CC BY-NC-ND 4.0 · Z Orthop Unfall 2022; 160(04): 369-376
DOI: 10.1055/a-1844-5446
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell

Ödipus, ein traumatologisch - orthopädischer Fall?

Essay zu einer unglücklichen Figur aus der AntikeOedipus, a traumatological - orthopaedic case?Essay on an unfortunate figure from antiquity
Markus L. R. Schwarz
1   Experimentelle Orthopädie und Unfallchirurgie, Orthopädisch-Unfallchirurgisches Zentrum (OUZ), Universitätsmedizin Mannheim, Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg, Mannheim, Germany
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Zusammenfassung

Das Essay deutet die Gestalt des Ödipus und sein Schicksal nach modernen medizinisch-wissenschaftlichen Kriterien. Die Misshandlungen, die das Kleinkind erlitt, bekommen dabei als auslösender Faktor einen besonders Stellenwert. Der Name „Ödipus“, üblicherweise mit „Schwellfuß“ übersetzt, wird hinsichtlich seines etymologischen Ursprungs untersucht, sodass verschiedene Schlüsse aus dem Namen gezogen werden können, auch die, dass es dem Heroen leicht gefallen sein muss, das Rätsel der Sphinx zu lösen, da es mit der Funktion der Füße eine orthopädische Kernaussage hatte. Es können bei Ödipus mehrere Verletzungen und Störungen diagnostiziert und nach dem aktuellen ICD-Schlüssel klassifiziert werden, z. B. die Blindheit, nachdem er sich selbst geblendet hatte. Zudem ergibt sich der Verdacht auf das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, die sich einstellten, nachdem Ödipus von seinen Eltern misshandelt wurde, um ihn zu töten. Damit wird auch die Frage nach seiner Schuld an den von ihm begangenen Taten neu hinterfragt. Die Geschichte des „Ödipus“ bestätigt die Lebenswirklichkeit griechischer Mythologie aufs Neue.


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Abstract

This essay studies the physical shape, character and fate of Oedipus, applying relevant and current medical scientific criteria. The abuses he suffered during childhood play an important role in this context. The name Oedipus is usually translated as “swollen foot”, but according to various etymological sources, the name can be interpreted in different ways. One of these interpretations alludes to fact that it was easy for the hero to solve the riddle of the sphinx because its key message addressed an orthopedic issue as it was dealing with the function of the feet. During Oedipus’ life, he suffered many injuries and disorders, which can be classified using the current ICD code. There is, for example, his blindness after he had blinded himself. In addition, we can assume that Oedipus suffered from a post-traumatic stress disorder and a borderline personality disorder following the child abuse caused by his parents who intended to kill him. Thus, the discussion about his own responsibility for his actions is again being put into question. Oedipus`s life story is once again proof that Greek mythology can reflect the reality of life.


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Einleitung

Der Name „Ödipus“ ist eng mit der Psychoanalyse verbunden, denkt man doch gleich an den Ödipus-Komplex, der von Sigmund Freud beschrieben wurde und seinen festen Platz in der Psychoanalyse hat. Von dem Mann, der seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet hat, wird schon von Homer in der Odyssee berichtet. Im 11. Gesang, der Nekyia, erscheint dem Odysseus in der Unterwelt Epikaste (gleichbedeutend mit Iokaste), die Mutter des Ödipus. Die Geschichte wird dort in 10 Versen erzählt ([1], S. 170). Die Odyssee kann in das Jahr 700 v. Chr. datiert werden ([2], S. 123; [3], S. 77). Schadewaldt berichtet auch über Vorstufen der Sage, die ins 2. Jahrtausend vor Christus zurückreichen ([2], S. 123). Sophokles (496–406 v. Chr. ([4], S. 40) stellte als etwa 70-Jähriger das Stück „König Ödipus“ zwischen 429 und 425 v. Chr. in einer Zeit schwerer staatlicher und politischer Krisen im Rahmen des Tragödienagons vor. Er gewann zwar nicht den ersten Preis damit, aber das Stück wurde schon von Aristoteles (389–322 v. Chr. ([5], S. 110) als vollkommenes Bühnenwerk angesehen und es wurde „zum Muster der Tragödie überhaupt“ ([3], S. 78).

Ödipus ist nach Gemoll mit „Schwellfuß“ zu übersetzen ([6], S. 532). Aus dem Namen und der Geschichte dieses griechischen Heroen lassen sich verschiedene orthopädisch-unfallchirurgische Krankheitsbilder sowie psychische Reaktionen herleiten und in Diagnosen fassen, die im Folgenden analysiert und vorgestellt werden sollen.


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Die Geschichte

Es herrschte ein Geschlechterfluch auf den Labdakiden, nachdem der Großvater des Ödipus, Labdakos, sich weigerte, den Dionysoskult anzuerkennen, als er König von Theben werden sollte ([7], S. 215). Laios, sein Sohn, wuchs im Exil am Hof des Pelops auf. Laios entführte als König von Theben schließlich Chrysippos, den unehelichen Sohn des Pelops, wegen dessen Schönheit ([7], S. 215). Das war ein „eklatanter Verstoß gegen das Gastrecht“, das er früher dort genoss, wofür er den Fluch des Pelops und den Fluch der Schicksalsgottheiten auf sich zog ([7], S. 215). Kerenyi ([8], S.77) beschreibt Chrysippos als „wahren Sonnenknaben“, der früh und unverheiratet starb, und Laios sei zum „Erfinder der Knabenliebe“ geworden ([8], S. 77 zitiert Euripides' Chrysippos). Auch Hera und Apollo gerieten deshalb über Laios in Zorn. Apollo als Beschützer der Knaben und Hera, weil der geraubte Knabe die „Ehefrau ersetzen sollte“ ([8], S. 78).

Laios ging nach Delphi und befragte das Orakel, welches ihm weissagte, dass sein Sohn ihn töten würde ([7], S. 138). Er hörte nicht auf das Orakel und heiratete Iokaste ([9], S. 139). Iokaste wurde schwanger und brachte den Sohn zur Welt. Damit sich das Orakel aber nicht erfüllen konnte, ließ Laios dem Neugeborenen die Füße durchbohren und ihn durch einen Hirten auf dem Kithairon-Gebirge mit dem „ausdrücklichen Tötungsgebot seitens der Mutter“ ([7], S. 215 mit Verweis auf Sophokles’ „Oidipous Tyrannos“), aussetzen.

