Z Sex Forsch 2022; 35(03): 176-179
DOI: 10.1055/a-1912-7039
Buchbesprechungen

Sexuelle Bildung aus christlicher Perspektive. Für Erziehung, Pädagogik und Gemeindepraxis

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Holger Dörnemann und Stephan Leimgruber. Sexuelle Bildung aus christlicher Perspektive. Für Erziehung, Pädagogik und Gemeindepraxis. Paderborn: Bonifatius 2022. 272 Seiten, EUR 34,00

Das Buch schreibt die „Christliche Sexualpädagogik“ fort, die Stephan Leimgruber bereits 2011 mit dem Untertitel „Eine emanzipatorische Neuorientierung. Für Schule, Jugendarbeit und Beratung“ im Kösel Verlag veröffentlicht hat. Ob damit – wie es in der Einleitung heißt – „theologisches Neuland für die praktische Theologie insgesamt erschlossen“ wurde, sei dahingestellt, da der ehemals katholische Theologieprofessor und 1988 wegen Heirat vom Priesteramt suspendierte Wolfgang Bartholomäus bereits 1993 eine sexualwissenschaftlich fundierte religionspädagogische Theorie christlicher Sexualethik und 2002 eine sexualpädagogische Erziehungstheorie vorgelegt hat. Bartholomäus sah sich auch von katholischer Tradition und Erziehung geprägt, beanspruchte jedoch, deren Geschichte und Doktrin zu überwinden. Leimgruber und Dörnemann dagegen versuchen, die Geschichte katholischer Sexualmoral weiterzuentwickeln und bleiben mit ihrem Werk innerhalb einer sich allerdings emanzipatorisch verstehenden Doktrin katholischer Religionspädagogik. Das bedeutet eine Stärke und eine Schwäche zugleich: Die Schwäche besteht in der manchmal etwas selektiven Öffnung hin zur aktuellen Sexualwissenschaft und Sexualpädagogik, ihre Stärke in der direkten Anschlussfähigkeit an die innerkirchlichen Auseinandersetzungen um die Rolle der Frauen, das Priesteramt und die Sexualmoral sowie einer inzwischen offenbar dominanten akademisch-katholischen Theologie.

Inhaltlich ist das Buch folgendermaßen aufgebaut: Die Einleitung (Kapitel 1) enthält Anlässe und die Motivation der Autoren für ein christlich-katholisches Konzept sexueller Bildung. Kapitel 2 grundiert das Bildungskonzept durch Hinweise auf die anthropologische Basis von Sexualität und einige entwicklungsspezifische Bildungsaufgaben entlang des Lebenslaufs. Mithilfe kritisch-hermeneutischer Bibelauslegung wird das christliche Menschenbild in Kapitel 3 mit seinen Wesenszügen skizziert und unter Berücksichtigung der historischen Besonderheiten biblischer Lebenswelt auf Liebe und Sexualität bezogen. Kapitel 4 referiert in Schlaglichtern, wie sich in 2000-jähriger Kirchengeschichte die zum Teil heute noch geltenden Doktrinen in Auseinandersetzung mit wechselnden Lehrautoritäten in institutionellen Reformschritten herausgebildet haben. Die „systematischen Überlegungen zur Sexualität in christlicher Perspektive“ (Kapitel 5) münden in ein Kompetenzmodell sexualpädagogischer Bildungsaufgaben und die beiden praxisbezogenen Kapitel 7 und Kapitel 8 enthalten die Konsequenzen für religionspädagogische Aufgaben in der Schule und verschiedene innerkirchliche Maßnahmen für die „Sexuelle Bildung mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen“. Am Schluss werden in Kapitel 9 die wesentlichen Handlungsoptionen christlicher sexueller Bildung kurz und pointiert zusammengestellt.

„Eine christliche Pädagogik“ – so schreiben die Autoren eingangs – „bringt Förderung und Schutz von Identität und Personwürde, Verantwortung für sich selbst und füreinander sowie die Verbindung von Liebe und Sexualität in den gesellschaftlichen Diskurs ein“ (S. 12). Das Buch ist damit eine Bereicherung im Spektrum der sexualpädagogischen Handlungstheorien, die berechtigterweise (auch) auf unterschiedlicher weltanschaulicher Basis entfaltet werden können. Es ist eine Orientierungshilfe für alle pädagogischen Fachkräfte in katholischen Handlungsfeldern des Erziehungs- und Bildungswesens und eine Herausforderung für die sexualethische und -pädagogische Diskussion mit anderen weltanschaulichen Konzepten. Im Folgenden sollen diese Chancen der Monografie inhaltlich genauer skizziert werden.

