Z Sex Forsch 2023; 36(01): 44-45
DOI: 10.1055/a-2011-4232
Bericht

Ge- und behinderte Sexualität?

Tagung zu sexuellen Beziehungen unter Menschen mit geistiger Behinderung im September 2022 an der Universität Halle
Ralf Specht
Institut für Sexualpädagogik (isp), PETZE-Institut für Gewaltprävention, Kiel
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Wie können Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung ihre Sexualität leben und erleben? Welche Möglichkeiten haben stationäre Einrichtungen, ambulante Dienste und Familien, sie dabei zu begleiten und zu unterstützen? Und: Wie können sie vor sexuellen Übergriffen geschützt werden? Mit diesen Fragen beschäftigte sich eine Tagung, die am 29. und 30. September 2022 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) stattfand. Organisiert und veranstaltet wurde sie vom Interdisziplinären Wissenschaftlichen Zentrum Medizin-Ethik-Recht der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Prof. Dr. Hans Lilie), dem Christlichen Sozialwerk Dresden (Dr. Karolin Kuhn) und der Hochschule für Philosophie München (Prof. Dr. Barbara Schellhammer). Die drei Einrichtungen arbeiten im Forschungsprojekt „Sexuelle Selbstbestimmung bei Menschen mit sog. geistiger Behinderung“ (SeBi) zusammen (https://www.hfph.de/hochschule/lehrende/prof-dr-barbara-schellhammer/forschung/sebi).

Der erste Tag stand als Inklusiver Fachtag ganz im Fokus der Bedarfe, Erfahrungen und Wahrnehmungen der Menschen mit Beeinträchtigung. Die Expert*innen in eigener Sache waren mit rund 100 Teilnehmenden von insgesamt 200 an diesem Tag vertreten. Neben Film- und Theaterbeiträgen gab es Tandemvorträge zu „Sexuellen Rechten“ und „Sexueller Gewalt“ in Leichter Sprache sowie zwei Workshop-Phasen, in denen die Themen aufgegriffen und weitergeführt wurden. Der zweite Tag der Tagung wurde ohne Beteiligung der Expert*innen in eigener Sache mit etwa 80 Teilnehmenden durchgeführt. An diesem als interdisziplinärem Reflexionstag gedachtem zweitem Teil gab es Impulsreferate aus der Perspektive der Ethik, Pädagogik, Medizin und Rechtswissenschaft zu der Leitfrage, wie Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung bei der Umsetzung ihrer Rechte auf sexuelle Selbstbestimmung besser unterstützt werden und gleichzeitig wirksamer als bisher vor sexualisierter Gewalt geschützt werden können.

Eröffnet wurde die Tagung durch Prof. Dr. Henning Rosenau, geschäftsführender Direktor des Zentrums Medizin-Ethik-Recht, der auch moderierend durch den ersten Tag führte. In seiner Begrüßungsrede machte er deutlich, dass die Tagung zwar in historischem Ambiente stattfinde, aber dass sowohl die Teilnehmendenzahl als auch die inklusive und interdisziplinäre Ausrichtung etwas gänzlich Neues darstellen würden.

Zuerst wurden die Teilnehmenden durch einen 15-minütigen Medienbeitrag auf das jeweilige Thema – „Sexuelle Rechte“ am Vormittag und „Sexuelle Gewalt“ am Nachmittag – eingestimmt. Im ersten Filmbeitrag von Jochanah Mahnke und ihrem Team erzählten Schauspieler*innen mit Beeinträchtigung aus einer Theatergruppe über Wünsche, Partnerschaft und Körperlichkeit. Der Nachmittag zum Thema „Sexuelle Gewalt“ wurde durch die Aufzeichnung des beeindruckenden Tanztheaterstücks „TraumA“ der Lukaswerkstatt für Menschen mit Behinderungen in Zwickau eröffnet. Dem folgten jeweils Tandemvorträge von Expert*innen mit und ohne Beeinträchtigung, für die Mitarbeiter*innen des PETZE-Instituts für Gewaltprävention aus Kiel eingeladen waren: vormittags zu „Sexuellen Rechten“, gehalten von Julian Tepling (Experte in eigener Sache) und Ralf Specht (PETZE-Institut für Gewaltprävention), nachmittags zum Thema „Sexuelle Gewalt“ von Ann- Kathrin Lorenzen (PETZE-Institut für Gewaltprävention) und Gesa Kanzmeier, Frauenbeauftragte des Lebenshilfewerkes Neumünster. In Leichter Sprache wurden den Teilnehmenden von den Tandemteams ihre Rechte auf sexuelle Selbstbestimmung und auf Schutz vor sexualisierter Gewalt dargelegt und mit dem Plenum interaktiv reflektiert. Dazu wurden vorab Karten in den Ampelfarben Rot, Grün und Gelb verteilt, die die Teilnehmenden zu verschiedenen Aussagen und Fragen je nach Grad der Zustimmung oder Ablehnung in die Höhe halten sollten. Verschiedene Meinungen und Einschätzungen wurden lebhaft ausgetauscht und viele Nachfragen kamen aus dem Plenum. So waren die 45 Minuten je Themenfeld kurzweilig und lebendig. Verwendet wurden für beide Vorträge Materialien und Methoden der interaktiven PETZE Ausstellung „Echt Mein Recht!“, die gerade mit dem „mitMenschPreis“ (https://mitmenschpreis.de/) ausgezeichnet wurde.

