CC BY-NC-ND 4.0 · Psychiatr Prax 2023; 50(04): 196-203
DOI: 10.1055/a-1960-4723
Originalarbeit

Implementierbarkeit, Praktikabilität und Akzeptanz ambulanter Psychotherapie für zuhause lebende ältere Menschen mit Depression und Pflegebedarf – Ergebnisse des Innovationsfondsprojekts PSY-CARE

Feasibility, Practicability, and Acceptance of Outpatient Psychotherapy for Home-living Older Adults with Depression in Need of Care in Germany
Christina Tegeler*
1   Department of Psychology, MSB Medical School Berlin GmbH, Berlin, Germany
,
Fee Hoppmann*
1   Department of Psychology, MSB Medical School Berlin GmbH, Berlin, Germany
,
Christina Demmerle
1   Department of Psychology, MSB Medical School Berlin GmbH, Berlin, Germany
,
Paul Gellert
2   Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft, Charité Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Germany
,
Valentina Ludwig
1   Department of Psychology, MSB Medical School Berlin GmbH, Berlin, Germany
,
Eva-Marie Kessler
1   Department of Psychology, MSB Medical School Berlin GmbH, Berlin, Germany
› Author Affiliations
Finanzielle Unterstützung Die Studie wurde gefördert durch den Innovationsfond des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA; Förderkennzeichen: 01VSF17048).
 

Zusammenfassung

Ziel Zuhause lebende pflegebedürftige ältere Menschen mit Depression sind psychotherapeutisch massiv unterversorgt. Untersucht wird die Realisierbarkeit ambulanter Psychotherapie bei der Patientengruppe unter den Bedingungen der Regelversorgung.

Methode Das Innovationsfonds-Projekt PSY-CARE ist eine in Berlin angesiedelte pragmatische, randomisiert-kontrollierte Studie zur Untersuchung von Kurzzeit-Verhaltenstherapie für zuhause lebende Menschen über 60 Jahren mit Pflegegrad und Depression. Ausgewertet werden Implementierbarkeit, Praktikabilität und Patientenzufriedenheit.

Ergebnisse Allen 102 in die Interventionsgruppe aufgenommenen Patienten konnte Psychotherapie vermittelt werden, wovon fast alle Therapien (92,3%) nur durch Hausbesuche realisierbar waren. Die Patienten waren überwiegend (83,7%) weitgehend bis sehr zufrieden mit der Psychotherapie. Die für das Projekt gewonnenen ambulanten Psychotherapeuten bewerteten Angehörigeneinbezug und interprofessionelle Zusammenarbeit als hilfreich. Anpassungen des Ausbildungs- und Vergütungssystems wurden als notwendig erachtet.

Schlussfolgerung Hausbesuche, interprofessioneller Austausch und Arbeit mit Angehörigen müssen reguläre Elemente ambulanter Psychotherapie werden. Es bedarf einer speziellen gerontopsychologischen Qualifikation für Psychotherapeuten.


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Abstract

Objective This study investigates the feasibility of outpatient psychotherapeutic depression-treatment for home living older adults in need of care within the German health-care system.

Methods PSY-CARE is a manual based, pragmatic randomized controlled trial investigating the effects of short-term behavioural therapy for home living adults aged 60+ with clinical depression and need of care.

Results and Conclusion Our results suggest that health policy should implement home-visits, interprofessional cooperation and involvement of relatives as standard outpatient psychotherapy elements. Specialised geropsychological training for psychotherapists is needed.


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Haupttext

Einleitung

Depression tritt bei älteren Menschen nicht seltener auf als bei jüngeren [1]. Psychotherapie ist in der S3-Leitlinie Unipolare Depression [2] mit dem höchsten Empfehlungsgrad angegeben und gilt unabhängig von Lebensalter oder Gesundheitsstatus als Krankenkassenleistung. Doch während etwa 20% der als depressiv diagnostizierten jungen Erwachsenen ambulante Psychotherapie erhalten, sind es bei den über 65-Jährigen nur 5%; bei den über 80-Jährigen sogar weniger als 1% [3]. Bei alten Menschen mit signifikanten funktionellen oder kognitiven Einschränkungen bzw. Pflegebedarf, von denen etwa jeder Vierte unter klinisch relevanter Depression leidet, kann man sogar von einer Nicht-Versorgung sprechen [4] [] [6]. Das ist umso fataler als erhebliche Wechselwirkungen zwischen depressiver Symptomatik, eingeschränkter Gesundheit und mangelnder sozialer Partizipation bestehen [7] [8] und Depression mit erheblichen Gesundheitskosten einhergeht [9]. Bis heute mangelt es an speziell für vulnerable ältere Patienten mit Depression evaluierten Psychotherapieangeboten [7] [10], die diese Zielgruppe erreichen, von ihr angenommen werden und in der Versorgungsrealität für Psychotherapeuten praktikabel sind.