Selbstbewusst weisen die Autoren auf christlich-abendländische Wurzeln des modernen Verständnisses von menschlicher Würde hin, das aus der proklamierten Gottesebenbildlichkeit aller Menschen resultiere und die Sexualität selbstverständlich mit einbeziehe. In dem damit transzendental begründeten Menschenbild mit der positiven Würdigung personaler Identität sowie Freiheit und Gleichberechtigung werden – und das durchaus im Einvernehmen mit der Ideengeschichte des Bildungsbegriffs – wesentliche „Quellen des okzidentalen Individualismus“ (S. 261) gesehen. Dass die kirchliche Lehre im Laufe ihrer Geschichte mit dieser Wurzel des Menschenrechtsgedankens nicht immer menschendienlich umgegangen ist und dessen humanistische Weiterentwicklung zur Zeit der Aufklärung weitgehend ignoriert hat, wird ausführlich eingeräumt und bedauert (S. 75 ff.).

Die Autoren messen jedenfalls die unterschiedlichen Entwicklungsstadien der kirchenamtlichen Verlautbarungen und religionspädagogischen Praxis an einer „historisch-kritischen Bibelauslegung, die die Texte der Bibel aus ihren spezifischen Kontexten zu erschließen sucht“ (S. 54). Dazu gehört auch die stärkere Betonung der jesuanischen Gesetzeskritik und Barmherzigkeitsethik gegenüber der paulinischen Dogmatik bspw. zur Homosexualität (S. 67). Im Gegensatz zu dieser wird eine – „biblisch und schöpfungstheologisch begründete – wertschätzende Haltung gegenüber einer Vielfalt von Lebensentwürfen und verschiedensten sexuellen Orientierungen“ (S. 13) eingenommen. Die Autoren orientieren ihre Position an den vier Sinnaspekten von Sexualität (Fruchtbarkeit, Lust, Beziehung, Identität) und ergänzen sie um eine fünfte Dimension, die Transzendenzfunktion. Leider greifen sie dabei nicht auf den von Bartholomäus 1993 ausgeführten „ekstatischen Aspekt der geschlechtlichen Liebe“ zurück, was eine stärkere inhaltliche Füllung der Transzendenzfunktion von Sexualität ermöglicht hätte. Als zentrales Merkmal christlicher Ethik im Umgang mit Sexualität wird die Integration aller Sinnfunktionen von Sexualität in ein ganzheitlich-personales Verständnis von Liebe herausgestellt: „Die neutestamentliche Magna Charta der Liebe“ (S. 68 ff).

Positiv gewürdigt und unterschiedlich ausführlich beschrieben wird auf diesem Hintergrund eine lebensaltersspezifische sexuelle Bildung mit entsprechend differenzierten Kompetenzen für die pädagogische Begleitung von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und älteren Menschen. Besonders hilfreich ist in diesem Zusammenhang die differenzierte Ausarbeitung des Beziehungsaspekts in die Richtung von Freundschaft (S. 129). Sexuelle Bildung im Alter wird etwas knapp behandelt (S. 50), obwohl gerade hier die Transzendenzdimension in Anlehnung an die Theorie der „Gerontotranszendenz“ nach Tornstam auch in Richtung einer religiösen sexuellen Bildung ausgearbeitet werden könnte.

Für den katholischen Leser*innenkreis des Buchs interessanter als für andere ist vermutlich der Abriss kircheninterner Dogmengeschichte, der – aus gegebenem Anlass der aktuellen Reformbemühungen – bis in die jüngste Gegenwart hinein reicht. Durchaus kritisch, aber mit hoffnungsvoller Ausrichtung auf den Erfolg der im synodalen Weg angestoßenen Reformen werden die Dialoge zwischen den Jugendorganisationen, dem synodalen Weg und der Bischofskonferenz nachgezeichnet.

Viel Nützliches für die Praxis des Religionsunterrichts und die außerschulische Gemeinde- und Jugendarbeit wird exemplarisch am Beispiel Bayerns zusammengestellt. Das schließt auch „Angebote für LSBTI*-Personen und -Paare“ mit weiterführenden Literaturhinweisen mit ein (S. 243). Sogar das heiße Thema Pornografie wird thematisiert mit einer leichten Öffnung der Didaktik zur medialen Pornografiekompetenz. Überhaupt wird für die vorsichtige Öffnung der Sexualpädagogik für Internetmedien geworben, da sie gerade für diskriminierte Identitäten Orientierung geben können und für Erwachsene eine wichtige Quelle der sexuellen Bildung sind (S. 259). Im Literaturverzeichnis werden viele solcher aktuellen Quellen angegeben.

