NOTARZT 2023; 39(01): 15-16
DOI: 10.1055/a-1995-6560
Aktuelles

Notfallversorgung im Rettungsdienst in Deutschland

Studie der Universität Maastricht im Auftrag der Bertelsmann Stiftung und in Zusammenarbeit mit der Björn Steiger-Stiftung
Peter Sefrin

Schon seit längerer Zeit wird eine Reform des Rettungsdienstes angemahnt. Obwohl ein großer Konsens besteht, dass eine Neustrukturierung und eine grundsätzliche Reform der Notfallversorgung zwingend notwendig sind, konnten sie bisher nicht umgesetzt werden. Die gesamtpolitischen Debatten werden seit Jahren davon bestimmt, dass aufgrund soziodemografischer Entwicklungen und veränderten Ausgangs- und Inanspruchnahmeverhaltens der Versorgungsstrukturen diese immer wieder an ihre Grenzen stoßen. Ein politisches Tabu ist das Festhalten an der Subsidiarität. Die Heterogenität der föderalen Strukturen behindert die Gewährleistung von flächendeckend gleichwertigen Versorgungs- und Qualitätsstandards. Hinzu kommt die Fixierung auf Finanzierungsmodalitäten und fiskalische Fragen – die nicht Gegenstand der vorliegenden Studie sind –, ohne die notwendigen und grundlegenden Strukturen anzugehen.

Die Studie, die im November 2022 veröffentlicht wurde, verfolgt das Ziel, konkrete Handlungsoptionen zur Weiterentwicklung des deutschen Rettungsdienstes im Kontext der sektorenübergreifenden Notfallversorgung hinsichtlich klinischer Effektivität sowie wirtschaftlicher und organisatorischer Effizienz zu identifizieren. Ausgehend von einer kritischen Bestandsaufnahme der Rahmenbedingungen und der Leistungsfähigkeit werden konkrete und umsetzbare Entwicklungsmöglichkeiten aufgezeigt.

Die Notfallversorgung in Deutschland hat sich ohne systemübergreifende Planung und häufig nur innerhalb enger Sektorengrenzen weiterentwickelt. Daraus resultieren u. a. Schnittstellenproblematiken und insuffiziente Vernetzung. Die Vielzahl der Akteure im Gesundheitssystem mit z. T. divergierenden Interessen hat die Umsetzung der verschiedenen Reformvorschläge oder gesetzlichen Änderungsentwürfe der letzten Jahre schwierig gestaltet. Der aktuelle Status zeichnet sich durch ein hohes Maß an Intransparenz, zersplitterten Zuständigkeiten und divergierenden Partikularinteressen aus.

Voraussetzung für eine Alarmierung professioneller Hilfe ist das Erkennen eines Notfalls. Dieser erste Schritt erweist sich bereits als schwierig, da die Einschätzung unterschiedlich bewertet wird und sehr subjektiv ausfallen kann. Die subjektive Bewertung der Versorgungsdringlichkeit und Angemessenheit einer Inanspruchnahme notfallmedizinischer Strukturen variiert abhängig von Alter, Geschlecht, Bildungsstand, ethischer Herkunft und emotionaler Verbundenheit zu dem Patienten. Die sektorale Trennung der Zuständigkeiten innerhalb der Notfallversorgung erschwert der Bevölkerung den Überblick über geeignete Versorgungsformen und den damit verbundenen Aktivierungsmöglichkeiten. Es fehlen derzeit leicht zugängliche Steuerungsmechanismen, die Patienten zur richtigen Versorgung navigieren können, was zu einer Überinanspruchnahme der notfallmedizinischen Systeme und Bindung von Ressourcen führen kann. Die Stärkung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung ist eine wünschenswerte und wichtige Public-Health-Maßnahme.

Bei den Leitstellen fand ein Paradigmenwechsel in Steuerung und Planung von Rettungsmitteln und Einsatzpersonal zur Unterstützung der Versorgung vor Ort (z. B. Telefon-Reanimation [T-CPR]) statt. Allerdings ist der Status quo gekennzeichnet durch eine fragmentierte und heterogene Struktur. Zu den Herausforderungen zählen Barrieren und Schwierigkeiten in der Organisation, Heterogenität der Personalausbildung und -qualifikation sowie von Prozessabläufen. Bundesweit gibt es keine einheitliche definierte Empfehlung oder Vorgabe zur Nutzung standardisierter Notrufabfragesysteme, Zugriffe auf andere medizinische und pflegerische Dienste und Hintergrunddienste.

