Krankenhaushygiene up2date 2022; 17(04): 298-300
DOI: 10.1055/a-1928-3279
Editorial

Des is wia bei jeda Wissenschaft, am Schluss stellt sich dann heraus, dass alles ganz anders war.[*]

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Renate Ziegler

Nach fast drei Jahren Corona-Pandemie würde man auf die zentrale Frage „Wie erfolgreich waren unsere Maßnahmen zur Eindämmung? Wie geht es mit dieser Pandemie weiter und was können wir für zukünftige Pandemien lernen?“ einige klare Antworten erwarten.

Geradezu enttäuschend im Hinblick auf belastbare Ergebnisse sind sowohl der Bericht des Sachverständigenausschusses nach §5Abs 9 IfSG „Zur Evaluation der Rechtsgrundlage und Maßnahmen der Pandemiepolitik“ in Deutschland [1] als auch die Analyse einer internationalen Kommission zusammengestellt von den Herausgebern der Fachzeitschrift Lancet zur weltweiten Situation „The Lancet Commission on lessons for the future from the COVID-19 pandemic“ [2].

Beide Berichte kommen zu dem Schluss, dass grundlegende Aufgaben der Datenerfassung von Infektionszahlen, Verläufen und Belastungen der Gesundheitssysteme, aber auch der zeitnahen Aufklärung der Bevölkerung, der Transparenz und Prävention missachtet wurden.

Das Fazit der deutschen Evaluationskommission zu den Aspekten Studiendesign des Pandemie-Monitorings, Wirksamkeit der bisher ergriffenen Maßnahmen und der Neuausrichtung des IfSG heißt: „Es ist nicht möglich, basierend auf dem aktuellen Stand der Erkenntnis und der Verflechtung von erwünschten und unerwünschten Wirkungen von Maßnahmen, eine umfassende Blaupause für die bei einem erneuten Aufflackern der Infektionsdynamik anstehenden Ergänzungen des IfSG zu liefern“.

Optimierungsbedarf wird gesehen bei der Erfassung, Verfügbarkeit und Nutzung von Daten:

  • Auswahl richtiger Indikatoren, Digitalisierung der Kontaktpersonen-Nachverfolgung, ein Impfregister sowie eine grundsätzliche einheitliche Dateiinfrastruktur

  • Für die Beurteilung der Ressourcenauslastung in der medizinischen Versorgung sind systematisch erhobene Daten zur Hospitalisierung (Neuaufnahmen) in Krankenhäusern sowie eine einheitliche Erfassung der Ressourcen wie Betten, Personal oder Material notwendig.

Zur Wirksamkeit von nicht-pharmazeutischen Interventionen wie Lockdowns, Öffnungen nach 2G- und 3G-Regelung, Kontaktnachverfolgung, Quarantäne, Isolation, Tests und Schulschließungen kann die Kommission aufgrund fehlender Kausalanalysen ebenfalls keine klaren Aussagen treffen.

  • Lockdowns waren vor allem in der Frühphase der Pandemie wirksam. Länger dauernde Lockdowns verlieren an Effektivität, es steigen aber die nicht-intendierten Wirkungen wie die Unterversorgung im Gesundheitsbereich sowie gesamtgesellschaftlich ökonomische und soziale Folgen.

  • Kontaktnachverfolgungen sind ebenfalls in der Frühphase wirksam, allerdings aufwendig und haben die mangelnden Personalressourcen des ÖGD (öffentlicher Gesundheitsdienst) aufgezeigt.

  • Die Datenlage zur Wirksamkeit von 2G/3G-Beschränkungen ist nicht ausreichend, zumal diese Maßnahme nicht isoliert, sondern i.d.R. in Kombination mit Masken und Abstand genutzt wurde. In Anbetracht der leichten Übertragbarkeit von SARS-CoV-2 mit der Omikron-Variante auch bei Geimpften wird in definierten Situationen und Bereichen eine Testung unabhängig vom Impfstatus empfohlen.

  • Wenig Evidenz gibt es auch für die Wirksamkeit von Schulschließungen, dafür aber umso mehr zu den unerwünschten Folgen wie die Zunahme von psychischen und somatischen Erkrankungen und die negative Auswirkung auf Lernkompetenz, Wissen und Leistungsfähigkeit.

  • Das Tragen von Masken ist während der Pandemie zu einem zentralen Bestandteil geworden und die Kommission kommt zu dem Schluss, dass die grundsätzliche Wirksamkeit von medizinischen Gesichts- und partikelfiltrierenden Halbmasken zur Verhütung und Bekämpfung der SARS-CoV-2-Infektion als weitgehend gesichert gelten kann, vorausgesetzt sie werden korrekt getragen. Im Hinblick auf eine Maskenpflicht sei zu berücksichtigen, dass die Wirksamkeit von der Prävalenz abhängt, dass sie größer in Innenräumen ist aufgrund der höheren Übertragbarkeit der Corona-Viren, für Kinder und in Schulen nicht abschließend beurteilt werden kann und dass ein Großteil der Infektionen im privaten Umfeld stattfinden, aber nicht im Einzelhandel oder an ähnlichen Orten. Nicht generell, aber in Risikosettings, wie medizinischen oder pflegerischen Bereichen, sollte die FFP2-Maske präferiert werden.

