Z Sex Forsch 2022; 35(03): 170-171
DOI: 10.1055/a-1882-2012
Bericht

Vom Mangel und dem Begehren nach Fülle

Bericht über das Symposion „Sexuelle Bildung – Quo vadis? Feministische und geschlechtertheoretische Perspektiven auf Sexualität und Subjektbildung“
Yannick Zengler
Institut für Pädagogik, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
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Die Organisatorinnen (Rita Casale, Anna Hartmann und Jeannette Windheuser) der Wuppertaler Tagung fühlten der gegenwärtigen sexualpädagogischen Theoriebildung auf den Zahn: Theoretische Verengungen, mangelnde Pluralität und eine unzureichende Reflexion aktueller Gesellschafts- und Geschlechterverhältnisse – so die kritische Bestandsaufnahme der in der Bildungsphilosophie und Geschlechterforschung verorteten Gastgeberinnen. Was fehlt also? Was kommt zu kurz? Anspruch der Tagung vom 5. bis 6. Mai 2022 war es, Debatten um diese Fragen anzustoßen.

Den Aufschlag machte Jeannette Windheuser (Humboldt-Universität zu Berlin) mit dem Vortrag „Bildungs- und Erziehungsvorstellungen in der Sexualpädagogik“, in dem sie sich in einer vergleichenden Perspektive mit historischen und gegenwärtigen sexualpädagogischen Konzepten auseinandersetzte. Welche pädagogischen Prämissen stehen hinter einem Verständnis von Sexualerziehung als „freundliches Begleiten“ (vgl. Sielert)? Welches Selbstverständnis legt ein Konzept von Sexueller Bildung nahe, bei dem Pädagog*innen in erster Linie Lernumgebungen gestalten sollen? Windheuser ging der Frage nach, inwiefern trotz einer begrifflichen Verschiebung von Sexualerziehung hin zum Konzept der Sexuellen Bildung spezifische pädagogische Annahmen fortbestehen. In Anschluss an die zeitgenössische Kritik Wolfgang Fischers an der nicht-repressiven Sexualerziehung Helmut Kentlers formulierte Windheuser die These, dass auch in der Sexuellen Bildung eine Lesart von Erziehung als eine zu überwindende Fremdbestimmung nahegelegt werde. Abgewehrt werde die Erfahrung von Differenz in der asymmetrischen pädagogischen Beziehung. Weiterhin scheine in beiden Konzepten die normative Annahme durch, dass Sexualität grundsätzlich zur Entfaltung verholfen werden solle. Der Vortrag schloss mit einer Diskussion ab, wie die Abkehr vom Erziehungsbegriff vor dem Hintergrund gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwicklungen zu verstehen sei. Die Frage, inwieweit die Perspektive der Sexuellen Bildung hilfreich sein kann, Erziehungsintentionen und überzogene Erwartungen an den Einfluss von pädagogischen Interventionen kritisch in den Blick zu nehmen, ging dabei leider unter.

Julia König (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) griff unter dem Titel „Überbetont und dethematisiert. Das Unbehagen an der Generationendifferenz in Diskursen über kindliche Sexualität“ das Thema des Generationenverhältnisses auf. Historisch betrachtet lasse sich eine wellenartige Bewegung von Auflösung und Reinstallation nachzeichnen. Aber auch in den aktuellen Debatten um Sexualerziehung identifizierte König eine „eigenartige Polarisierung des Sprechens“ zwischen Überbetonung des Unterschieds und Bewegungen, bei denen diese Differenz gleichermaßen auch wieder verwischt werde. Besonders interessant an Königs Analyse war, dass sie dabei nicht nur rechte Akteur*innen wie die sogenannten „besorgten Eltern“ in den Blick nahm, sondern auch nach Ambivalenzen und Widersprüchen bei progressiven Akteur*innen suchte.

Neil Cocks (University of Reading) nahm die von König vorgestellten Lesarten zu einem Protest „besorgter Eltern“ als Ausgangspunkt, um sich in seinem Beitrag „Sex Education, ‚Wild Analysis‘ and the Constitutive Third“ der Analyse einer Sequenz aus der Netflix-Serie „Sex Education“ zuzuwenden. Cocks Lesarten kreisten um die Fragen, wie mit der Perspektive der Betrachter*innen umgegangen wird bzw. wann und aus welchem Blickwinkel ein Genital verdeckt und gezeigt wird. An diese Überlegungen schloss Cocks Gedanken zu der realen Sexualaufklärung an: Wie wird dort versucht, das Unverfügbare in den Blick zu nehmen?