Nach einer Pause wurden die Teilnehmenden dann am Vor- und Nachmittag jeweils in Gruppen eingeteilt, um die Themen in Arbeitsgruppen weiter zu vertiefen. Für die Menschen mit Beeinträchtigung wurden eigene, thematische Workshops durchgeführt, die im Forschungsprojekt SeBi entwickelt und erprobt wurden. Geleitet wurden die Workshops von Multiplikator*innen des Christlichen Sozialwerks. Für die Fachkräfte, Studierenden und Mitarbeitenden anderer Fachdisziplinen gab es derweil sogenannte Werkstattgespräche. In ihnen wurde diskutiert, wie Einrichtungen und Dienste Menschen mit Beeinträchtigung im Hinblick auf sexuelle Selbstbestimmung besser unterstützen können und wie sexuelle Gewalt an Menschen mit Beeinträchtigung wirksam verhindert werden kann.

Auch beim interdisziplinären Austausch am zweiten Tag der Tagung ging es analog zum ersten Tag am Vormittag um die „Sexuellen Rechte“ und deren Ermöglichung für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und am Nachmittag um das Thema „Sexuelle Gewalt“, wobei hier der Fokus auf Peergewalt lag. Sechs Impulsreferate strukturierten den Tag und regten das Plenum zu lebendigen Diskussionen an. Veronika Sube von der Hochschule für Philosophie München sah in dem Umgang mit Fremdheit ein Ordnungskriterium der Gesellschaft, welches viele Menschen ausschließt, die nicht der Normalität entsprechen. Ausgehend von Heideggers Begriffs der „Für-Sorge“ legte sie dar, dass es eine entmündigende und eine wahre Fürsorge gebe, und sie sehe in der „responsiven Ethik“ nach Wagenfels einen Hebel, Fremdheit und damit auch Menschen mit Beeinträchtigung anders zu begegnen. Professor Dr. Hendrik Trescher (Lehrstuhl für Inklusion und Exklusion an der Philipps-Universität Marburg) hob in seinen Ausführungen hervor, dass die gesellschaftliche Nichtanerkennung der besonderen Bedarfe von Menschen mit Beeinträchtigung das Grundproblem ist. Er stellte dazu eigene Studienergebnisse vor, die aufzeigen, dass die Sexualität von Menschen mit Behinderung immer noch wesentlich vom „pädagogischen Protektorat“ bestimmt wird. Auch Mario Kulisch von der Wohn- und Lebensgemeinschaft für Menschen mit Behinderung am Elstertal der Volkssolidarität Leipzigerland/Muldental e. V betonte in seinen Ausführungen die Bedeutung der realen Lebensverhältnisse für die sexuelle Selbstbestimmung und das Ausleben von Sexualität: Schöne Konzepte zur sexuellen Selbstbestimmung würden nicht greifen, wenn beispielsweise entmündigende Lebensverhältnisse wie Doppelzimmer oder pauschale Empfängnisverhütung in den Einrichtungen noch Alltag seien.

Vor der Mittagpause wurde im Plenum abschließend festgestellt, dass Menschen mit Behinderung trotz rechtlicher Gleichstellung von einer gleichberechtigten Teilhabe noch weit entfernt sind. Auf den Lebensbereich der Sexualität trifft dies insbesondere zu. Die Teilnehmer*innen waren sich einig, dass es, bis auf einige einzelne Initiativen, nur sehr schleppend vorangeht. Das Fehlen von allen Arten von Ressourcen wie Geld, Personal etc. sei ein Grund dafür.