Die Evaluationskommission bezieht keine Stellung zu Impfungen als Maßnahme zur Bekämpfung des SARS-CoV-2 sowie zu Kosten-Nutzen-Analysen der Maßnahmen.

Die Lancet Kommission benennt folgende Versäumnisse, die ihrer Einschätzung nach zu Millionen vermeidbarer Todesfälle geführt haben, sowie zu einem ausgeprägten Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber Informationen durch Regierungen oder Behörden und gegenüber Vorschriften.

  • Unzureichende Bemühungen, den Ursprung der Epidemie aufzuklären, insbesondere der Möglichkeit, dass das Virus durch Mängel der biologischen Sicherheit aus Labors in die Umwelt gelangt sein könnte. Der Ursprung von SARS-CoV-2 ist derzeit unbekannt und wissenschaftliche Untersuchungen zur Klärung der beiden möglichen Hypothesen (Übertragung durch Wild- oder Farmtiere oder Laborunfall) sind erforderlich.

  • WHO-Versäumnisse:

    • zu späte Warnung vor einer Mensch-zu Mensch-Übertragung des Virus

    • zu späte Wahrnehmung des initialen Ausbruchs als international relevant und damit unterbliebene internationale Reisebeschränkungen

    • die anfängliche Unterschätzung von Luft als entscheidendem Transmissionsmedium des Virus und damit verspätete Empfehlungen für das Tragen von Masken

  • Viele Regierungen haben Pandemiepläne verspätet oder unzureichend umgesetzt. Vor allem die erste Phase des „Containment“ (Eindämmung/Vermeidung jeder Infektion) wurde lediglich von der WHO-Region Western Pacific konsequent umgesetzt, was sich auch in den niedrigsten Mortalitätszahlen mindestens bis zur Omikron-Variante niedergeschlagen hat. Die höchste Letalitätsrate hatten am Anfang die WHO-Regionen West Europe und WHO-Americas.

  • Unzureichende internationale Kooperation und Ressourceneinteilung

  • Das Fehlen einer zeitnahen systematischen Sammlung von Daten auf den nationalen Ebenen als Basis für Regeln der Prävention und für die Kommunikation mit Mitarbeitern der Gesundheitssysteme und der Allgemeinbevölkerung

  • Die Unterschätzung der Folgen von systematischen Fehlinformationen über das Virus, aber auch mangelnde Information der Bevölkerung durch Regierungen über Wissenslücken.

Positiv sind nach Einschätzung der Kommission in erster Linie die Entwicklung mehrerer Vakzine in Rekordzeit, die finanzielle Unterstützung für private Haushalte und für Unternehmen in Ländern mit hohem Bruttoinlandsprodukt und die Notfallfinanzierungen durch Weltwährungsfond und Weltbank.

Sollten wir mit den genannten Analysen und Vorschläge vielleicht für eine nächste Pandemie „Pandemie durch Virus Modi-SARS“ (der hypothetische Verlauf einer Pandemie mit diesem drehbuchreifen Titel wurde bereits 2012 unter fachlicher Federführung des RKI modelliert) besser gewappnet sein, so können wir uns trösten, dass ein solches Ereignis als bedingt wahrscheinlich eingestuft wurde (statistisch in der Regel einmal in einem Zeitraum von 100 bis 1.000 Jahren) [3].

Viel wahrscheinlicher ist aber, dass sich das Orakel von Washington „But the pandemic is over“ in der Wintersaison 2022/2023 nicht bewahrheitet. Welche Schutzmaßnahmen haben wir heute im Krankenhaus, die wir nicht auch schon vor einem Jahr hatten und die uns nicht vor nosokomialen Ausbrüchen bewahrt haben? Die Bewältigung dieser Ausbrüche mit Isolierungsmaßnahmen von Index- und Kontaktpatienten bei chronischem Bettenmangel, zusätzliche Testungen von Patienten und Personal und ungezählte „Krisentreffen“ ist eine Belastung für alle Beteiligten, insbesondere auch für unser Labor- und Hygienefachpersonal. Was uns bleibt ist die Hoffnung auf SARS-CoV-2-Varianten mit milderem Verlauf und weniger Hospitalisierungen, auf schnell produzierte angepasste Vakzine (ggf. nasale Impfstoffe für eine sterile Immunität), die halten was sie versprechen (wenigstens für bis zu 3 Monate) und auf medizinisches Personal, das gesund, leistungsfähig und motiviert bleibt.

Ihre
Renate Ziegler

* Karl Valentin




Publication History

Article published online:
30 November 2022

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  • Literatur

  • 1 Evaluation der Rechtsgrundlage und Maßnahmen der Pandemiepolitik Bericht des Sachverständigenausschusses nach §5Abs 9 IfSG. Sachverständigenausschuss nach § 5 Absatz 9 Infektionsschutzgesetz Bundesgesundheitsministerium c/o Friedrichstraße 108, 10117 Berlin.
  • 2 Sachs JD, Abdool Karim SS, Aknin L. et al. The Lancet Commission on lessons for the future from the COVID-19 pandemic. Lancet 2022; DOI: 10.1016/S0140-6736(22)01585-9.
  • 3 Drucksache 17/12051Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode. Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012 Risikoanalyse „Pandemie durch Virus Modi-SARS“.