Meike Sophia Baader (Universität Hildesheim) präsentierte in ihrem Vortrag „Blinde Flecken und problematische Verhältnisse. Sexualität und Pädagogik von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart“ Ergebnisse ihrer historischen Forschungen. Sie zeigte auf, wie die Thematisierung von Gewalt, Macht, Geschlecht und Sexualität innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Fachdiskurse wellenartig verlief. Dabei ging sie insbesondere auf die Leerstellen innerhalb des sexualpädagogischen Befreiungsdiskurses der 1970er-Jahre ein, die bestimmte Akteur*innen zur Legitimation von sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen nutzen konnten. Dies sei innerhalb des Fachdiskurses lange Zeit unwidersprochen geblieben. Erst im Zuge der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle an Institutionen wie der Odenwaldschule sei sexualisierte Gewalt wieder ein zentrales Thema innerhalb der Erziehungswissenschaft geworden. Auch darin zeige sich, dass die (De-)Thematisierung von sexualisierter Gewalt stark vergeschlechtlicht sei, da hier erstmals Jungen als Betroffene ins Bewusstsein der breiteren Öffentlichkeit gelangten. Nach dem Vortrag wurde intensiv diskutiert, inwieweit Geschlecht mitunter aus strategischen Gründen nicht thematisiert werde, um Präventionsbemühungen weiterhin in der Aufmerksamkeit halten zu können.

Zurück zu den Leerstellen in den gegenwärtigen Konzeptionen Sexueller Bildung und ersten alternativen Entwürfen: Die Grundlage dafür legte Tove Soiland (Universität Zürich) mit ihrem Vortrag „Was ist Geschlecht? Die Sicht der Psychoanalyse und ihre feministische Adaption“. Darin brachte Soiland das lacanianische Verständnis von Sexualität gegen einen simplifizierten Begriff in Stellung, der Sexualität einerseits relativ unabhängig von Geschlecht denke und andererseits als etwas begreife, das befreit oder gar „demokratisch“ an alle verteilt werden könnte. Im psychoanalytischen Verständnis beziehe sich Sexualität jedoch konstitutiv auf Geschlecht. Sexualität sei etwas, das um etwas Verlorenes kreise, was aber nie gehabt wurde, und demnach kein Bedürfnis, das einfach befriedigt oder gänzlich in Wohlbefinden aufgelöst werden könne. Ein solches Sexualitätsverständnis mache jede Form von Selbstidentität oder eines „ganzheitlichen“ Menschenbildes undenkbar. Das Subjekt verfüge nicht über Sexualität, es werde allenfalls von dieser heimgesucht – so Soiland im Widerspruch zu einem affirmativem und von Geschlecht losgelöstem Sexualitätsbegriff. Daher greife auch eine Sexualpädagogik, die bei ihrer Auseinandersetzung mit Geschlecht bei einer oberflächlichen Kritik an normativen Geschlechtszuschreibungen verbleibe oder sich lediglich der Vervielfältigung von geschlechtlichen Identitäten verschrieben habe, zu kurz.

Rita Casale (Bergische Universität Wuppertal) dachte über die Universität als Ort der Sexuellen Bildung nach. Unter dem Titel „Der Vorrang des Ichs: Der Narzissmus als Unmöglichkeit einer erotischen Beziehung“ entwickelte sie unter Verwendung von Figuren wie des „pädagogischen Eros“ ein recht provokantes Verständnis von Sexueller Bildung, deren ausschließliches Ziel in der Befähigung zur erotischen Beziehung zu liegen habe. Es gehe dabei darum, sich in ein Verhältnis zu einem nie restlos erfüllbaren Begehren setzen zu können. Sexuelle Bildung vollziehe sich nicht ausschließlich im Medium der Sexualaufklärung, sondern ebenfalls in bestimmten Formen von pädagogischen Beziehungen, die zum Eingehen erotischer Beziehungen im weiteren Sinne befähigen. Folglich könne die Universität nicht nur ein Ort des Sprechens über Sexuelle Bildung sein, sondern potenziell auch ein Ort, an dem sich Sexuelle Bildung über eine bestimmte Form der Beziehungsgestaltung zwischen Lernenden und Lehrenden vollziehe. Dabei unterstrich Casale, dass sie diese Beziehungen nicht als sexualisierte Erfahrungen zwischen Professor*innen und Studierenden missverstanden haben will, sondern als intellektuelle Begegnungen begreift, die von emotionaler Nähe getragen werden und die ausschließlich im Medium der Wissenschaft stattfinden. Akademische Beziehungen seien im Idealfall also insofern erotische Beziehungen, als sie von dem nie stillbaren Begehren nach der Fülle des Wissens getragen werden. Letztendlich lenkte Casale den Blick auf die Voraussetzungen, die es brauche, um an der Universität Beziehungen gestalten zu können, die im Medium der Wissenschaft vom „Dämon des Eros“ getragen werden. Demgegenüber problematisierte sie die Transformation der Universität zur „Lieferantin von berufsautorisierenden Zertifikaten“ und die Kommerzialisierung der Dozierenden-Studierenden-Beziehung zu einem „Dienst-Leistungs-Verhältnis“.