Wann Ödipus traumatisiert wurde, wird von Iokaste im „König Ödipus“ zeitlich ziemlich genau mitgeteilt: „seit der Geburt des Knaben waren drei Tage kaum vergangen, da schnürte jener [Anm.: gemeint ist Laios] ihm die Fußgelenke ein und ließ ihn … ins unzugängliche Gebirge werfen“ ([3], S. 35).

Der Hirte überließ das Kind aber aus Mitleid einem anderen Hirten, der im Kithairon-Gebirge im Auftrage des Polybos unterwegs war.

Der brachte das Kind zu seinem König Polybos nach Korinth, der den Knaben mit seiner Ehefrau Merope, die kinderlos waren, wie ein eigenes Kind aufzog ([10], S. 187). Im Haus des Polybos wuchs Ödipus im Glauben auf, Merope und der König (Polybos) seien seine Eltern ([8], S. 80).

Ein Betrunkener verhöhnte eines Tages Ödipus bei einem Mahl ([2], S. 40) wegen seiner „zweifelhaften Herkunft“ ([7], S. 215). Daraufhin suchte Ödipus das Orakel in Delphi auf, wo ihm geweissagt wurde, dass er seinen Vater töten und seine Mutter heiraten würde. Er bezog dies natürlich auf Polybos und Merope als seine vermeintlichen Eltern und kehrte nicht nach Korinth zurück. Er traf auf Laios an einem Dreiweg ([7], S. 216) und tötete ihn bei der Auseinandersetzung um das Wegerecht ([2], S. 41). Laios war gerade auf dem Wege nach Delphi, um das Orakel zu befragen was zu tun sei, da die Stadt Theben von der Sphinx bedroht war ([7], S. 216).

Ödipus konnte dann die Sphinx besiegen, indem er das Rätsel, das sie stellte, löste (s. u. Lösung des Rätsels). Dadurch erlöste er die Stadt vom Unheil und bekam dafür zusammen mit der Königsherrschaft über Theben Iokaste, die eigentlich seine leibliche Mutter war, zur Gemahlin. Aus dieser Verbindung gingen die Söhne Eteokles und Polineikes sowie die Töchter Antigone und Ismene hervor ([7], S. 216).

Theben wurde Jahre später von einer Seuche heimgesucht. Kreon, der Schwager des Ödipus, erhielt vom delphischen Orakel den Hinweis, den Mörder des Laios aus Theben zu vertreiben, um das Übel zu beenden. Da meldete ein Bote aus Korinth den Tod des Königs Polybos. Von ihm erfuhr Ödipus auch, dass er nicht der Sohn des Polybos war, da eben jener Bote ihn als Hirte damals im Kithairon-Gebirge gefunden hatte. In der Erkennungsszene im „König Ödipus“ von Sophokles verweist er auf die Füße des Ödipus mit den Worten: „Die Fußgelenke mögen es an dir bezeugen“ ([2], S. 50).

Während Ödipus die Wahrheit über sich erfuhr, erhängte sich Iokaste im Palast. Er selbst blendete sich mit Schmuckspangen vom Gewand seiner nunmehr toten Frau und Mutter ([7], S. 216). Kreon verbannte ihn aus Theben, dem Orakelspruch folgend ([7], S. 216), sodass die Stadt von der Seuche befreit wurde.


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Der Name

„Ödipus“; der Name wird allgemein mit „Schwellfuß“ übersetzt ([6], S. 532; [8], S. 79). Er ergibt sich aus der Kombination der Bezeichnungen für „schwellen“ (οἰδἀω[1] – schwellen; ([6], S. 532) und „Fuß“ (πούσ; [6], S. 626). Den Namen gaben Polybos und Merope dem Knaben ([10], S. 195). Diese etymologische Herleitung des Namens verweist auf den Zustand der Füße, nachdem sie „mit einer goldenen Spange oder einer eisernen Spitze“ durchbohrt worden waren ([8], S. 80).

Auch wenn die Übersetzung „Schwellfuß“ inzwischen weithin anerkannt ist, sind mehrere etymologische Untersuchungen zum Ursprung, zur Bedeutung sowie zur Deutung des Namens unternommen worden.

Nachdem Ödipus das Rätsel der Sphinx gelöst (s. u.) und sein intellektuelles Potenzial gezeigt hatte, wurde er zu einem weisen Heroen ([8], S. 84). Deshalb könnte sein Name aus dem Wort für „wissen“ (οἶδα – wissen ([6], S. 532, mit Verweis auf εἴδω, S. 242) hergeleitet werden, um Ödipus damit als den „Wissenden“ zu bezeichnen ([10], S. 196). In der Tragödie rühmte er sich ja auch seiner Weisheit ([2], S. 15 und 25). Folgt man Kerényi ([8], S. 84) wurde er mit der Lösung des Rätsels jedoch auch zum törichtesten König der Welt, wenn man den Verlauf der Tragödie betrachtet.

Eine andere Deutung basiert auf der Lesart des Namens als „Oiduphallus“ ([11], S. 56), bzw. „Oidyphallos“ bei Kerényi ([8], S. 80), was einer Umschreibung des männlichen Geschlechtsorgans entsprechen würde. Edmunds stellt in seiner psychoanalytischen Betrachtung des Ödipus („The Body of Ödipus“) eine Verbindung zwischen den Füßen, den Augen und den Genitalien des Ödipus her ([11], S. 56). Er berichtet dabei über den Glauben im alten Griechenland, dass eine Verletzung der Füße zur Schwellung der Leiste („groin“) führe, und verweist dazu auf mehrere Stücke des griechischen Komödiendichters Aristophanes (um 445–385 v. Chr. ([5], S. 110) ([11], S. 56). Dem Volksglauben nach führten Klumpfüße wegen der Schwellung des Fußes und der folgenden Kongestion zu einer stärkeren Ausprägung der Geschlechtsteile sowie zu gesteigerter Wollust ([12] zitiert Aigremont Dr. 1909, S. 70). Edmunds beurteilt Ödipus schlussendlich wegen der Gleichheit seines Namens mit seiner Verstümmelung als einen dreigeteilten Menschen („body“), da ihn seine Füße repräsentierten („Oedipus is his feet“), welche das symbolische Äquivalent zu seinen Augen sowie seinen Genitalien darstellten ([11], S. 56).