Psychotherapie wird besonders älteren Patienten von Ärzten seltener als Psychopharmaka empfohlen, da bei ihnen weniger an deren Wirksamkeit geglaubt wird [11]. Und auch ältere Menschen selbst fragen psychotherapeutische Behandlung seltener nach als jüngere [3], obwohl sie eine eher positive Einstellung gegenüber deren Inanspruchnahme bei psychischen Problemlagen haben [12]. Auch werden vulnerable ältere Menschen bei der Suche nach einem Therapieplatz benachteiligt, da der Aufwand angesichts langer Wartezeiten für sie besonders herausfordernd sein kann und es an barrierefreien Praxen mangelt. Zwar haben gemäß Bundesmantelvertrag der Kassenärztlichen Vereinigung jene Patienten, für die das Aufsuchen einer Praxis oder der Aufwand von Krankentransporten „wegen Krankheit nicht möglich oder nicht zumutbar“ sind, Anspruch auf ein aufsuchendes Behandlungsangebot [13]. In der Behandlungsrealität finden Hausbesuche jedoch kaum statt [14]. Auch erleben sich Psychotherapeuten aufgrund geringer gerontopsychologischer Inhalte in Aus- und Weiterbildung [15] typischerweise wenig behandlungskompetent und -motiviert bei älteren Patienten [16] [17]. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass vulnerable ältere Patienten in ihrer Lebensführung auf Angehörige sowie Akteure im Bereich der Altenhilfe angewiesen sind [18]. Es mangelt jedoch bisher an Rahmenbedingungen, die interprofessionelle Kooperation ermöglichen und fördern. Die COVID-19-Pandemie hat diese Versorgungsdefizite noch verschärft. Denn während in der Versorgung jüngerer Patientengruppen innerhalb weniger Wochen nach dem Lockdown eine vorübergehende Trendwende hin zu videobasierter Psychotherapie resultierte [19], blieb deren Nutzung vielen vulnerablen älteren Menschen (u. a. durch unzureichende technische Ressourcen und Kompetenzen, eingeschränkte motorische und sensorische Fähigkeiten sowie geringere Sympathie für Videotelefonie) verschlossen [20].

Die vorliegende Studie

Diese Arbeit untersucht erstmalig, inwiefern ambulante Psychotherapie für zuhause lebende ältere Menschen mit Depression und Pflegebedarf unter den Bedingungen der Regelversorgung und der COVID-19-Pandemie in Deutschland realisierbar ist. Die empirische Grundlage bildet die vom Innovationsfond geförderte, international einzigartige Studie PSY-CARE. Diese untersucht mittels pragmatischem, randomisiert-kontrollierten Design und einem Mixed-Methods-Ansatz die Wirksamkeit und Implementierbarkeit ambulanter Psychotherapie für zuhause lebende ältere Menschen mit Depression durch ambulant tätige Projektpsychotherapeuten (PPT) im Vergleich zu einer aktiven Kontrollgruppe. Neben einer Analyse der Rekrutierungspfade [21] befinden sich Veröffentlichungen zu klinisch-psychotherapeutischen Vorgehensweisen und Wirksamkeit in Vorbereitung. Zur Evaluation der Implementierbarkeit, Praktikabilität und Akzeptanz des Versorgungsangebots wurden für diese Teilstudie quantitative und qualitative Daten der Studienteilnehmer, der ambulant tätigen PPT, sowie der Projektmitarbeiter erfasst und aufeinander bezogen.


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Methode

Studiendesign

Die Umsetzung von PSY-CARE erfolgte von Juni 2018 bis September 2021 unter Realbedingungen der Regelversorgung in Berlin und angrenzenden Regionen Brandenburgs. Laut Studienprotokoll [22] sollte bei mindestens 130 (max. 220) älteren Menschen mit anerkanntem Pflegegrad und einer depressiven Erkrankung randomisiert entweder eine Psychotherapie oder eine aktive Kontrollintervention (Selbsthilfematerial und telefonische Kurzberatung) durchgeführt werden. Dafür sollten hinreichend viele ambulant tätige Psychotherapeuten für die Zusammenarbeit gewonnen und qualifiziert werden. Geeignete Teilnehmer wurden nach Einwilligung und einer umfassenden Einschlussdiagnostik im Rahmen des Prä-Assessments einem der beiden Behandlungsangebote randomisiert zugewiesen. Anschließend sollten Teilnehmer der Interventionsgruppe zur Durchführung einer manualbasierten, alterssensiblen Verhaltenstherapie (Kurzzeittherapie, d. h. maximal 24 Therapiesitzungen à 50 Minuten) an die PPT vermittelt werden. Die Behandlung wurde als Regelleistung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erbracht. Ausschließlich bei der Behandlung von Patienten, die infolge ihrer körperlichen oder kognitiven Einschränkungen nicht in der Lage waren die Praxis des jeweiligen Behandlers zu erreichen, sollten Hausbesuche durchgeführt werden. Die PPT wurden angeregt, bei Indikation relevante Angehörige und Versorgungsakteure der Patienten in die Therapien einzubeziehen. Unmittelbar nach Beendigung der beiden Behandlungsangebote sowie drei und 12 Monate später erfolgten die Post- bzw. Follow-Up-Assessments. Während die im Februar 2019 gestartete Rekrutierungsphase aus forschungsethischen Gründen bereits Mitte März 2020 (d. h. zwei Wochen vor dem ersten Lockdown) beendet wurde, fielen insgesamt 65 der Behandlungen (89%) zeitlich in die Pandemie. Im Zuge dessen durften die PPT auf fernmündliche Behandlung per Video oder – falls dies patientenseitig unter keinen Umständen realisierbar war – per Telefon wechseln, wenn dies notwendig war, um ihre eigene gesundheitliche Sicherheit oder die der Patienten zu schützen [22]. In diesem Rahmen wurde den PPT bei entsprechender Indikation gestattet, auf überbrückende Telefongespräche zwischen Sitzungen mit persönlichem Kontakt zurückzugreifen, so dass die Sitzungsanzahl für diese Psychotherapien höher liegen kann als im Studienprotokoll angekündigt. PSY-CARE wurde prospektiv registriert (ISRCTN55646265). Sowohl für das ursprüngliche Studiendesign (MSH-2018/20) als auch für die pandemiebedingten Anpassungen (MSB-2020/32) liegen positive Ethikvota der Ethikkommission der Medical School Hamburg vor.