Anna Hartmann (Bergische Universität Wuppertal) bezog ihre Überlegungen auf den Kontext der Lehrer*innenbildung. Sie wendete sich in ihrem Beitrag „Das Sexuelle der sexuellen Bildung“ ebenso gegen ein verkürztes Verständnis von Sexueller Bildung, welches vorrangig um Fragen der Identität oder der Unterstützung von möglichst selbstbestimmten und glücksversprechenden Sexualkontakten kreise. Demgegenüber stellte sie ein psychoanalytisches Verständnis von Subjekt und Sexualität, das das Subjekt als ein „gespaltenes Subjekt des Begehrens“ denkt, dessen unstillbares Begehren in einem konstitutiven Mangel gründe. Deshalb seien in pädagogischen Beziehungen die Beteiligten notwendigerweise als begehrende Subjekte mit ihren Übertragungen involviert. Für das Gelingen von Bildungsprozessen sei es essenziell, dass Lehrkräfte bei der Wissensvermittlung zu einem produktiven Übertragungsgeschehen einladen, indem in ihrer Rede ein „Überschuss an Wissen“ (vgl. Lühmann) erahnbar werde, an das sich das Begehren der Schüler*innen anheften könne. In der gelungenen Übertragung werde vonseiten der Lernenden unterstellt, dass die Lehrkraft über ein ersehntes „Füllewissen“ verfüge. Dabei kämen auch Affekte von Verliebtheit ins Spiel. Vor diesem Hintergrund brauche es für die sexuelle Lehrer*innenbildung die Befähigung, einerseits aktuelle sexualpädagogische Fragen und Phänomene gesellschaftstheoretisch einordnen zu können sowie andererseits die eigene Eingebundenheit in affektive Übertragungsprozesse reflektieren zu können. Somit grenzte sich Hartmann von Auffassungen ab, die Übertragungen in (sexuellen) Bildungssettings ausschließlich als zu vermeidende Störfaktoren begreifen, und plädierte abschließend für eine (Re-)Integration von psychoanalytischen Elementen in die Lehrer*innenbildung.

Der philosophische Beitrag „Sexed Existence. The Sexistential Vulnerability of Bodies-in-Contact“ von Francesca Romana Recchia Luciani (Aldo-Moro-Universität Bari) rundete das Symposion ab. Er stellte eine mit persönlichen Anekdoten angereicherte Hommage an Jean-Luc Nancy und dessen Werk über die Bedeutung von Körper, Berührung, Sexualität und Vulnerabilität für das menschliche Sein dar.

Insgesamt bot die Tagung viele verschiedene Perspektiven, um über die Grundlagen Sexueller Bildung nachzudenken. Reizvoll und auch herausfordernd für einen Sexualpädagogen wie mich, der wesentlich durch die (neo-)emanzipatorische Sexualpädagogik geprägt wurde, waren die kritischen Einwürfe gegenüber affirmativen Tendenzen in der gegenwärtigen sexualpädagogischen Theoriebildung. Bedauerlicherweise führten die vorgebrachten Kritiken zu wenig Kontroversen im Publikum. Zu wünschen wäre, dass die Impulse der Tagung zu einem produktiven Diskurs innerhalb der sexualpädagogischen Zunft führen. Wie Sexuelle Bildung bei den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen weiter oder gar neu gedacht werden muss, ist in jedem Fall eine lohnenswerte Debatte.



Publication History

Article published online:
06 September 2022

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