Robert ([13], S. 57) diskutiert die Interpretation des Namens Ödipus als „der Fußkundige“ kritisch, zumal er die etymologische Herleitung dazu für bedenklich hält. Allerdings wäre Ödipus als „Fußkundiger“ hervorragend zur Lösung des Rätsels der Sphinx (s. u.) geeignet, zumal er schmerzliche Erfahrungen mit seinen eigenen Füßen gemacht hatte.

Schneidewin ([10], S. 196) verweist in seiner Abhandlung „Die Sage vom Ödipus“ auf E. v. Lassaulx und Al. Capellmann, die dem „zweifüßigen“ (δίπους ([6], S. 221) ein „ach“ (οἴ ([6], S. 532) voraussetzten, sodass daraus etwa: „ach, ein Mann“ (οἴ δίπους) entstand. Der Begriff „Fuß“ wurde z. B. auch in Psalmen des David stellvertretend für den Menschen als „pars pro toto“ genutzt, berichtet Zwipp in seiner Abhandlung über die kulturelle Bedeutung des Fußes ([12], S. 68). So würde des Rätsels Lösung dem Namen dessen entsprechen, der es löste. Kerényi meint aber, dass sich den Überlieferungen gemäß der Name tatsächlich auf die Füße des Heroen beziehe ([8], S. 79 f.). In der Erkennungsszene im „König Ödipus“ berichtet der „Mann von Korinth“, dass er als Hirte den Ödipus als Kind „in den Felsenschluchten des Kithairon“ gefunden hätte ([2], S. 50) und verweist zum Beweis auf die Füße des Ödipus: „Die Fußgelenke mögen es an dir bezeugen“ und Ödipus bestätigt: „O mir! was nennst du dieses alte Übel“ ([2], S. 50).

Der „Mann von Korinth“ geht ins Detail, er fährt fort: „Ich löste dich! durchbohrt hattest du der Füße Spitzen“. Und Ödipus bestätigt: „Furchtbare Schande aus den Windeln bracht ich mit!“. Und der „Mann von Korinth“ bringt es auf den Punkt: „So dass du der nach diesem Zufall benannt mit Namen wurdest, der du bist!“ ([2], S. 50).

Man sollte nicht vergessen, dass die Sage des Ödipus eine Entwicklung vom Volksepos zur „Kunstdichtung“ des Sophokles durchlaufen hat ([10], S. 160). Erst in dem Drama des Sophokles bekamen der Name des Heroen und die Geschichte, wie es zu allem kam, einen zentralen Platz, weil damit die Erkennungsszene vorbereitet und ausgeführt werden konnte.

„Ödipus“ bezeichnet also den Zustand eines geschwollenen Fußes bzw. geschwollener Füße. Es müssen demnach auch nach der Verletzung (Durchbohren) der Füße Entzündungs- sowie Heilungsprozesse eingesetzt haben. Das heißt, dass Ödipus seinen Namen wohl bekommen hatte, als sich Folgen der Verletzungen abgezeichnet hatten. Sie müssen auch über sein ganzes Leben hinweg vorhanden gewesen sein, denn bei der Erkennungsszene wird durch den „Mann von Korinth“ (s. o.) auf die Folgen der Verletzung hingewiesen, die offensichtlich immer noch zu sehen waren. Und Ödipus war sich seiner Traumatisierung als Kind wohl immer bewusst [9], was durch seine Aussage: „O mir! was nennst Du dieses alte Übel“ ([2], S. 50) bestätigt wird.


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Rätsel der Sphinx

Die Sphinx, die „Würgerin“ ([8], S. 82), ist ein „verderbenbringendes mythisches Wesen, das bei Theben hauste“ ([6], S. 724), halb Jungfrau, halb Löwin ([14], S. 47). Sie wird mit dem „Oberkörper einer Jungfrau, Flügeln und einem Löwenleib“ dargestellt ([6], S. 724). Die Schlangengöttin Echnida hatte sich mit dem eigenen Sohn, dem Hund Orthos, gepaart und die Sphinx ([8], S. 83) geboren.

Hera oder Dionysios hätten die Sphinx nach Theben geschickt, die eine, weil Laios’ Leidenschaft gegenüber Chrysippos dort geduldet wurde, der andere, weil die Stadt, seine Mutterstadt, ihn nicht verehren wollte ([8], S. 83). Dort saß die Sphinx dann also auf einer Säule und täglich versammelten sich die Thebaner, um das Rätsel zu lösen, und wenn sie das nicht konnten, holte sich die Sphinx einen von ihnen und erwürgte ihn.

Das Rätsel, das sie stellte, lautet bei Gustav Schwab so ([15], S. 259):

„Es ist am Morgen vierfüßig,am Mittag zweifüßig,am Abend dreifüßig.Von allen Geschöpfen wechselt es allein mit der Zahl seiner Füße;aber eben, wenn es die meisten Füße bewegt, sind Kraft und Schnelligkeit seiner Glieder ihm am geringsten.“

In einigen Ausführungen wird noch der Hinweis gegeben, dass das Geschöpf nur eine Stimme besessen hätte ([16], S. 5; [17], S. 174).

Das Rätsel war weit verbreitet und existierte unabhängig vom Ödipus-Mythos ([11], S. 57). Edmunds vermutet, dass es wegen der Verbindung zwischen dem Namen des Ödipus und seinem Inhalt der Sphinx „angehängt“ wurde ([11], S. 57). Die ältesten Hinweise auf das Rätsel der Sphinx finden sich nach Porzig ([17], S. 172) auf einer Schale, auf der die Sphinx mit einer Art Sprechblase dargestellt ist, deren Inhalt auf den Chor der Greise bei Aischylos’ „Agamemnon, Orestie I“ verweist, wo es heißt: „Der Überalterte … wandelt des Weges auf drei Füßen, nicht kräftiger als ein Kind.“ ([18], S. 7). Damit kann das Rätsel mindestens an den Anfang des 5. Jahrhunderts verortet werden (Aischylos 525–456 v. Chr. ([5], S. 121) ([18], S. 65).


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Lösung des Rätsels

Das Geschöpf, nach dem im Rätsel gefragt wird, ist der Mensch, der als Kind seine zwei Beine und seine zwei Hände, also alle Viere, zur Fortbewegung nutzt, in der Mitte seines Lebens, auf dem Höhepunkt seiner Kraft, geht er auf seinen beiden Beinen und am Lebensabend braucht er einen Stock als zusätzliche Stütze, sodass er quasi auf drei „Füßen“ steht und geht.