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Einschlusskriterien

waren ein Alter von mindestens 60 Jahren, Vorliegen einer unipolaren Depression (F32.0 – F33.9) oder einer Anpassungsstörung mit depressiver Symptomatik (F43.2) sowie ein klinisch auffälliger Wert auf der Geriatric Depression Scale für Pflegebedürftige (GDS-12R, Cut-Off von 4) und das Vorliegen eines anerkannten Pflegegrades (siehe Studienprotokoll [22]). Ausschlusskriterien waren mittelgradige bis schwere Demenz, Delir oder andere kognitive Störungen, die das Verstehen oder Umsetzen der Studie oder das Teilnahmeeinverständnis verhindern würden; akute Psychosen; (Hypo-)Manie; ausgeprägt eingeschränkte Hörkraft oder Sprechfähigkeit; eingeschränkte Deutschkenntnisse; das Endstadium einer körperlichen Erkrankung sowie vollstationäre Pflege.


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Rekrutierung der Studienteilnehmer

Um eine naturalistische Stichprobe zu generieren, wurden vielfältige Rekrutierungsstrategien verwendet. Deren Analyse (siehe [21]) hat gezeigt, dass die Mehrheit der Studienteilnehmer durch eine Gatekeeper-Vermittlung rekrutiert wurden (80,5%). Vermittelnd tätig waren insbesondere stationär tätige Psychologen und Ärzte (vor allem in Geriatrien und Gerontopsychiatrien). Eine direkte Ansprache der Zielpopulation über Medienbeiträge oder als persönliche Kontaktaufnahme an öffentlichen Orten war der effizienteste Zugangsweg, über den allerdings prozentual weniger Teilnehmer (19,5%) gewonnen werden konnten.


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Rekrutierung der PPT

Psychotherapeuten mit Verhaltenstherapie-Fachkunde wurden unter besonderer Beteiligung der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie über Aufrufe in Newslettern und Mitgliedszeitschriften rekrutiert. Der Zusatzaufwand der Durchführung und Dokumentation von mindestens 20-minütigen Besprechungen mit Behandlern oder Angehörigen wurde mit €40 pro Gespräch kompensiert, die Durchführung und Dokumentation der Projektarbeit mit €1000 pro Therapie.


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Gerontologische Qualifizierung

Alle PPT erhielten ein für das Projekt entwickeltes Manual zur alternssensiblen verhaltenstherapeutischen Behandlung zuhause lebender älterer Patienten mit Depression und Pflegebedarf [23]. Neben Prinzipien zu therapeutischem Stil und Beziehungsgestaltung umfasst es drei aufeinander aufbauende Therapiemodule, die je nach Patientenbedarf individuell vertieft werden können: ressourcenorientierter Lebensrückblick, Empowerment und Systemmobilisierung. Neben der Teilnahme an einer Webcast-Schulung (www.psy-care.de) zur Depressionsdiagnostik [24], wurden die PPT im Rahmen eines zweitägigen Workshops geschult. Mindestens zwei Supervisionssitzungen pro Behandlungsfall waren obligat.


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Datenerhebung

Alle eingesetzten Fragebögen und Skalen finden sich unter https://is.gd/psycare. Die Perspektive der (1) Patienten wurde auf Grundlage standardisierter Befragungen erhoben. Dabei wurden subjektive Barrieren bisheriger Psychotherapieinanspruchnahme mit einer offenen Frage zum Prä-Assessment erfragt. Die Zufriedenheit mit der durch PSY-CARE erhaltenen Behandlung wurde mittels dreier geschlossener Fragen mit 4-stufiger Antwortskala zum Post-Assessment erhoben. Depressive Symptome, kognitiver und funktioneller Status wurden im Prä- und den Post-Assessments mittels standardisierter Instrumente erhoben, um die Wirksamkeit der Intervention evaluieren zu können (siehe [22])[1]. Daten der (2) PPT wurden über Fragebögen mit geschlossenem Antwortformat vor der Therapiedurchführung erhoben. Neben soziodemographischen Merkmalen wurden Arbeitserfahrung und Motivation für die Teilnahme an PSY-CARE erhoben. Nach Abschluss der Therapien wurden die Bewertung der qualifizierenden Vorbereitung sowie die Motivation zur Weiterbehandlung der Zielgruppe und weitere Qualifikationsbedarfe erfragt. Die Erhebung von Zustimmungsfragen erfolgte mittels 4-stufiger Likert-Skalen. Außerdem wurden die Durchführungsmodalitäten und zum Einsatz gekommene Methoden der Psychotherapien durch standardisierte Dokumentationsbögen nach jeder Sitzung erfasst. Die Auswirkungen der Pandemie auf die Behandlungstätigkeit wurden über separate Fragebögen nach Therapieende erfasst. Hierbei wurde das Belastungserleben der PPT und der Patienten auf 4-stufigen Skalen erfasst, sowie das Ausmaß der Beeinflussung der Behandlung mittels einer 5-stufigen Skala durch die PPT geschätzt. Ergänzend wurden zur qualitativen Erhebung der subjektiven Erfahrungen der PPT mit 16 von ihnen halbstrukturierte Einzelinterviews (Dauer: M=80.9 Minuten; SD=17.8) durchgeführt. Seitens der (3) Projektmitarbeiter wurde weiterhin die systematische Studiendokumentation einbezogen (Kommunikation mit den Krankenkassen sowie Rückmeldungen der PPT und Patienten).


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Statistische Auswertung

Es wurden nur Daten jener Interventionsgruppenteilnehmer in die Analysen einbezogen, die ihre psychotherapeutische Behandlung über die ersten fünf Sitzung hinaus fortführten. Für inferenzstatistische Analysen zur Behandlungszufriedenheit wurde der Mann-Whitney-U-Test genutzt.


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Ergebnisse

Erreichung und Charakteristika der Zielpopulation

Die Rekrutierungsbemühungen resultierten in 511 Teilnahmeanfragen, von denen 314 (61,4%) aufgrund Nichterfüllung der Einschlusskriterien ausgeschlossen wurden. Entsprechend wurden 197 Personen der Zielgruppe erreicht, was einer Einschlussquote von 38,6% entspricht. Der Interventionsgruppe (Psychotherapie) wurden 102 Teilnehmer zugewiesen, 95 der aktiven Kontrollgruppe. Die Teilnehmer waren beim Prä-Assessment zwischen 61 und 94 Jahren alt (M=77,8, SD=8,1) und überwiegend weiblich (n=152, 77,2%). Die Mehrheit der Teilnehmer verfügte nach International Standard Classification of Education über ein mittleres (n=104, 53,6%) bis hohes (n=69, 35,6%) Bildungsniveau. Im Mini-Mental-Status-Test erzielten 19,5% (n=38) der Teilnehmer niedrigere Werte als 27 Punkte, was als Hinweis auf klinisch bedeutsame kognitive Funktionseinschränkungen gilt. Maße für das funktionelle Niveau spiegelten körperliche Einschränkungen der Teilnehmer wider, mit einem durchschnittlichen Gesamtwert von 83,1 auf der Activities of Daily Living Scale (SD=16,7, [25]) und von 5,4 (SD=2,2) auf der Instrumental Activities of Daily Living Scale. Die meisten Teilnehmer zeigten Hinweise auf leichte bis mittelschwere Depressionen, was sich in einem durchschnittlichen GDS-12R Wert von 7,8 (SD=2,5) zeigte. Von den am Prä-Assessment und der Intervention Teilnehmenden nahmen 62,4% (n=123) auch am Post-Assessment teil: Drop-out-Gründe waren im Wesentlichen fehlende Motivation für die Fortführung der Intervention bzw. der Teilnahme an den Assessments (n=36), Versterben (n=16) sowie eine Verschlechterung des körperlichen Gesundheitszustandes (n=9).

Therapievermittlung

Die n=102 Interventionsgruppenteilnehmer wurden im Anschluss an die Randomisierung zu ihrer Mobilität befragt und dies bei der Behandler-Zuweisung berücksichtigt. So gelang es, alle von ihnen an gerontologisch vorerfahrene, ambulant tätige PPT zu vermitteln. Für die Vermittlung förderlich erwiesen sich aus Sicht der Projektmitarbeiter die Möglichkeit eines zeitnahen Therapiebeginns seitens PPT, die prinzipielle Bereitschaft zur Durchführung von Hausbesuchen sowie barrierearme Praxen. Insgesamt verblieben n=70 der Teilnehmer bis zum Post-Assessment in der Studie. Mit diesen 70 Patienten fanden insgesamt 1414 Behandlungsstunden statt (pro Patient: M=20,2, SD=5,7).


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Home Treatment vs. Therapie in Praxisräumen

Insgesamt 60,2% aller Sitzungen wurden als Hausbesuche durchgeführt. Bei 92,3% der Patienten war die Durch- bzw. Fortführung der Psychotherapie nur durch das Angebot von Hausbesuchen möglich. Dies schließt auch jene 15,4% der Patienten mit ein, bei denen die Therapie ausschließlich in Form von Hausbesuchen realisierbar war. Lediglich 7,7% der im Projekt teilnehmenden Patienten konnten durch die ausschließliche Behandlung in Praxisräumen versorgt werden. In den Interviews wurden von den PPT einhellig die starken Einschränkungen der Patienten im Bereich der Mobilität und Sensorik als Hauptursache dafür betrachtet, dass die Behandlung nicht oder nicht vollständig in den Praxisräumen stattfinden konnte. Alle Anträge der PPT auf Hausbesuche und Wegepauschalen wurden von den Krankenkassen bewilligt.

Einfluss der COVID-19-Pandemie

In 80,2% der Therapien wurde als Anpassung an die Pandemie zeitweise auf fernmündliche Behandlung zurückgegriffen. Im Verhältnis zu Präsenzsitzungen variierte der Anteil fernmündlicher Sitzungen per Telefon- oder Video zwischen 0–100%. Durchschnittlich wurden 30,2% (SD=28,7%) der Therapiesitzungen fernmündlich durchgeführt, davon lediglich 12,1% im Videoformat. Die PPT schätzten die Effektivität der Therapie durch diesen Wechsel überwiegend als negativ (n=36, 46,8%) oder als stark negativ beeinflusst (n=18, 23,4%) ein. Lediglich für 28,6% (n=22) der Psychotherapien wurde die Effektivität als „nicht beeinflusst“ eingeschätzt und nur in einem Fall (1,3%) wurde ein eher positiver Einfluss angenommen. Dies spiegelt sich insofern in den qualitativen Interviews, als dass die Erfahrungen mit fernmündlicher Behandlung zwar teilweise positiver ausfielen als ursprünglich befürchtet (n=7), diese jedoch auch als weniger intensiv als Präsenzbehandlung (n=8) geschildert wurden. Auch wurden funktionelle und kognitive Einschränkungen seitens Patienten (z. B. Schwerhörigkeit; Aufmerksamkeitsdefizite) als Hindernisgründe berichtet (n=10), insbesondere für videobasierte Behandlung.


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Zufriedenheit der Patienten mit der Psychotherapie

Bei der Bewertung der ambulanten Psychotherapie im Rahmen des Post-Assessments waren Teilnehmer der Interventionsgruppe überwiegend „sehr zufrieden“ (n=37, 60,7%) oder „weitgehend zufrieden“ (n=14, 23,0%) mit der Behandlung. Überwiegend gaben sie an, die Behandlung „eindeutig“ weiterzuempfehlen (n=45, 73,8%) oder „eher“ weiterzuempfehlen (n=9, 14,8%) und dass die Behandlung „eine ganze Menge“ (n=30, 49,2%) oder „etwas“ (n=15, 24,6%) beim besseren Problemumgang geholfen habe. Teilnehmer der Kontrollgruppe waren überwiegend „ziemlich unzufrieden“ (n=20, 38,5%), „leicht unzufrieden“ (n=11, 21,2%) oder „weitgehend zufrieden“ (n=15, 26,9%) mit dem Kontrollgruppenangebot. Sie gaben an, die Behandlung „eher nicht“ (n=17, 32,7%) oder „eher" weiterzuempfehlen (n=15, 28,8%) und urteilten, dass das Angebot ihnen „eigentlich nicht“ (n=27, 51,9%) oder „etwas“ (n=17, 32,7%) beim Umgang mit ihren Problemen geholfen habe. Für alle drei Bewertungsaspekte waren die Unterschiede zwischen Interventions- und Kontrollgruppe hochsignifikant (p<.001).


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Subjektive Barrieren, die bisher eine Psychotherapieinanspruchnahme behindert haben

Im Prä-Assessment wurde mit offenem Antwortformat (Mehrfachnennung möglich) nach Gründen gefragt, warum zuvor keine Psychotherapie aufgenommen wurde. Von n=170 Teilnehmern wurden insgesamt 221 Gründe genannt, die jeweils einer von 12 Kategorien zugeordnet wurden (Inter-Rater-Übereinstimmung κ=.89). Die meistgenannten Barrieren waren: Fehlende Verfügbarkeit von Psychotherapieplätzen und lange Wartezeiten (n=43, 19,5%), fehlende Barrierefreiheit und Unerreichbarkeit von Psychotherapiepraxen bzw. ein fehlendes Angebot für Hausbesuche (n=36, 16,3%) und dass bisher von den Patienten keine Notwendigkeit einer Therapieaufnahme gesehen wurde (n=31, 14,0%).


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Gewinnung und Qualifikation der Projektpsychotherapeuten

Charakteristika und Vorerfahrung der PPT

Die Patienten wurden an n=39 (von 87 interessierten) PPT vermittelt. Diese waren durchschnittlich 45,1 Jahre alt (SD=9,9 Jahre, Spannweite=26–70 Jahre) und zu 89,7% (n=35) weiblich. Durchschnittlich hatten sie eine Arbeitserfahrung von 10,1 Jahren (SD=7,9). Alle hatten bereits praktische Erfahrung mit der Behandlung älterer Patienten in ambulantem oder stationärem Setting. Laut eigener Schätzung hatten sie durchschnittlich 121,6 ältere Patienten (SD=280,3) behandelt, dabei hatten 60,0% mindestens 20, 23,5% sogar 100 oder mehr ältere Patienten in Behandlung. Weiterhin besaßen 97,4% von ihnen theoretische gerontologische Kenntnisse und die Mehrheit (n=23; 60,5%) gab an, bereits seit längerem gerontologische Qualifikationsformate in Anspruch zu nehmen. Jedoch berichteten 74,4% von ihnen, bislang keinerlei Hausbesuche durchgeführt zu haben und deren rechtliche Rahmenbedingungen nicht zu kennen.


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Motivation zur Studienteilnahme

Die am häufigsten genannten Beweggründe der PPT für die Teilnahme waren der Wunsch nach weiterer Qualifikation (n=34, 87,2%), die Erweiterung des beruflichen Netzwerkes (n=24, 61,5%), finanzielle Anreize durch die Aufwandsentschädigung (n=24, 61,5%) und sozialpolitisches Engagement (n=21, 53,8%).


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Qualifizierung für die Behandlungstätigkeit

Gefragt nach der Höhe der Überschneidung zwischen der Vorbereitung auf die Projekttätigkeit (mittels Schulungsworkshop und Manual) und den tatsächlichen Erfahrungen im Rahmen ihrer Behandlungstätigkeit im Projekt, gaben 48,3% (n=14) der PPT rückblickend eine „sehr hohe“ Überschneidung und 34,5% (n=10) eine „ziemlich hohe“ Überschneidung an. Weiterhin schätzten 31,0% (n=9) der PPT diese Vorbereitung als „hilfreich“ ein, 44,8% (n=13) sogar als „sehr hilfreich“. Die Supervisionsgespräche wurden insbesondere für den Austausch über interprofessionelle Zusammenarbeit (n=14, 48,3%), die Möglichkeit der Rückversicherung (n=12, 41,8%) und Reflexion der therapeutischen Beziehung (n=11, 37,9%) genutzt.


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Motivation für weitere Behandlungstätigkeit

Die Mehrheit der PPT (n=18, 62,1%) gab an, sehr motiviert zu sein, nach der Projekttätigkeit auch weiterhin ältere Menschen mit Pflegebedarf psychotherapeutisch zu behandeln. Lediglich zwei von ihnen (6,9%) waren dazu nur gering motiviert. Hinsichtlich der weiteren Durchführung von Hausbesuchen gab mehr als die Hälfte der PPT (n=15, 51,7%) an, sehr stark motiviert zu sein, 10,3% (n=3) von ihnen berichteten eher wenig motiviert zu sein.


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Subjektive Bedarfe für die zukünftige Behandlungstätigkeit

Die PPT gaben an, dass für die Behandlung der Zielgruppe mehr Wissen und Fortbildungsmöglichkeiten über spezielle therapeutische Behandlungsstrategien (n=16, 55,2%), andere Versorgungsakteure (n= 14, 48,3%) sowie körperliche (n=8, 27,6%) und kognitive Einschränkungen (n=7, 24,1%) nötig seien. Sonstige Nennungen verwiesen auf verbesserte Abrechnungsmöglichkeiten, u. a. auch von Angehörigengesprächen sowie der Vernetzung mit anderen Versorgungsakteuren bzw. eine Ermöglichung des interprofessionellen Arbeitens. Im persönlichen Austausch mit Studienmitarbeitern berichteten die PPT darüber hinaus von einem hohen Anteil an Sitzungsausfällen durch Erkrankungen und Krankenhausaufenthalte der Patienten, die mit finanziellen Unwägbarkeiten und Ausfällen für die PPT einhergingen. Um Hausbesuche mit der Patientengruppe auch in Zukunft zu realisieren, benötigt es den PPT zufolge mehr zeitliche Ressourcen (n=25, 86,2%), um den zeitlichen Mehraufwand zu kompensieren sowie wirtschaftlich tragbare Abrechnungsmöglichkeiten der Anfahrtswege (n=23, 79,3%). Sieben PPT (24,1%) hielten eine bessere Vorbereitung auf aufsuchendes Arbeiten für nötig, fünf (17,2%) benannten weiterhin vermehrte Möglichkeiten der Supervision und Selbstreflexion als Notwendigkeit.


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Therapeutische Methoden

Die PPT gaben pro Sitzung an, in welchem Ausmaß (0= „überhaupt nicht“ bis 6= „sehr“) elf aufgelistete psychotherapeutische Methoden zum Einsatz kamen. Über alle Therapiesitzungen hinweg kamen die folgenden vier Methoden am stärksten zum Einsatz: Aufbau von positiven Aktivitäten und Alltagsroutinen (M=3,0, SD=1,0), kognitive Methoden (M=2,7, SD=1,3), Förderung sozialer Fähigkeiten und Kontakte (M=2,6, SD=1,0) und Biografisches Arbeiten (M=2,2, SD=1,1).


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Einbezug des Systems der Patienten

Die PPT dokumentierten die Durchführung von 201 behandlungsbegleitenden Besprechungen außerhalb der Therapiesitzungen (pro Patient: M=3,3, SD=2.4, min=0, max=9). Bei 58,4% dieser Besprechungen wurden Angehörige beteiligt. Der Austausch diente zu 41,6% der interprofessionellen Zusammenarbeit, am häufigsten mit Ärzten (42,9%), gefolgt von Pflegekräften (20,8%). Die Erreichbarkeit Angehöriger wurde zu 68,8% (n=77) als „sehr gut“ bewertet, die Erreichbarkeit professioneller Versorgungsakteure hingegen nur zu 37,9% (n=33). Während 56,3% (n=63) der Besprechungen mit Angehörigen als „sehr hilfreich“ eingeschätzt wurden, wurde dies nur für 41,4% (n=36) der Fallbesprechungen mit professionellen Versorgungsakteuren angegeben. Aus den Interviews ging hervor, dass die Initiative für Fallbesprechungen vor allem von PPT ausging. Anlässe waren konkrete Versorgungs- und Unterstützungsbedarfe der Patienten außerhalb des eigenen Handlungsspielraums (n=6; z. B. Verschreibung ergänzender Therapieoptionen oder Anleitung von Patienten beim Ausfüllen notwendiger Unterlagen), Informationen über den körperlichen oder kognitiven Zustand oder die relevante Vorgeschichte der Patienten zu erhalten (n=4) oder gemeinsame übergeordnete Behandlungsziele zu definieren (n=4). Als Hürden wurden vor allem schlechte Erreichbarkeit der Mitbehandler sowie mangelndes Interesse und unterschiedliche Therapiekonzepte (z. B. supportiv vs. veränderungsorientiert) genannt. Aus der Analyse der Projektdokumentation geht hervor, dass bei drei Patienten ambulante Psychotherapie zusätzlich zu einer Behandlung in einer Gerontopsychiatrischen Institutsambulanz (GIA; n=2) bzw. Mobilen Geriatrischen Rehabilitation (n=1) stattfand. Seitens der GIA musste dafür auf Abrechnung der Komplexpauschale in den Quartalen, in denen eine ambulante Psychotherapie stattfand, verzichtet werden.


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Diskussion

Diese Studie ermöglicht einmalige Einblicke in das bislang kaum umgesetzte und noch unerforschte Versorgungsfeld der ambulanten psychotherapeutischen Regelversorgung zuhause lebender älterer Menschen mit Pflegebedarf. Die Ergebnisse sind auf die Großstadtregion Berlin und die damit einhergehende Infrastruktur von Versorgungsangeboten und Verkehrsmitteln beschränkt. Sie basieren auf den aktuell gültigen Bedingungen in der GKV, sowie in der psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildung. Die Interventionsphase von PSY-CARE fiel in die COVID-19-Pandemie. Dieser Umstand bedeutet, dass die geplante Behandlungsmodalität (Face-to-face) wie auch die Behandlungsintegrität in Bezug auf die Umsetzung des Manuals nicht in vollem Umfang gewährleistet war.

Trotz Limitationen belegt die Studie, dass es durch gezielte Initiative prinzipiell möglich ist, einer vulnerablen Patientenpopulation, der diese Versorgungsform bisher de facto unzugänglich ist, ein ambulantes psychotherapeutisches Angebot zu machen. Die Ergebnisse zeigen jedoch auch, dass für eine erfolgreiche Umsetzung noch erhebliche Verbesserungen auf der Ebene der Versorgungsstrukturen und der gerontologischen Qualifikation von Psychotherapeuten notwendig sind.

Laut AgeMooDe-Studie [9] akzeptieren in Deutschland ältere Menschen Psychotherapie im gleichen Umfang wie medikamentöse Therapie, wobei Patienten mit Depression etwas negativer eingestellt sind. Nach den Ergebnissen des Depressionsbarometers 2019 [12] wäre eine deutliche Mehrheit (64%) der befragten Menschen im Alter über 70 Jahren bereit, eine Psychotherapie in Anspruch zu nehmen. Unsere Ergebnisse zum Rekrutierungserfolg und zur Therapiezufriedenheit zeigen, dass im Falle öffentlicher Ansprache und Realisierung eines konkreten Behandlungsangebotes die aktive Nachfrage seitens älterer Menschen mit Depression und Pflegebedarf sowie ihre Zufriedenheit mit Psychotherapie höher zu sein scheint als gemein hin angenommen [3] [12]. Dies ist umso bemerkenswerter, als dass ein substanzieller Anteil der naturalistischen PSY-CARE-Stichprobe auch von Angstsymptomen sowie Einschränkungen der Mobilität und der Kognition betroffen war, woraus vorschnell eine geringe Therapiemotivation abgeleitet werden könnte. Gegen dieses Vorurteil spricht auch, dass das von Patienten am häufigsten genannte Hindernis einer früheren Psychotherapieinanspruchnahme nicht eigene Vorbehalte waren, sondern das Fehlen verfügbarer Therapieplätze. Diese Ergebnisse verifizieren, dass Befunde aus Befragungsstudien zur Bereitschaft älterer Menschen Psychotherapie in Anspruch zu nehmen, keine „Artefakte“ sind. Vielmehr spiegeln sie eine überwiegend positive Einstellung gegenüber Psychotherapie-Angeboten wider. Die erfolgreiche Rekrutierung in PSY-CARE legt nahe, dass durch gezielte Kampagnen Awareness, Wissen und Motivation im Themenbereich Depression, Pflegebedürftigkeit, Alter und Psychotherapie geschaffen werden können. Diese sind aber nur dann sinnvoll, wenn sie durch verfügbare und wirksame Behandlungsangebote flankiert werden.

Unter Einbezug unserer Ergebnisse zu Rekrutierungspfaden [21] lässt sich ableiten, dass es einer aktiven Vermittlung durch Angehörige und Versorgungsakteure bedarf, um die Patientengruppe zu erreichen, sowie dass durch geriatrische und gerontopsychiatrische Kliniken und Tageskliniken gebahnte psychotherapeutische Anschlussbehandlungen großes Potential für die Versorgung aufweisen. So könnten Behandlungserfolge verstetigt und mit ‚Drehtüreffekten‘ verbundene Rückfälle vermieden werden.

Für den Großteil pflegebedürftiger älterer Menschen mit Depression war im Rahmen von PSY-CARE eine aufsuchende Behandlung zumindest phasenweise notwendig. Praxisbesuche sind hingegen für die große Mehrheit aufgrund von Immobilität, Antriebslosigkeit und Schwäche nicht realistisch zu bewerkstelligen. Auch zeigte sich, dass Fernbehandlungen via Videotherapie trotz ihres prinzipiell großen Potentials für an die Häuslichkeit gebundene Patienten zumindest für die aktuelle Generation pflegebedürftiger älterer Patienten mit Depression keine realistische Option sind. Bei Patienten mit der notwendigen technischen Ausstattung und Kompetenz sollte aber selbstverständlich davon Gebrauch gemacht werden. Die Einschätzung der PPT, dass Telefonsitzungen zwar weniger effektiv jedoch ‚reibungslos‘ durchführbar waren, spricht dafür, diese analog zu Videosprechstunden zu handhaben, um den ohnehin erschwerten Versorgungszugang dieser Patientengruppe abzupuffern. Zwar können Hausbesuche bei entsprechender Indikation nach Einheitlichem Bewertungsmaßstab zulasten der GKV abgerechnet werden, doch scheint dies aus Sicht der PPT keine ausreichende finanzielle Kompensation bzw. wirtschaftlich nicht tragfähig zu sein. Gleichzeitig werden nach der Psychotherapie-Richtlinie §1(4) Psychotherapeutische Behandlungen „grundsätzlich in den Praxisräumen der Therapeutin oder des Therapeuten erbracht“ [26]. Es bedarf entsprechend einer rechtlichen Klarstellung und eines transparenteren Beantragungsverfahrens für Hausbesuche, um auf Unsicherheiten und Unwissen zurückzuführende Hürden für Hausbesuche abzubauen.

Auch die hohe Relevanz des Einbezugs des sozialen- und Versorgungssystems wurde durch die Befragungen der PPT verdeutlicht. Der interprofessionelle Austausch wurde in der Behandlungspraxis im Vergleich zu Besprechungen mit Angehörigen als schwieriger in der Anbahnung und weniger effektiv eingeschätzt. Eine sich daraus ergebende Schlussfolgerung lautet, äquivalent zu Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, Stundenkontingente für Bezugspersonen aus dem sozialen Umfeld des Patienten einzuführen. Von hoher Bedeutung wären auch klare Strukturen, welche den notwendigen interprofessionellen Austausch zwischen Behandelnden fördern. So ermöglicht beispielweise die Einführung von Case-Managern nach US-amerikanischen Modellen [27] positive Effekte auf die adäquate Behandlung und den interprofessionellen Austausch. Eine Möglichkeit der Umsetzung wären Videofallkonferenzen. Darüber hinaus müssen Hürden der Durchführung von ambulanter Psychotherapie und paralleler Behandlung im Rahmen einer GIA oder Mobilen Geriatrischen Rehabilitation abgebaut werden. Weiterhin hat die ambulante psychotherapeutische Komplexversorgung, die vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) kürzlich als sog. KSVPsych-Richtlinie beschlossen wurde und im Juli 2022 angelaufen ist, ein großes Potential, die Versorgungslücke für die Patientengruppe zu schließen. Es sollte eine spezifische psychotherapeutische Komplexversorgung für vulnerable ältere Menschen in Erwägung gezogen werden [28].