Bei der Versorgung vor Ort wird für die notärztliche Tätigkeit bezweifelt, ob 2 Jahre praktische klinische Erfahrung für den Erwerb der Zusatzqualifikation „Notfallmedizin“ ausreichend sind. Gefordert werden die Anhebung der Qualifikation im Sinne extensiver und kontinuierlicher klinischer Erfahrung sowie die Integration von Simulationstrainings. 80% der notärztlichen Tätigkeiten könnten auch durch nicht ärztliches Rettungsdienstpersonal, bei Bedarf mit Unterstützung durch Telemedizin, erledigt werden. Bei der Einrichtung verschiedener Telenotarztsysteme wurde die Chance eines flächendeckenden interoperablen Systems verpasst, was ein weiteres Beispiel für den Fleckenteppich von Insellösungen in der Notfallversorg darstellt.

Grundsätzlich sollte im Berufsfeld Rettungsdienst wissenschaftliche Theorie in der Praxis stärkere Berücksichtigung finden und Personal mit akademischer Ausbildung gezielt eingesetzt werden. Eine Akademisierung der Ausbildung fördert ein evidenzbasiertes, selbstkritisches und reflektiertes Arbeiten sowie eine systematische Herangehensweise. Darüber hinaus könnte die Steigerung von Kompetenzen sowie berufliche Autonomie und Einfluss erreicht werden.

Die notfallmedizinische Rettungskette ist nicht isoliert zu betrachten, sondern eingebettet in den Kontext der ineinandergreifenden Elemente der Krankenhausbehandlung und Gesundheitsversorgung. Konzentrations- und Spezialisierungsprozesse werden sich direkt auf das Rettungswesen auswirken und u. a. eine komplexe Planung und teils Restrukturierung von Rettungsdienstressourcen im Bereich der Akutversorgung und Transportleistung erfordern. Die rettungsdienstliche Bedarfsplanung sollte an den funktionalen Versorgungsstrukturen und nicht an kommunalen Gebietsgrenzen orientiert werden.

Eine alternative Versorgungsstrategie zur Vermeidung von unnötigen Rettungstransporten stellt das System der Gemeindenotfallsanitäter (GNFS) als Brücke zwischen der ambulanten und stationären Notfall- und Gesundheitsversorgung dar. Der GNFS soll das präklinische Versorgungssystem entlasten und die Inanspruchnahme des Rettungsdienstes für den Transport reduzieren, indem der Patient vor Ort behandelt werden kann.

Nach Betrachtung einzelner Elemente der deutschen Notfallversorgungskette und vor dem Hintergrund ausgewählter Good/Best-Practice-Beispiele wird ein Zielbild der Notfallversorgung entwickelt. Dabei steht eine bedarfsgerechte, einheitliche und evidenzbasierte Ausgestaltung der Versorgung von Patienten in einer akuten gesundheitlichen (Notfall-)Situation sowie eine evidenzbasierte, datengestützte und digitalisierte Notfallversorgung im Fokus, die in das gesamte (primäre) Gesundheitssystem integriert ist. Auf der Basis des definierten Zielbildes ergeben sich die folgenden 10 Kernpunkte für die Weiterentwicklung des Rettungsdienstes.

  1. Festlegung eines bundesweit einheitlichen verbindlichen Zielbildes für den Rettungsdienst und die Notfallversorgung, das zu aktualisieren ist und verbindlich als Orientierungsrahmen für die Umsetzung durch die Länder gilt.

  2. Für den Teilbereich der Koordinierung und Steuerung der medizinischen Notfallversorgung durch die integrierten Leitstellen ist es erforderlich, dass diese als Gesundheitsleitstellen als zentrale Anlaufstellen (Single Point of Contact) für Patienten für Notfälle und akute gesundheitliche Beschwerden weiterentwickelt und weiter ausgebaut werden. Sie sollten in enger Verzahnung und verlässlicher Arbeitsteilung mit den Dispositionszentralen der KVen mit fachlicher Durchgängigkeit der 112 und 116117 agieren.