Ödipus löste das Rätsel der Sphinx, die sich daraufhin tötete ([13], S. 56; [16], S. 1), und rettete dadurch die Stadt Theben von dem Unheil. Und Ödipus war stolz darauf, das Rätsel gelöst zu haben ([16], S. 2). Die Frage ist, warum gerade Ödipus in der Lage war, das Rätsel zu lösen.

Edwards [16] findet 2 Erklärungsansätze, wie Ödipus des Rätsels Lösung fand: Den ersten lieferte Ödipus selbst. Er ging in Gedanken alle Kreaturen durch, die er kannte, aber es passte keine. Also meinte er entweder, dass er das gesuchte Geschöpf nicht kannte, oder dass das Rätsel keine Lösung hätte. Es kam ihm auch schon der Gedanke, dass in dem Rätsel der Mensch gemeint sein könnte, aber er kam nur soweit, dass der Mensch morgens mittags und abends auf seinen zwei Beinen steht. Aber ein Rätsel, das keine Antwort hat, ist kein Rätsel. Also überlegte er noch einmal, ob nicht der Mensch, also er selbst, im Rätsel gemeint sein könnte. Und ja, wenn man den Morgen als die Kindheit eines Menschen, den Mittag als die Zeit des Erwachsenseins und den Abend als die Zeit des Alters betrachtete, passte das. Den zweiten Erklärungsansatz sieht Edwards also darin, dass Ödipus versuchte, seine Beobachtungen mit einem metaphorischen Ansatz zu interpretieren ([16], S. 2–4).

Einige Kommentare sprechen Ödipus einen scharfen Verstand („powerful intellect“) zu ([16], S. 4), wie es sich auch in einer möglichen Interpretation des Namens ausdrücken würde (s. o.: Der Name). Vellacott misst dem Rätsel jedoch keinen sehr hohen Schwierigkeitsgrad bei ([16], S. 5 zitiert [9]). Er meint auch, dass Ödipus es müde wurde, wegen seines Scharfsinns gerühmt zu werden, er also vielleicht sogar des Lobes etwas überdrüssig wurde ([9], S: 137).

Warum? Weil es gerade ihm nicht schwerfiel, das Rätsel zu lösen?

Das Rätsel handelt ja von Füßen, konkret und in übertragener Form, wenn man den Stab des Alten als dritten Fuß bezeichnen möchte. Und Ödipus wird uns genau mit einem Namen vorgestellt, der auf den Zustand seiner Füße verweist: „Ödipus – Schwellfuß“. Vielleicht konnte er es am besten nachvollziehen, wenn ein Kleinkind alle Viere braucht, um sich fortzubewegen, nachdem ihm seine beiden Füße kurz nach der Geburt durchbohrt und zusammengebunden worden waren. Wahrscheinlich hatte er starke Schmerzen und Einschränkungen, auch nachdem er von den Fesseln befreit war und im Laufe der Rekonvaleszenz seine Füße sukzessive mehr und mehr zu gebrauchen lernte. Vermutlich hatte er Schwierigkeiten mit dem Erlernen des aufrechten Ganges und nutzte möglicherweise den Vierfüßlergang länger als Kinder in seinem Alter ohne Behinderung. Er war also aufgrund seines Leidens quasi ein „Experte“, wenn auch mit schmerzhaften Erfahrungen darin, was die Notwendigkeit und den Einsatz der Füße zur Fortbewegung angeht, vor allem in der Kindheit. Über eine Selbstreflexion könnte es dem „Fußkundigen“ ([13] s. o.) also gelungen sein, analog zum „Erkenne dich [2]“ und dessen Lösung: „Dass du ein Mensch bist“ ([8], S. 83), das Rätsel der Sphinx zu lösen.

Offensichtlich heilten seine Verletzungen aber aus, nachdem von keiner Behinderung im Laufe seines Lebens mehr berichtet wird. Selbst Iokaste scheinen keine Veränderungen an den Füßen ihres Gemahls über die Jahre ihres Zusammenlebens aufgefallen zu sein. Auch die Darstellungen des Ödipus, die ihn vor der Sphinx sitzend oder stehend zeigen ([2], S. 79–86; [13], S. 49–52), lassen keine verdächtigen Veränderungen der Füße erkennen, die auf eine Folge der Verletzungen hinweisen würden, die er als Kind erlitten hatte.

Auch eine Klumpfuß-Deformität ist bei Ödipus nicht zu erkennen; sie ist in der Antike gut beschrieben und auf verschiedenen Darstellungen von Betroffenen gut sichtbar ([19], S. 224–226). Dennoch scheinen Fußleiden in der Familie gehäuft aufgetreten zu sein. Sein Großvater Labdakos und sein Vater Laios waren offensichtlich durch ein linkisches bzw. hinkendes Gangbild belastet gewesen [20] [21]. Labdakos’ Vater Polydoros (auch der „Schrifttafelmann“ „Pinakos“ genannt) gilt als Nachfolger des Kadmos bei der Überbringung der Schrift an die Menschen ([8], S. 76). Labdakos wurde zu Kadmos’ Nachfolger, versinnbildlicht durch die Reihenfolge der Anfangsbuchstaben ihrer Namen ([8], S. 76). λ (Lambda = gr. Labda) folgt im Alphabet auf κ – Kappa ([22], S. 21). Die Form des Buchstaben λ ist asymmetrisch zuungunsten des linken Schenkels, der kürzer ist als der rechte. Labdakos ist nach dem „links-hinkenden Zeichen“ als „Hinkender“ benannt ([23], S. 427). Sein Sohn Laios ist der „Linkische“, was sich aus dem Wort λαιός, welches „links“ bedeutet ([6], S. 463), herleiten lässt. Ödipus’ Fußleiden ist aber nicht hereditär weitergegeben, wie es wohl bei seinen Vorvätern gewesen sei ([21], S. 67, 69), sondern es ist ihm sein Schwellfuß vielmehr durch den Einfluss Dritter zugefügt worden ([3], S. 35). Deshalb kann man zwar auch bei Ödipus eine genealogische Weiterleitung des Labdakidenfluches in Form eines Fußleidens interpretieren, aber man findet bei ihm keine angeborene Fußdeformität[3]. Die Erfahrung mit krankhaften Füßen hatte aber sozusagen eine Tradition in der Familie, sodass die Lösbarkeit des Rätsels durch Ödipus damit in Verbindung gebracht werden kann.