Der Nachmittag widmete sich dem Thema „Schutz vor und Intervention bei Peergewalt“. Dr. Peter Spindler, Leiter der Klinik für Forensische Psychiatrie des Sächsischen Krankenhauses Altscherbitz, berichtete aus der Arbeit mit Täter*innen mit Beeinträchtigung. Er schilderte positive Ansätze und Erfahrungen aus der Praxis, sah aber auch eine große Problematik darin, was nach der Ausschöpfung der Möglichkeiten der Forensik passiere. Es fehlten hier sowohl therapeutische Angebote als auch passende Unterstützungsformen, die auf die besonderen Bedarfe der Personengruppe ausgerichtet sind. Dr. Karolin Kuhn (Christliches Sozialwerk Dresden) betonte in ihren Ausführungen die Problematik, dass bei vielen Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung die sozio-emotionale Entwicklung vergleichsweise verzögert bzw. nicht so fließend sei. Ohne lebensbegleitende Sexuelle Bildung seien damit sowohl Opfer- als auch Täter*innenerfahrungen fast vorbestimmt. Diese Umstände würden noch verschärft durch die Tatsache, dass therapeutische Unterstützung für Betroffene mit kognitiven Einschränkungen so gut wie gar nicht angeboten werde und die Justiz die besonderen Bedarfe der Zielgruppe bisher ignoriere. Auf die strafrechtliche Thematik ging der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Hans Lilie in seinem Vortrag näher ein. Er schilderte den Gang des Strafverfahrens mit seinen vielfältigen Schwierigkeiten bei Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung auf Täter*innen- und/oder Opfer-Seite. Dabei existiere oft das große Problem, dass kein justiziabler Sachverhalt ermittelt werden könne, wenn das Opfer nicht aussagefähig sei. Sein Fazit schloss mit der ernüchternden Feststellung, dass die Justiz auf die speziellen Fragen zur Rechtspraxis bei Menschen mit geistiger Behinderung (noch) keine ausreichenden Antworten habe. In der anschließenden Diskussion wurde das Unverständnis über die mangelhafte Begleitung bzw. das mangelnde Verständnis der Justiz deutlich artikuliert. Es wurde festgestellt, dass auch in fast allen anderen Bereichen des Umgangs mit sexueller Peergewalt, wie etwa bei den Therapieangeboten, extremer Nachholbedarf besteht. Alle in diesem Bereich Tätigen müssen qualifiziert darauf vorbereitet werden, dazu braucht es vielfältige Angebote und Weiterbildungen.

Resümee der Tagung: Es gibt noch vieles zu tun, zu bewegen und zu kritisieren, bis die Rechte auf sexuelle Selbstbestimmung und Schutz vor sexueller Gewalt in der Lebensrealität und im Alltag von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung umgesetzt sind. In der zweitägigen Tagung wurden einige der zentralen Herausforderungen und Versäumnisse aufgezeigt, es wurde viel diskutiert und ein guter Anfang gemacht. Es war eine ambitionierte Tagung, die auch tagungsdidaktisches Neuland betreten hat. Am ersten inklusiven Tag wurden Menschen mit Beeinträchtigung gezielt eingeladen und ihnen damit eine Stimme gegeben, das ist nicht selbstverständlich. Durch ihre Beiträge und Fragen wurden sehr viele Facetten und Probleme im Zusammenhang mit sexueller Selbstbestimmung mit ausnehmender Klarheit in den Raum gestellt. Es hat allen gezeigt, dass sie als Expert*innen in eigener Sache einbezogen werden müssen, und zwar ganz anders als bisher üblich. Es gibt seit vielen Jahren schon die Forderung: „Nichts ohne uns über uns!“ – das sollte der Kompass für die Zukunft sein.

Der zweite Tag hat allen einen Blick über den eigenen Tellerrand ermöglicht und einen lange fälligen Dialog eröffnet. Die Beiträge aus den unterschiedlichen Disziplinen haben verdeutlicht, dass die Herausforderungen sehr komplex sind. In den Diskussionen kristallisierte sich schnell heraus, dass es ein großer Gewinn für alle ist, sich disziplinübergreifend auszutauschen, weil elementare Informationen zum Thema durch die anderen Fachgebiete zur Verfügung gestellt werden, die das eigene Verständnis und Handeln erweitern. Zudem wurde klar, dass in allen gesellschaftlichen Teilbereichen gleichzeitig Veränderungen stattfinden müssen, damit das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und das Recht auf Schutz vor sexueller Gewalt im Leben der Menschen auch fühlbar und ganz konkret respektiert wird. Insgesamt war dieser Tagungsdialog eine wertvolle Initiative, die es fortzuführen gilt.



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Article published online:
14 March 2023

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