Psychother Psychosom Med Psychol 2023; 73(01): 42-43
DOI: 10.1055/a-1944-8431
Fragen aus der Forschungspraxis

Leben, Forschen und Heilen im Krisenmodus?

Living, Researching and Healing in Crisis Mode?
Uwe Berger
,
Monika Bauer
Lernziel

Was wird erklärt?

Krise ist zu einem emotionalisierenden medialen Schlagwort geworden, hinter dessen inflationärem Gebrauch die eigentliche Wortbedeutung immer mehr verschwindet. Dies hat weitreichende Konsequenzen, sowohl für die Wissenschaft und Heilkunst als auch für die Wahrnehmung und Bewertung der eigenen Lebenswelt.

Als vor 15 Jahren der damalige US-Vizepräsident Al Gore den Friedensnobelpreis für sein Engagement beim Nachweis der menschlichen (Mit-)Verursachung des globalen Klimawandels erhielt, titelte die „Welt“: „Al Gore – ein rastloser, langweiliger Held“ (in Anspielung auf seinen vom politischen Gegner verliehenen Spitznamen „Gore the Bore“) [1]. Al Gores Hauptbotschaft lautete sinngemäß: wenn der Klimawandel durch menschenverursachte CO2-Emmissionen entstanden ist, dann kann er durch menschengemachte CO2-Einsparungen auch wieder rückgängig gemacht werden. Dieses Credo gilt bis heute und dahinter steckt eine Annahme, die überhaupt erst die Bezeichnung „Klimakrise“ rechtfertig. Denn eine „Krise [griech.] bezeichnet eine über einen gewissen (längeren) Zeitraum anhaltende massive Störung des gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Systems. Krisen bergen gleichzeitig auch die Chance zur (aktiv zu suchenden qualitativen) Verbesserung“ [2]. Das Problem dabei ist jedoch: wenn eine Krise gelöst werden kann oder schon auf dem Weg zur Lösung ist, dann ist sie medial nicht mehr so spannend. Und vielleicht ist das der Grund, warum Al Gore trotz seiner so wirkmächtigen Botschaft als langweilig galt.

Der Begriff „Krise“ ist heute als zentrales Schlagwort auf keinem Medienkanal mehr wegzudenken. Aber eben hauptsächlich im Sinne von „Höhepunkt einer Katastrophe“ oder „größter denkbarer Missstand“ und weniger mit Blick auf Lösungsansätze oder Berichte gelungener Krisenbewältigung. Krise ist zu einem substantivierten Superlativ geworden, der kurz und knackig an jeden Begriff angehängt werden kann, der für ein aktuelles Katastrophen-Szenario stehen soll. Während zum Beispiel der Begriff „Rohstoffknappheit“ einen Zustand der etwas unter dem Bedarf liegenden Versorgung mit Rohstoffen beschreibt, suggeriert „Rohstoffkrise“ einen maximalen Notstand. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, dass es bei besonders drastischen Fällen von Verknappung und einer daraus folgenden Bedrohung einer Versorgungslage sinnvoll sein kann, mit dem Krisenbegriff praktisch eine Warnstufe mit konkreten Handlungsschritten einzuläuten. Allerdings ist dies bei einer inflationären Benutzung des Krisenbegriffs sehr wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt. In [Abb. 1] sind – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – über 100 Sachverhalte aufgeführt, denen in aktuellen Medienberichten der Zusatz „-krise“ angehängt wurde. Die „Krise“ bezieht sich dabei auf so viele und so unterschiedliche Bereiche, dass eine einzelne Person zumindest theoretisch mehrere Dutzend davon in einem einzigen Jahr betreffen könnten. Wie realistisch ist es dann noch, Krise als Chance zu begreifen, als einen Zustand, der vorübergeht und durch eigenes Zutun verbessert werden kann?

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Abb. 1 Wordcloud basierend auf einer Google-Suche (Abruf 31.08.2022) der abgebildeten Begriffe; die Buchstabengröße repräsentiert die Trefferzahl (von 50.200.000 für Ukraine-Krise bis 21 für Zeugungskrise).

In einer vor Kurzem beim BMBF erschienenen Ausschreibung für ein Forschungsprojekt [3] steht die Formulierung „Vor dem Hintergrund der aktuellen Biodiversitätskrise …“. Warum steht da nicht „Vor dem Hintergrund einer seit XX Jahren signifikant abnehmenden Biodiversität …“? Warum genügt auch in der Wissenschaft eine exakte Beschreibung eines Zustandes nicht mehr, sondern muss ersetzt werden durch das Suggerieren einer nahenden oder bereits stattfindenden diffusen Katastrophe?

Eine mögliche, aber unbequeme Antwort könnte lauten: Weil wir uns mittlerweile damit eingerichtet haben, nicht mühsam tatsächliche Lösungsmöglichkeiten zu suchen und zu finden, sondern vielmehr einfach stetig neue Endzeit-Szenarien zu plakatieren. Das zeigt sich auch eindrücklich bei unserem Umgang mit dem Thema Klimawandel. Es geht uns nicht mehr, wie noch Al Gore, um die Benennung einer unbequemen Wahrheit mit dem Zweck, daraus Handlungsmöglichkeiten abzuleiten. Wir weisen den sich wandelnden und – zumindest potenziell – rückwandlungsfähigen Klimazuständen lieber den Krisenstatus zu als unsere jeweils persönliche Verantwortung für den Klima-rück-wandel ernst zu nehmen. Wenn Krise als sich stetig verschlimmernder Dauerzustand aufgefasst wird, genügt es zur Gewissensberuhigung und als Entschuldigung für das eigene Nicht-handeln, Schuldige für den Krisenzustand auszumachen. In diesem Fall sind das die sog. Klimaleugner, die zwar selbst tatsächlich auch nicht mehr Schuld am Klimawandel haben als alle anderen, aber aufgrund ihrer renitenten Haltung für eine Absolution nicht in Frage kommen.

Fazit für die Praxis

Wenn ein Zustand sich verändert und in eine unerwünschte Richtung läuft und wenn dies nach einem definierten Höhepunkt mit geeigneten Maßnahmen rückläufig gemacht werden kann, dann – und nur dann – ist die Bezeichnung „Krise“ angemessen. Alle anderen Zustände sollten, insbesondere in der Wissenschaft und der Heilkunst sachlich, nüchtern und so exakt wie möglich benannt und beschrieben werden.



Publication History

Article published online:
09 January 2023

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