Es erfolgte aber offensichtlich eine Restitutio ad Integrum der Füße nach den Verletzungen, was die Funktion angeht; Narben müssen jedoch geblieben sein, wie uns die Erkennungsszene in Sophokles’ „König Ödipus“ annehmen lässt.

Meist ist ein Stock oder Stab auf den Abbildungen des Ödipus zu erkennen, den er in der Hand hält. Der Gebrauch des Stabes war ihm also durchaus vertraut, sei es als Wanderstab oder als Waffe. Immerhin erschlug er seinen Vater Laios mit einem Stock beim Streit um das Wegerecht, wie er selbst berichtete, und gleich noch dessen Begleiter dazu ([2], S. 41), bis auf einen, der entkam ([10], S. 188).

Uns begegnet in der Geschichte des Ödipus und vor allem hier bei der Lösung des Rätsels der Sphinx eines der ältesten medizinischen Hilfsmittel, nämlich der Gehstock. Seine Wirksamkeit bestätigte sich offenbar schon in frühen Zeiten der Menschheit, sodass er in der Mythologie des alten Griechenland die Aufmerksamkeit der Dichter auf sich zog. Er wird zum Attribut des alten Menschen, wie es im „Chor Argivischer Greise“ im „Agamemnon“ von Aischylos überliefert wird ([18], S. 7). Der wissenschaftlich geführte Nachweis für seine Wirksamkeit konnte in jüngerer Zeit durch biomechanische Untersuchungen erbracht werden. Man kann von einer Entlastung des Hüftgelenks von etwa 20% [24] bis 25% [25] des Körpergewichtes ausgehen, wenn der Gehstock auf der Gegenseite eingesetzt wird. Ödipus kannte die Wirksamkeit dieses Hilfsmittels offensichtlich recht gut und wusste es auch als wirksame Waffe einzusetzen. Vielleicht war seine Kenntnis um den Gebrauch des Gehstocks ein weiteres, wenn auch kleines Mosaikstück, das ihm half, das Rätsel der Sphinx zu lösen.

Es ist beachtlich, dass bei „Ödipus“ ein Rätsel, das sich mit der Anzahl und Funktion der Füße befasst, mit einem Protagonisten zusammentrifft, dessen Name auf seine Füße verweist [11]. Es gäbe daneben nämlich auch eine Auswahl an Rätseln, die ähnlich aufgebaut sind wie das der Sphinx und die sich ebenfalls auf die Anzahl der Füße beziehen. In diesen Fällen geht es aber eher um die einfache Summe der Füße mehrerer beteiligter Wesen. Diese Rätsel fragen z. B. nach einem trächtigen Tier, einer schwangeren Frau oder Reiter und Pferd oder Verbindungen davon, die z. B. zusammen über eine Brücke gehen ([17], S. 174). Das Rätsel der Sphinx bezieht sich aber eindeutig auf die Füße eines Geschöpfes und deren Funktion.

Eigentlich wäre die Verstümmelung der Füße des Ödipus ja überflüssig gewesen, sagt Edmunds, wenn es nur darum gegangen wäre, das Neugeborene zu töten; die Aussetzung im Gebirge allein hätte genügt, dass es gestorben wäre ([11], S. 52).

Aus dieser Sicht bilden die Misshandlungen, die Ödipus erlitt, zusammen mit dem hier eingesetzten Rätsel der Sphinx eine inhaltliche Klammer in der Tragödie. Offensichtlich ermöglichte, zumindest erleichterte ihm sein Schicksal das Rätsel zu lösen.

Und die Lösung des Rätsels durch den Protagonisten ist in der Geschichte die Voraussetzung dafür, dass die Heirat mit der Mutter zustande kommt. Er bekommt sie zur Gattin, zusammen mit Thebens Thron, weil und nachdem er die Stadt von der Sphinx befreien konnte. Damit erfüllte sich der 2. Teil seines Orakels, dass er seine Mutter zur Gattin nehmen würde.


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Die Schuld des Ödipus

Die Frage nach der Schuld des Ödipus ergibt sich aus seinem Schicksal. Sie ist eine der zentralen Fragen bei der Interpretation des Stückes. Neuere Deutungen reichen bis in die letzten 150 Jahre zurück ([2], S. 73). Und das Werk ist „unerschöpflich deutbar“ sagt Schadewaldt in seinem Nachwort zum „König Ödipus“, schließt aber einige Deutungsversuche aus heutiger Sicht aus, z. B. den, dass es sich um ein „fatalistisches Schicksalsdrama“ handele ([2], S. 73 f.). Er spricht von einem Enthüllungsdrama über ein Verbrechen, bei dem der Protagonist Fahnder, Richter und letzten Endes auch der gesuchte Täter ist ([2], S. 74). Es geht vor allem um die: „Aufdeckung der Wahrheit“, „Reinigung der Welt“, „Rettung des bedrohten Göttlichen“ sowie der Darstellung der „Gebrechlichkeit von Menschengrößen und Menschenglück“ ([2], S. 74 f.). „Als die Tragödie von der Gebrechlichkeit von Größe und Glück“, so sagt Schadewaldt, steht der sophokleische König Ödipus „unter dem Gebot des Apollon [4]: γνῶθι σεαυτόν“ (gnothi seauton), „d. h.: Erkenne Dich … als Menschen“ ([2], S. 76).

Damit sind wir wieder bei Ödipus als Individuum angelangt und der Frage nach seiner Verantwortlichkeit für den Vatermord und dafür, dass er seine Mutter zur Frau genommen hat.

Der Weg zur Wahrheit über sich selbst ist aber auch der Weg zu seiner eigenen Vernichtung ([2], S. 92). Den Weg geht er rücksichtslos gegenüber anderen und vor allem gegen sich selbst. Der Weg ist schmerzlich für ihn. Er duckt sich aber nicht weg, im Gegenteil, er fordert alle an der Aufklärung Beteiligten, sogar unter Androhung von Strafen ([3], S. 53) und Gewalt ([26], S. 225), auf, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Ein Vorgang, bei dem man fast den Eindruck bekommt, er quäle sich selbst dabei.

