörg Steinbach und Klaus Kopka, Dresden-Rossendorf


#
#
#

Publication History

Article published online:
06 April 2022

© 2022. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany