Psychiatr Prax 2023; 50(02): 103-107
DOI: 10.1055/a-1967-2519
Psychiatriegeschichte

Der Hilfsverein für Geisteskranke im Königreich Sachsen

The “Hilfsverein für Geisteskranke” in the Kingdom of Saxony, a Philantropic Organisation for the Mentally Ill
Henrik Döbold
1   Psychiatrie, Universitätsklinikum Leipzig Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Leipzig, Germany
,
Holger Steinberg
2   Forschungsstelle für die Geschichte der Psychiatrie, Klinik und Poliklinik fur Psychiatrie und Psychotherapie, Universitat Leipzig, Leipzig, Germany
› Author Affiliations

Zusammenfassung

Die Studie widmet sich erstmals dem Thema sächsischer Hilfsvereine für Geisteskranke. Ausgehend von erhaltenen Jahresberichten wird ein Überblick über die Geschichte des „Hilfsvereins für Geisteskranke im Königreich Sachsen“ von seiner Gründung 1898 bis zu seiner mutmaßlichen Einstellung während des Zweiten Weltkrieges gegeben. Sein Ziel war die Unterstützung psychisch Kranker und ihrer Angehörigen durch finanzielle Zuschüsse und Aufklärung, wozu ein Netzwerk von Vertrauensleuten in die einzelnen Bezirke hinein bestand. Der Verein verlor nach dem Ersten Weltkrieg durch Vermögenseinbußen und die Etablierung anderer Fürsorgestrukturen an Einfluss. In den 1920er-Jahren wurden im Verein im Kontext eugenischer und sozialdarwinistischer Tendenzen in der Gesellschaft zunehmend Erbbiologie und Rassenhygiene diskutiert. Nach der Gleichschaltung im Nationalsozialismus wurden die Vereinsstrukturen schließlich zur Propagierung rassenideologischer Gedanken missbraucht.

Abstract

This article provides an overwiew of the history of the „Hilfsverein für Geisteskranke“ in the Kingdom of Saxony (later Free State of Saxony) from its foundation in 1898 until its probable dissolution during World War II. The „Hilfsverein“ was a philantropic organization that aimed to provide support for the mentally ill and their relatives through financial aid and education. It relied on a network of representatives spanning all of Saxony´s regions. Its work continued during the Weimar Republic after World War I, though by then it had lost influence due to economic loss and other structures of public welfare being established. In the context of the rise in eugenic and social darwinist tendencies during the 1920s, the implications of „racial hygiene“ and hereditability came to be discussed among its members. After the takeover of the National Socialist Party in 1933, the „Hilfsverein“ was forcibly assimilated into the Nazi welfare system and used to propagate racial ideology.



Publication History

Received: 31 May 2022

Accepted: 24 October 2022

Article published online:
07 December 2022

© 2022. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
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