Die seelische Selbstqual gipfelt in der Selbstverstümmelung. Ödipus blendet sich und „bettelt“ um die Verbannung ([26], S. 219).

Er ist sich am Ende des Stückes seiner Schuld wohl bewusst. Ist er aber wegen seines Schicksals auch selbst voll verantwortlich dafür, was er tat, oder sind es die Götter bzw. das Schicksal, die ihm seinen Weg vorgezeichnet haben?

Vellacot [9] macht in seinen Ausführungen über die Schuld des Ödipus („The Guilt of Oedipus“) auf ein Detail in der Geschichte aufmerksam, welches Sophokles in seinem „König Ödipus“ im Vergleich zu anderen Versionen des Stückes zusätzlich eingefügt habe. Es handelt sich um die Szene, als bei Ödipus Zweifel an seiner Herkunft durch die Bemerkung eines Zechkumpans geschürt wurden ([9], S. 139). Danach suchte Ödipus das Orakel in Delphi auf, wo er verkündet bekam, dass er seine Mutter heiraten und seinen Vater töten würde. Der Zweifel daran, dass Polybos und Merope seine richtigen Eltern waren, verstärkte die Gefahr zusätzlich, die sich aus dem Orakelspruch ergab. Ab jetzt wusste er, dass er irgendwo in Griechenland seinem richtigen Vater bzw. seiner leiblichen Mutter begegnen würde ([9], S. 140).

Ödipus hätte den logischen Schluss daraus ziehen müssen, es zu vermeiden, einen älteren Mann zu töten oder eine ältere Frau zu ehelichen ([9], S. 140). Vellacot folgert aus seiner Analyse des Stückes und des Protagonisten, dass Sophokles den Ödipus eher so darstellte, dass der sich seiner Schuld bewusst war [9].

In dem Moment, als Ödipus den Mann und seine Begleiter am Dreiweg getötet hatte und er vielleicht auch eine Ähnlichkeit des Toten mit sich selbst erkannt hatte, musste er sich dessen bewusst gewesen sein, dass es sein Vater war, den er getötet hatte ([9], S. 143). Immerhin wissen wir von Iokaste, dass er seinem Vater ähnlich sah: „Im Aussehen stand er deinem nicht sehr fern“ ([2], S. 39). Und in dem Moment, als er sich freiwillig meldete, die Sphinx aufzusuchen, musste er damit rechnen, dass, wenn er ihr Rätsel löste, er seine Mutter als Preis zur Gemahlin bekommen und ehelichen würde ([9], S. 143).

Wenn man den Interpretationen Vallacots [9] folgt und sie weiterentwickelt, erscheint Ödipus als eine Person mit z. T. ungewöhnlichen, brutalen, ja kriminellen Charakterzügen. Vielleicht hatten ihn der Zweifel an seiner Herkunft zusammen mit dem Orakelspruch zu stark verwirrt und belastet. Möglicherweise kamen aber Gedanken bei ihm auf, welche ihn an seine Verstümmelung der Füße und der Leiden daraus erinnerten. Und wenn es wahr wäre, dass Polybos und Merope nicht seine leiblichen Eltern waren, wer war es dann? Warum hatte er nichts über sie erfahren? War er ein verstoßenes Kind, das nicht erwünscht war? Ist er überhaupt der Sohn eines Königs?

Könnte man in Ödipus also einen Menschen sehen, der unter einer starken psychischen Belastung stand? Und könnte sich bei ihm eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) eingestellt haben, die, wie wir heute wissen, als Folge einer Misshandlung in der Kindheit entstehen kann [27] [28]? Je früher eine Misshandlung erfolgt, desto schwerer scheinen sich Folgeerkrankungen ausprägen zu können [27].

Bei Ödipus erfolgte die Misshandlung durch nahestehende Verwandte, nämlich seinen Vater Laios und seine Mutter Iokaste. Misshandlungen erfolgen häufiger durch Familienangehörige als durch Fremde, sodass sich die Betroffenen von ihren Betreuern als „betrogen und hintergangen“ fühlen und ihr ganzes Leben lang unter einem starken psychischen Druck stehen können [27] [29]. Adams et al. konnten in einer Studie mit 16–24-jährigen Erwachsenen (im Durchschnitt 19,68 Jahre) einen deutlichen Einfluss auf die Entwicklung einzig einer PTBS zeigen, wenn die physische Misshandlung in der frühen Kindheit, also im Zeitraum zwischen Geburt und dem Alter von 6 Jahren, erfolgte [27].

Ödipus war mit 18 Jahren [9] just in diesem Alter, als er in Theben auftrat und die Stadt von der Sphinx befreite, nachdem er Laios erschlagen hatte.

Vallacot sieht Ödipus bei der Tötung des Laios als einen Mann, der höchst unkontrolliert („his blood is boiling“ ([9], S. 140) reagiert, weil er hätte wissen müssen, dass er keinen älteren Mann töten dürfe. Ödipus sagt selbst, dass er in Zorn geraten war, als er den Wagenlenker der Truppe schlug. Und nachdem Laios ihn wiederum mit dem „Doppelstachel“ auf den Kopf geschlagen hatte, habe er erst Laios und dann alle anderen Begleiter erschlagen, ([3], S. 38 f.). Schneidewin sieht das „aus poetischer Rücksicht geboten und … nach alter Heroenart“ als „natürlich“ an, dass die Mitstreiter des Laios von Ödipus erschlagen wurden ([10], S. 199). Allerdings könnte man in der Reaktion des Ödipus auch ein Verhalten sehen, wo er die Kontrolle über sich und die Situation verloren hatte, zumal einer der Weggefährten des Laios entkommen konnte, ohne dass Ödipus dies bemerkte.

Folgt man den Ergebnissen der Studie von Adams et al. [27], liegt der Schluss durchaus nahe, dass Ödipus die Voraussetzungen dafür mitbrachte, als junger Erwachsener an einer PTBS zu leiden, nachdem er in seiner frühen Kindheit eine schwere Misshandlung durchgemacht hatte und im weiteren Verlauf seines Lebens damit konfrontiert war. Er beging seine Taten also womöglich im Rahmen einer starken psychischen Belastung, deren Verursachung bei den Personen zu suchen ist, denen er schadete, seinem Vater und seiner Mutter. In der Kindheit traumatisierte Jugendliche können gegenüber ihren Eltern durchaus aggressiv auftreten, wenn sie von ihnen misshandelt wurden [28] [30].