Methodisch kam laut Selbstbericht der PPT der Aufbau positiver Aktivitäten am stärksten zum Einsatz, gefolgt von kognitiven Methoden, Förderung sozialer Kontakte und biographischem Arbeiten. Diese Gewichtung kann innerhalb des Forschungsfeldes, in dem es kaum wissenschaftlich dokumentierte Erfahrung in der Behandlung der Patientengruppe gibt [10], als ein erster Hinweis darauf verstanden werden, dass dem Abbau von Vermeidungsverhalten und der Förderung positiver Erfahrungen und Kompetenzen im Hier und Jetzt eine zentralere Rolle zukommt als Lebensrückblick-Methoden. Jedoch könnten die Umstände der Pandemie eine stärkere ‚Gegenwartsfokussierung‘ in der Behandlung mit sich gebracht haben.

Insbesondere gerontologisch vorerfahrene weibliche Psychotherapeuten waren zur Projektteilnahme bereit. Die Bereitschaft zur Behandlung vulnerabler alter Patienten scheint angesichts der breiten Altersspanne nicht an das eigene Lebensalter gekoppelt zu sein, sondern vielmehr an ein Bedürfnis nach Qualifikation und sozialpolitischem Engagement in diesem Themenfeld. Trotz teilweise sogar umfassender gerontologischer Vorerfahrung und dem vorbereitenden Workshop sahen die PPT selbst nach Projektende hohen Bedarf an zusätzlicher spezifischer Weiterqualifikation. Dies spricht dafür, dass psychotherapeutisches Arbeiten mit multimorbid erkrankten, in ihrer selbständigen Lebensführung eingeschränkten Patienten mit so vielen Besonderheiten einhergeht, dass dafür „Spezialisten“ mit umfangreicher gerontopsychologischer Qualifikation benötigt werden könnten. In der aktuell anstehenden Ausgestaltung der Weiterbildungsordnung ist Gerontopsychologie angemessen zu berücksichtigen. Im Zuge der psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildungsreform wäre die Einführung eines Fachgebietes „Klinische Gerontopsychologie“, in dem sich Psychotherapeuten als Ergänzung zum Fachgebiet „Psychotherapie mit Erwachsenen“ weiterqualifizieren können, eine sinnvolle Option. Eine entsprechende Qualifikation umfasst beispielsweise die Kompetenz zu koordinierenden interprofessionellen Tätigkeiten im Rahmen von Altenhilfestrukturen (Managed Care), zu Interventionen mit Angehörigen, psychologischen Interventionen bei Demenz und palliativ-psychotherapeutischen Behandlungen.


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Konsequenzen für Klinik und Praxis

  • Psychotherapeuten sind gefordert, barrierefreie Behandlungsplätze für die Behandlung von älteren Menschen mit Pflegebedarf zur Verfügung zu stellen und bei Bedarf aufsuchend zu arbeiten. Es bedarf entsprechend einer rechtlichen Klarstellung und eines transparenteren Beantragungsverfahrens für Hausbesuche.

  • Interprofessionelle Kooperation und der Einbezug von Angehörigen in die Therapie sollten als reguläre Elemente der ambulanten Psychotherapie für die Patientengruppe eingeführt werden.

  • Um Psychotherapeuten als neue, gewinnbringende Akteursgruppe für die Versorgung älterer vulnerabler Menschen zu motivieren und zu qualifizieren, müssen spezialisierte Fort- und Weiterbildungen angeboten werden.


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Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass keinerlei Interessenkonflikte bestehen.

* geteilte Erstautorenschaft


1 Nach den bisherigen Ergebnissen der Wirksamkeitsanalyse verringerte sich die depressive Symptomatik (GDS-12R) nach Intention-To-Treat Analysen vom Prä- über Post-Assessments und 1-Jahres Follow-up für ambulante Psychotherapie nachhaltig mit leichten bis moderaten Effekten (Drop-out T4: 59% in der Interventions- und 67% in der Kontrollgruppe). Die Effektivität fiel ähnlich in der aktiven (von der Pandemie in der Durchführung unbeeinträchtigten) Kontrollgruppe aus. Für die Interventionsgruppe reduzierte sich mehr als für die aktive Kontrollgruppe das Progressionsrisiko im unmittelbaren Anschluss an die Therapie, und verhinderte bei Teilnehmern mit funktionellen Einschränkungen stärker eine erneute Verschlechterung der depressiven Symptomatik (Relapse) nach drei Monaten. Die Effekte sind unwahrscheinlich mit Spontanremission in dieser Population mit körperlichem Abbau und unter Coronabedingungen zu erklären.



Korrespondenzadresse

Prof. Eva-Marie Kessler
MSB Medical School Berlin GmbH, Department of Psychology
Rüdesheimer Straße 50
14197 Berlin
Phone: +49307668375600   

Publication History

Received: 27 February 2022

Accepted: 12 October 2022

Article published online:
23 November 2022

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