Es folgen nun einige kritische Anmerkungen aus der Perspektive der Sexualpädagogik als erziehungswissenschaftlicher Disziplin. Mit den Kriterien kritisch-reflexiver Erziehungswissenschaft, die auch für die Sexualpädagogik als eine ihrer Teildisziplinen gelten, lassen sich der Gegenstandsbereich von Sexualerziehung und sexueller Bildung wie auch einzelne Handlungstheorien, wie das vorliegende christliche Konzept, durchleuchten. Zu diesen Kriterien gehört 1. dass die sexualpädagogische Metatheorie sich bemüht, das „akademisch Unbewusste“ bei sich selbst aufzuklären und „die eigenen wissenschaftlichen Waffen gegen sich selbst zu richten“ (wie Bourdieu 1993 formuliert); 2. das Bildungsziel sexueller Selbstbestimmung vor der impliziten oder expliziten Einflussnahme gegenläufiger gesellschaftlicher und kulturell-religiöser Interessen zu schützen; 3. durch Forschung und Theoriebildung gegebenes Denken und kulturelle Praxen immer wieder analytisch in Frage zu stellen, um der Konstruktion alternativer Konzepte Raum zu geben; 4. sich in der sexualerzieherischen Praxis zu bemühen, die ungewollten Nebenfolgen eines vielleicht gut gemeinten Erziehungshandelns kritisch zu durchleuchten.

Insbesondere kritische Anmerkungen zu einer religiösen Handlungstheorie bedürfen der Explikation des Standpunktes, von dem aus die Einschätzung der Aussagen zur sexuellen Bildung vorgenommen wird. Andernfalls könnte der Einwand erhoben werden, dass eine Kritik von außen an einem religionsimmanenten Aussagesystem zwangsläufig vorbeigehen muss. Ganz besonders auch deshalb, weil im Bereich der sexuellen Bildung die Gefahr besteht, in dualistischen Kategorien von Wissenschaft, Vernunft, Säkularität und Öffentlichkeit einerseits versus Religion, Glauben, Moral und Privatheit andererseits zu denken. Demgegenüber muss sich auch eine kritisch-reflexive Disziplin wie die Sexualpädagogik ihrer Wertbindungen, etwa ihres emanzipatorischen Erkenntnisinteresses auf der Basis der Menschenrechte, bewusst sein. Sie ist allerdings zugleich einem wissenschaftsimmanenten Wahrheitskriterium verpflichtet, mit dessen Hilfe spezifische Partikularkonzepte und Handlungstheorien kritisch bedacht werden können. Da die Autoren ausdrücklich betonen, ihr Konzept im interdisziplinären Gespräch mit u. a. der Sexualwissenschaft und Sexualpädagogik entwickelt zu haben (S. 13/260), sollen insbesondere die oben genannten Kriterien 2 bis 4 der Sexualpädagogik perspektivisch zur Anwendung kommen.

Wertgebundene Partikulartheorien bedienen sich in der Auseinandersetzung mit sexualwissenschaftlichem Wissen gern spezifischer Aussagen, mit denen die eigenen Botschaften untermauert werden, und übersehen oder interpretieren andere Wissensbestände als weniger bedeutsam. Auf diesem Hintergrund folgen einige kritische Anmerkungen.

Während im historischen Kapitel nur von „Schlaglichtern auf die Geschichte der Sexualpädagogik“ (S. 75) die Rede ist, wird die Entwicklung der normativen Basis katholischer Sexualerziehung relativ ausführlich wiedergegeben, was bezüglich der Ausrichtung des sexuellen Bildungskonzepts auch angemessen ist. Etwas grobschlächtiger verfahren die Autoren mit der 1968er-Befreiungsbewegung ohne Berücksichtigung sexualsoziologischer Einordnung. Immerhin gab es schon Vorläufer pädagogischer Sexualreformen in der Weimarer Republik, die sich allerdings nicht gegen die Macht der Kirche und des etablierten Bürgertums behaupten konnten. Die Beschreibung der „Kulturrevolution der 1968er-Generation und das Programm der sexuellen Befreiung“ bleibt insgesamt plakativ (S. 80 ff.). Allein der gängige Leitspruch make love, not war weist darauf hin, dass damals keineswegs alle Werte über Bord geworfen wurden. Im Gegenteil, die Liebe wurde als Ziel aller menschlichen Begegnungen geadelt und die Selbstbestimmung ernster genommen als zuvor. Trotz mancher Übertreibungen und Verfehlungen, die aus heutiger Sicht benannt werden müssen, sollte fairerweise positiv konstatiert werden, dass die gegenwärtige Diskussion um eine humane sexuelle Bildung und vor allem die Kritik an der kirchlichen und bürgerlichen Sexualmoral nicht ohne diese Politisierungs- und Liberalisierungsbewegung möglich geworden wäre. Ähnlich kurz und nicht ganz „auf der Höhe der Zeit“ werden die „Stellungnahmen der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD)“ (S. 88 ff.) zur Sexualethik und zur sexuellen Bildung referiert. Im Vordergrund steht dabei die offizielle Denkschrift aus dem Jahr 1971, die seit 2012 durch ein ausführliches Anhörungsverfahren und eine vom Rat der EKD eingesetzte Kommission völlig überarbeitet wurde. Nur das Veto einer kleinen evangelikalen Minderheit verhinderte durch die Androhung, die Vereinigung evangelischer Kirchen in Deutschland zu verlassen, die Verabschiedung der neuen Denkschrift zur Sexualethik im Rat der EKD. Die Essenz des neuen Textes, an dem ich als Experte mitgearbeitet habe, wurde jedoch von der Mehrheit der Kommission mit dem Titel „Unverschämt – schön. Sexualethik – evangelisch und lebensnah“ herausgegeben. Auch dieser Text stellt die Liebe in den Mittelpunkt christlicher Sexualethik, bindet sie jedoch nicht an spezifische Beziehungskonzepte. Kein Wunder also, dass in der evangelischen Kirche die „Ehe für alle“ und damit die Trauung homosexueller Paare inzwischen kein Problem mehr ist.

Ähnlich selektiv verfahren die Autoren mit einigen Themen der sexualwissenschaftlichen und -pädagogischen Forschung. Jugendliche sollen an ein selbstbestimmtes, wertorientiertes Handeln und an eine verantwortliche Lebensgestaltung herangeführt werden, allerdings erst mit „zunehmendem Alter“ auf „postkonventionellem Niveau“, wenn ethische Entscheidungen selbstreflexiv getroffen werden können (S. 23). Letzteres ist unbestreitbar, allerdings beginnt die Entfaltung von Selbstbestimmung schon wesentlich früher, indem auch schon Kindern ein intuitives Spürbewusstsein zugestanden wird, mit dem sie in einer möglichst anregungsreichen Umwelt das für sie je individuell Passende wählen können. Das auch Kinder schon sexuelle Wesen sind, also doing sexuality praktizieren, wird ausführlich zugestanden (S. 30 ff.), das doing gender wird jedoch weiterhin im Sinne des gesellschaftlich stark verankerten Geschlechterdualismus gefüllt: “Menschsein wird als Urgemeinschaft von Mann und Frau dargestellt“ (S. 56) – und an diesem Teil der Schöpfungsgeschichte wird auch sozialisationspraktisch weitgehend festgehalten. Das heißt, dass aktuelle Forschungen und didaktische Anregungen zur Begleitung von Menschen mit flexibleren Geschlechtsidentitäten noch wenig beachtet werden. Die Autoren schreiben viel zur Akzeptanz homosexueller Orientierung mit sexualwissenschaftlicher und theologischer Begründung. Auch die Transgenderidentität wird noch akzeptierend hervorgehoben (S. 150). Beides bleibt noch im Modus des Geschlechterdualismus. Andere sexuelle und geschlechtliche Varianten, wie etwa die Bi- oder Formen der Intersexualität, werden nur gestreift, queere Verhaltensweisen von Polysexualität oder Polyamorie bleiben unerwähnt. Obwohl die theologische Würdigung diverser sexueller Identitäten in Kapitel 3 angelegt ist, scheuen die Autoren offenbar noch, die Konsequenzen für ein variantenreiches sexuelles Leben zu formulieren (S. 118). Bei der Rezeption von Studien zur Jugendsexualität wird an jene Veröffentlichungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) angeknüpft, die überwiegend mit dem klassischen Geschlechterdualismus arbeiten. Zunehmend sind aber auch empirischen Studien vorhanden, die mit mehreren Geschlechtsidentitäten rechnen – (z. B. eine aktuelle Hildesheimer Studie zu „Normalitätskonstruktionen von Sexualität und Gewalt unter Jugendlichen“) und damit die Heterogenität geschlechtlicher Selbstdefinitionen abbilden.

Die Berichterstattung aus der empirischen Jugendforschung dient zunächst der Widerlegung des Vorurteils von der moralischen Verwahrlosung heutiger Jugendlicher und junger Erwachsener (S. 45 f.). Entsprechend wird aus BZgA-Jugendstudien von der Verlagerung der ersten sexuellen Erfahrungen nach hinten berichtet wie auch von der Beziehungsorientierung der sexualitätsbezogenen Wünsche einschließlich der entsprechenden Partner*innenorientiertheit des sexuellen Verhaltens Jugendlicher (S. 47). Gleichzeitig werden diese Aussagen zur Untermauerung der eigenen Liebes- und Beziehungsethik genutzt, obwohl das empirisch erfasste Verhalten wie auch der Wertekodex von Jugendlichen weitaus komplexer aussehen. In der schon erwähnten aktuellen Hildesheimer Studie wird ein differenzierteres Bild gezeichnet. Auch hier sehen die Jugendlichen „häufig“ in ihrer Umgebung, dass „Sexualität in festen Beziehungen ausgeübt wird“ und finden das auch „absolut o. k.“. Nur „selten bis manchmal“ wird sie aber nach ihren Beobachtungen „ausschließlich in einer lebenslangen Partnerschaft“ verortet, und die meisten finden auch diese Entscheidung immerhin „eher o. k.“. Am häufigsten wird angegeben, dass „Selbstbefriedigung Teil von Sexualität ist, und zwar unabhängig davon, ob eine Beziehung besteht oder nicht“ und nahezu alle finden das „absolut o. k.“. Sexuelle Handlungen erfolgen zwar „selten“ mit verschiedenen Personen aus demselben Freund*innenkreis, obwohl das durchschnittlich durchaus „teils/teils o. k.“ gefunden wird. Auch selten, aber etwas häufiger sogar wird angegeben, dass Sadomasochismus als Bestandteil von Sexualität gelebt und unter bestimmten Bedingungen als „teils/teils o.k.“ eingeschätzt wird. Gerade dieses letzte Statement kennzeichnet die generelle Haltung heutiger Jugendlicher zur Sexualität: Nicht so entscheidend ist, wer was mit wem wann und wo tut, sondern dass alles, was getan wird, einvernehmlich geschieht. „Absolut nicht o. k.“ finden Jugendliche heute nämlich jedes Handeln gegen den Willen des Gegenübers, ob analog oder digital (siehe Lips et al. (2020): Datenhandbuch zur Online-Befragung im Verbundprojekt „SchutzNorm – Schutzkonzepte in der Kinder- und Jugendarbeit. Normalitätskonstruktionen von Sexualität und Gewalt unter Jugendlichen“). Jugendliche schätzen also sehr wohl die Beziehungsdimension von Sexualität, aber noch wesentlich wichtiger wird der Wert der Einvernehmlichkeit hervorgehoben – genau das, was in der Sexualwissenschaft schon seit längerem mit „Verhandlungsmoral“ bezeichnet wird.

Der Liebes-Zentrismus als zentraler Wert einer christlichen Sexualethik, der allen anderen Dimensionen von Sexualität übergeordnet wird, neigt in der vorliegenden katholischen Fassung zu einer Radikalität, mit der Ganzheitlichkeit zur höchsten Pflicht gemacht wird: Die „Eheliturgie“ der Ausschließlichkeit, Vorbehaltlosigkeit und Endgültigkeit wird als höchstes Gut der sexuellen Beziehungsgestaltung beschrieben (vgl. S. 136). Die dynamische Balance im Lebenslauf zwischen Lust, Beziehung, Identität, Fruchtbarkeit und evtl. sogar der Transzendenz ist nach Erkenntnissen der Entwicklungs- und Moralpsychologie wohl das realistischere Modell, das Erfahrungslernen ermöglicht. Der Lustaspekt wird im vorliegenden Konzept durch den radikalen Liebes- und Beziehungszentrismus deutlich abgewertet: Ohne Liebe sei sexuelles Verhalten Machtausübung, Mechanik, Gewalt oder Missbrauch (vgl. S. 127). Überhaupt ist im pädagogischen Teil des Textes wesentlich häufiger von den „Nöten, Fragen und Problemen der Jugend“ (S. 26) die Rede als von Lust und sexuellem Wohlbefinden.

Die „Stufenleiter der Zärtlichkeit“ (S. 141) bindet die leiblichen Erfahrungen an einen dafür vorausgesetzten psychosozialen Reifegrad, der offenbar mit der Loslösung vom Elternhaus und der Aussicht auf berufliche Selbständigkeit zusammengedacht wird (vgl. S. 140). Das klingt nicht nach einer dialektischen Entwicklung zwischen körperlichem und psycho-sozialem Erfahrungslernen. Leiblich-sexuelles Voranschreiten mit möglicherweise punktuellem Scheitern ist als Lernmöglichkeit kaum vorgesehen. Nur konsequent ist dann die Aussage, dass es ein „zu früh“ für die Aufnahme sexueller Beziehungen gibt (S. 140). Überhaupt wird dem – wie auch immer – produktiven oder auch existenziellen Scheitern in diesem Entwurf christlicher sexueller Bildung kein Raum gegeben, obwohl doch gerade aus religiöser Perspektive hier einiges zu sagen wäre.

Bei dem Versuch, Sexualität in zölibatärer Lebensform zu konzipieren, bleiben einige Aussagen unklar. Zunächst wird konstatiert: „Eine nicht unwesentliche Dimension menschlichen Lebens kann nicht zur vollen Entfaltung kommen“ (S. 143). Sexualität kann also nicht in der Intimpartnerschaft gelebt werden. Aber: „Auch für Priester und Ordensleute könnte es eine ‚Stufenleiter der Zärtlichkeiten‘ geben, nicht aber in erzieherischen und amtlichen Bezügen“ (S. 144). Wo endet dann die Stufenleiter? Und was darf in amtlichen oder erzieherischen Bezügen sein? Hier wären noch einige wichtige Aussagen für die sexuelle Bildung von Priesteranwärtern hilfreich gewesen, um das Versprechen einzulösen, die katholische Sexualmoral so zu gestalten, dass sexuelle Grenzverletzungen im kirchlichen Raum zukünftig weniger werden.

Wenn die vorangehenden kritischen Anmerkungen zum insgesamt lesenswerten Text zur sexuellen Bildung aus christlicher Perspektive auch etwas umfangreicher ausgefallen sind als der positiv würdigende Teil, so soll das den Wert des qualifizierten Konzepts keinesfalls schmälern. Auch religiös begründete Botschaften sind für alle Menschen, vor allem Jugendliche im Entwicklungsprozess, von großer Bedeutung. Die Auseinandersetzung mit den Spezifika dieser religiös fundierten Handlungstheorie lohnt sich unbedingt im Spektrum einer professionellen sexuelle Bildung, die Pluralität der Positionen und ein ernsthaftes Ringen um „gelingendes Sexualverhalten“ für bedeutsam hält. So lässt sich trefflich darüber streiten, ob das Kriterium der Einvernehmlichkeit zweier sich selbst bestimmender Individuen als ethische Leitlinie sexueller Bildung reicht oder eine besonders qualifizierte Liebesethik das konstitutive Angewiesensein auf Andere zumindest ergänzend schärfen sollte. Kritisch wird es immer nur an den Stellen, an denen eine selbstbestimmte Urteilsbildung durch das Vorenthalten wesentlicher Fakten oder anderer Perspektiven auf ein und dieselben Daten behindert wird. Eine lebendige Konzeption mit Möglichkeiten der selbstkritischen Weiterentwicklung durch Dialog mit anderen Positionen kann das aber verhindern. Allein deshalb, um auch gut gemeinte Praxis nicht durch unerwünschte Nebenfolgen zu konterkarieren. Der vorliegende Entwurf strahlt diese Bereitschaft und Offenheit aus. Das Buch könnte der Anfang sein für eine weitergehende Auseinandersetzung der verschiedenen Handlungstheorien untereinander auf der Basis kritisch-reflexiver Sexualpädagogik. Insofern kann der Entwurf von Holger Dörnemann und Stephan Leimgruber allen Interessent*innen empfohlen werden, die nicht nur am interreligiösen Dialog, sondern grundsätzlich an der Weiterentwicklung von sexueller Bildung interessiert sind.

Uwe Sielert (Kiel)



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Article published online:
06 September 2022

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