Maercker und Augsburger berichten, dass im Rahmen einer PTBS und erhöhter Aggressionsbereitschaft Opfer zu Tätern werden können. Und wenn die Traumatisierung in der Kindheit erfolgte, die Opfer auch zu Gewalttätern werden können [31]. Die Autoren sprechen dann von einem „Zyklus der Gewalt“ ([31], S. 24).

Eine Misshandlung in der Kindheit gehört immerhin zu den 4 „pathogensten Traumata“ ([31], S. 26), die mit einer PTBS einhergehen, und sie kann als Typ-I-Trauma traumatischer Ereignisse eingeteilt werden, wenn das Trauma einmalig bzw. kurzfristig war und von anderen Personen („man made“) verursacht wurde ([31], S. 16).

Der Verlauf einer PTBS ist individuell und schwer vorherzusehen, wobei es zu Spontanremissionen kommen kann, aber auch zu „Auf- und Ab-Verläufen über mehrere Jahrzehnte“ ([31], S. 26). Selten ist eine verzögerte Form einer PTBS nach längeren symptomfreien Zeiträumen bis zu Jahrzehnten ([31], S. 27; [31]) und die Symptome der PTBS können sich nach „kritischen Ereignissen oder Rollenwechseln in der Biografie“ verstärken ([31], S. 27). Zu den Aufrechterhaltungsfaktoren einer PTBS gehören posttraumatische Belastungsfaktoren wie z. B. Probleme im familiären Umfeld ([31], S. 29). Auch Schuldgefühle können eine große Rolle dabei spielen ([31], S. 29). In der Geschichte des Ödipus finden wir einige Stellen, wo solche Faktoren auf den Protagonisten einwirken konnten.

Nach Schellong et al. [33] können sich Kriterien einer PTBS mit denen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung überschneiden [33]. Bekannt ist, dass Traumatisierungen in der frühen Kindheit häufig auch zu Borderline-Störungen führen können. Da aber keine Kausalität zwischen beiden bestünde, sollte bei Vorliegen von Kriterien einer Borderline-Störung von einer Komorbidität gesprochen werden [33]. Ödipus zeigt Verhaltensweisen auf, die man in den Bereich der Borderline-Störungen verorten kann. Selbstbestrafung und Selbstverstümmelung sind diagnostische Kriterien für das Vorliegen einer Borderline-Störung [34]. Am Ende des Stückes bestraft er sich selbst durch Blendung, passend zu einer Gesichtsverstümmelung, welche im attischen Strafrecht bei Sexualverbrechen angewendet wurde ([3], S. 82). Blendung und Sterilisation sind aus mythischer Sicht gleichwertige Strafen, da die Augen mit den Genitalien in enger Verbindung stehen [11].

Auch der Chor im Stück des Sophokles identifizierte bei Ödipus eine starke geistige Verwirrung [11], die, nachdem dieser sich geblendet hatte, in den Worten Ausdruck findet: „Welcher Wahnsinn kam, o Armer, dich an? Welcher Dämon sprang mit größerem als dem weitesten Sprung auf dein unseliges Leben?“ ([2], S. 62). Und schon als Ödipus seinen Vater getötet hatte, ergänzt Kerenyi das Bild des „von Zorn Besessenen“ mit einem Hinweis bei Aischylos, wonach er in den Leib des Getöteten gebissen und sein Blut ausgespuckt hätte ([8], S. 82).

Leider sind wir nicht in der Lage, ein „strukturiertes klinisches Interview“ mit der Person „Ödipus“ zu führen, um seine Persönlichkeitsstruktur genauer zu eruieren, um, wie es eigentlich eingefordert wird, die Diagnose einer PTBS ([33], S. 132), bzw. einer Borderline-Störung zu sichern. Nachdem es sich aber hier um eine protagonistische Figur handelt, deren Tun analysiert wird, kann es als gerechtfertigt angesehen werde, dass einige klinische Diagnosen eher weit gefasst herausgearbeitet werden, um so dem Kern der Erzählung in einem Bühnenstück und dem des Protagonisten möglichst nahe zu kommen.

Es spricht einiges dafür, dass in Ödipus eine Figur zu sehen ist, die, nachdem sie in der Kindheit misshandelt wurde, im weiteren Verlauf eine psychische Störung im Sinne einer PTBS entwickelte. Nachdem diese „Diagnose bereits Aussagen zur Kausalität impliziert“ ([35], S. 288), hat das erlittene Trauma eine zentrale Bedeutung auch aus rechtlicher Sicht [35]. Eine genauere forensische Beurteilung aus heutiger Sicht könnte sich also mit der Frage befassen, ob hier eine verminderte oder gar aufgehobene Schuldfähigkeit im Sinne der §§ 20 und 21 Strafgesetzbuch [35] [36] vorliegen könnte. Dann wäre auch zu prüfen, ob der Fall heutzutage dem Maßregelvollzug unterstellt werden würde. Chevalier [36] berichtet passend dazu, dass bei Patienten im Maßregelvollzug gehäuft eine kindliche Traumatisierung gefunden werden konnte ([36], S. 114).


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Schlussbetrachtung

Die Analyse des Namens, sowie der Geschichte des Ödipus, führten uns zu einer neuartigen Deutung der Figur „Ödipus“. Sie basiert auf heutigem medizinischen Wissen sowie den Zusammenhängen, die sich daraus herleiten lassen. Ob die vorliegende eine bessere ist als vorangegangene Deutungen, mag der geneigte Leser entscheiden. Eine neue Lesart des Mythos vorlegen zu können, bestätigt seine Zeitlosigkeit aufs Neue.

Es erfolgte eine epikritische Betrachtung des Ödipus im medizinischen Sinne mit einer stärkeren Bewertung der Misshandlungen in seiner Kindheit und den möglichen Folgen daraus, als das bisher geschehen ist.

Methodisch bietet es sich also weiter an, die Leiden des Ödipus in Diagnosen unter Verwendung der ICD-Klassifikation zu objektivieren [37]. Einige der Diagnosen sind möglicherweise nicht ganz wasserfest. Aber andere treffen mit Sicherheit zu, z. B. die Blindheit (ICD: H54.0) nach der Selbstverstümmelung (ICD: X84.9) durch Blendung mit einem Fremdkörper (ICD S05.5B) oder auch die Perforation beider Füße (ICD: S99.7B) als Ausdruck einer schweren Kindesmisshandlung (ICD: T74.1), bei der die Füße mit Fremdkörpern durchbohrt wurden (ICD: M79.57). Die Suche nach der Identifikation passender Diagnosen führte uns auf die Spur, dass eine PTBS (ICD: F43.1) sowie eine Borderline-Persönlichkeitsstörung (ICD: F60.31) vorliegen könnten, sodass uns die Schwere der Vergehen des Ödipus heute in einem anderen Licht erscheinen mag, als wir es bisher gewohnt waren. Die Taten des Ödipus werden in diesem Bild durch seine Person gerechtfertigt und nicht mehr nur durch den Einfluss der Götter bzw. des Schicksals (nach: [38], S. 414).

Eugene O’Neill, der amerikanische Dramatiker und Literaturnobelpreisträger, fand in der griechischen Mythologie und Tragödiendichtung Stoff für seine Dramentrilogie „Trauer muss Elektra tragen“, die in der Zeit des Sezessionskrieges spielt. Der Schicksalsbegriff bekommt bei O’Neill eine neue Deutung. Köhler [39] führt zu Orin, einem der Protagonisten des Stückes, aus: „Die antiken Furien sind internalisiert, als ihre modernen Entsprechungen erscheinen die Neurosen.“ ([39], S. 81). Überhaupt wird eine „unmittelbare Beeinflussung der Werke [Anm.: O’Neills;] durch die Psychoanalyse“ ([39], S. 28) diskutiert, was O’Neill jedoch beharrlich zurückwies ([39], S. 28). Gleichzeitig aber hätte er es durchaus gerechtfertigt, dass Dramen entgegen dem „theoretisch vorformulierten Autorenstandpunkt“ gedeutet werden ([39], S. 30).

Strindberg, Ibsen und Nietzsche zählte O’Neill selbst zu den literarischen und philosophischen Einflüssen, die ihn geprägt haben ([39], S. 29). Er blickte also von einem modernen Standpunkt aus auf einen antiken Stoff in einem Stück, welches 1931 in New York uraufgeführt wurde.

O’Neill setzte sich in seinem Werk kritisch mit der „göttlichen Daseinsmacht“ auseinander und er versuchte „den Menschen durch sich selbst zu rechtfertigen“ ([38], S. 414). Er versuchte also, griechische Mythologie und die Tragik, die ihr innewohnt, mit moderner Weltanschauung und aktuellem Wissen zu erweitern. Auch bei der hier vorgelegten Interpretation des „Ödipus“ wurden moderne Erkenntnisse herangezogen. Nur tritt jetzt an die Stelle der Götter und schicksalhafter Entwicklungen bzw. der pervertierten Selbstverwirklichungsstrategien der Charaktere [39] und einer eher psychoanalytischen Sichtweise [11] die Logik pathologischer Zusammenhänge, wie sie uns die aktuelle medizinische Forschung liefert, wenn es sich um eine in der Kindheit traumatisierte Person handelt[5].

Allerdings kann man das Schicksal auch nicht ganz ausklammern, denn schicksalhaft war für Ödipus, dass er als Neugeborener von seinen Eltern misshandelt wurde. Die Folgen seines Schicksals waren für den Betroffenen trotzdem desaströs, aber mit heutiger Sicht auf Epikrisen von Misshandlungsopfern nicht unbedingt ungewöhnlich bzw. auszuschließen.

Die hier dargestellte Betrachtung des Heroen aus der Antike entfernt sich ein Stück weit vom „König Ödipus“, wie er uns von Sophokles vorgestellt wurde ([2] [5] [26]). Die berühmte und anerkannte Tragödie nutzt klassische Sinnelemente wie z. B. die Hamartia (ἁμαρτία – Irrtum, Verfehlung ([6], S. 39; [26]), welche in dieser Untersuchung in den Hintergrund treten, insofern sie auch keine philologische Interpretation der Tragödie des Sophokles sein kann. Dennoch nimmt das Bühnenstück einen zentralen Platz bei der Beschreibung der mythischen Gestalt des „Ödipus“ ein, zumal es als Enthüllungsdrama wichtige Hinweise zum Lebensverlauf des Ödipus sowie dem Umgang mit seinem Umfeld liefert.

Der Mythos und die Geschichte des Ödipus besitzen also eine weitere, bisher unvorhergesehene „Lebenswirklichkeit“, welche die Wirkung des frühgriechischen Mythos bis in die heutige Zeit bestätigt ([7], S. 5), weil sich offensichtlich damals beschriebene Verhaltensmuster mit heutigen wissenschaftlichen Mitteln rückwirkend erklären lassen.


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Danksagung

Ich möchte mich bei meinen Griechisch-Lehrern bedanken, die uns Schülern die Welt, das Denken und die Tragweite der griechischen Kultur vermittelt haben, was mir beim Verfassen des Textes sehr geholfen hat. Ich bedanke mich bei Herrn Dr. Volker Wurnig für seine Unterstützung bei der Herleitung der Namen der Vorfahren des Ödipus aus dem Griechischen, Herrn Prof. Dr. Hans Zwipp für seine redaktionellen Hinweise, Herrn Prof. Dr. Udo Obertacke für seine Unterstützung zur Publikation sowie Frau Renate Clüver für die Unterstützung bei der Abfassung des Abstracts in englischer Sprache und das Redigieren des Manuskriptes.

1 Der Terminus „Ödem“ leitet sich daraus ab.


2 Der Spruch war am Eingang des Apollo Tempels in Delphi angebracht (Wikipedia „Delphi“; Stand: 26.05.2022).


3 Lesky berichtet, dass kein Zusammenhang zwischen dem Erleben des Ödipus und einer Schuld aufseiten seiner Vorfahren hergestellt werden konnte [26].


4 S. o. Fußnote Nr. 1


5 1980 wurde erstmals die posttraumatische Belastungsstörung als übergeordnete Diagnose ins DSM III (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) aufgenommen [40]



Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Markus L. R. Schwarz
Universitätsmedizin Mannheim, Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg, Experimentelle Orthopädie und Unfallchirurgie, Orthopädisch-Unfallchirurgisches Zentrum (OUZ)
Theodor-Kutzer-Ufer 1-3
68167 Mannheim
Germany   

Publication History

Article published online:
03 August 2022

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