  3. Die Abfrage des Notrufes 112 sollte bundesweit nach einheitlichen Kriterien und auf der Grundlage evidenzbasierter, wissenschaftlicher Konzepte auf standardisierte und strukturierte Notrufsysteme umgestellt werden.

  4. Bundesweit sollte ein flächendeckendes (interoperables) telemedizinisch-notärztliches-System (TNA-System) als integrierter Bestandteil der rettungsdienstlichen Versorgung aufgebaut werden. TNA-Systeme sollen dabei die gesamte fachliche Bandbreite (von Low-Code- bis High-Priority-Einsätzen) abdecken können. Zu den primären Aufgaben gehören nach entsprechender Konsultation durch Rettungspersonal die ärztliche Delegation und Unterstützung des nicht ärztlichen Personals am Einsatzort, die ärztliche Überbrückung bis zum ggfs. notwendigen Eintreffen notärztlichen Personals am Notfallort sowie die kollegiale Unterstützung und Beratung des (nicht-)ärztlichen Personals während des Einsatzes.

  5. Die soziomedizinische und psychosoziale Reaktionskompetenz des Rettungssystems muss gestärkt werden, um eine adäquate und fachkompetente Systemantwort auf die täglichen Anforderungen an das Rettungswesen zu gewährleisten. Eine Erweiterung und Vertiefung der Ausbildung des Leitstellenpersonals sowie des Rettungsdienstpersonals muss erfolgen, um durch kommunikative Schulungen und direkte Vernetzung mit sozialmedizinischen und psychosozialen Diensten den Patientenbedürfnissen auf eine adäquate und situationssensible Weise zu begegnen.

  6. Hybride Versorgungssysteme, die eine sektorenübergreifende Notfall- und Akutversorgung ermöglichen, sind flächendeckend einzuführen. Beispiele sind Gemeindenotfallsanitäter oder ambulante (telemedizinische) Patientenversorgungssysteme.

  7. Die rettungsdienstliche Planung und Steuerung erfordert einen Paradigmenwechsel von einer allgemeinen Hilfsfrist zur Sicherstellung einer leitliniengerechten Versorgung. Zukünftig muss eine rettungsdienstliche Planung funktional auf die erforderlichen übergeordneten (stationären und ambulanten) Versorgungsstrukturen und nicht auf die Grenzen kommunaler Gebietskörperschaften ausgerichtet werden.

  8. Der Rettungsdienst benötigt eine bundeseinheitliche Digitalisierungsoffensive, die auf ein einheitliches Finanzierungsprogramm gestützt wird. So kann eine umfassende und durchgängige kompatible funktionale digitale Vernetzung entlang des Patient Pathways zwischen den Akteuren der ambulanten und stationären (Notfall-)Versorgung ermöglicht werden. Die Digitalisierungsoffensive soll einen sektorenübergreifenden Informationsaustausch und eine einheitliche und verknüpfbare Dokumentation ermöglichen.

  9. Bundesweit wird eine einheitliche Qualitätssicherung in der Notfallversorgung sowie die Harmonisierung von evidenzbasierten Mindeststandards im Rettungswesen (z. B. Behandlungsstandards, SOPs u. a.) benötigt, um eine einheitliche qualitativ hochwertige Notfallversorgung standort- und zeitunabhängig sicherzustellen. Die Stärkung und Koordination zentraler Abstimmungsprozesse zur Harmonisierung von Mindeststandards ist notwendig und kann durch den G-BA erfolgen. Eine jährliche (anonymisierte) Leistungsauswertung aus Registern sollte als bundesweiter Statusbericht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

  10. Die Bereiche Public Health, Public Safety und Health Care müssen aktiv vernetzt werden und komplementäre Aufgabenbereiche erfüllen, um Synergieeffekte nutzen zu können und die Systemresilienz zu stärken. Gemeinsame Leitstellenausschüsse für die in den integrierten Leitstellen zusammengeschlossenen Dienste sollten um Public-Health-Dienste und die relevanten kommunalen Sozialdienst erweitert und zur Lösung von Schnittstellenprobleme etabliert werden.



Publication History

Article published online:
16 February 2023

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  • Literatur

  • 1 Krafft T, Neuerer M, Böbel S, Reuter-Oppermann M. Notfallversorgung & Rettungsdienst in Deutschland. Partikularismus vs. Systemdenken. Gütersloh/Winnenden: 2022. ISBN: 978-3-9824744-0-3