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DOI: 10.1055/a-2023-2511
Kommentar zu „Computergestützter Marker zur Diagnose koronarer Herzerkrankungen geeignet“

Die koronare Herzerkrankung (KHK) ist eine sozioökonomisch bedeutsame „Volkskrankheit“ und nach wie vor die häufigste Todesursache in Deutschland. Ideal wäre es deshalb, anhand einfacher Parameter die Wahrscheinlichkeit für eine KHK beim individuellen Patienten vorhersagen zu können, um frühzeitig mit präventiven oder therapeutischen Maßnahmen zu beginnen.
Dafür gibt es bereits verschiedene Risikoscores. Sie beruhen im Wesentlichen auf den Ergebnissen der Framingham-Heart-Study, einer populationsbasierten Kohortenstudie, die seit 1948 läuft [1]. Mithilfe dieser gelang es, die heute bekannten Risikofaktoren wie familiäres Risiko, Rauchen, Diabetes mellitus, Cholesterin und Hypertonus zu identifizieren. Aktuell nehmen wir eine Risikoprädiktion für das 10-Jahres-Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen nach dem SCORE2 vor, wie in den aktuellen Leitlinien der Europäischen und Deutschen Kardiologischen Gesellschaft empfohlen [2]. Hier gehen nur wenige Parameter ein, v.a. Geschlecht, Alter, Nikotinabusus, Blutdruck- und Cholesterin-Werte.
Natürlich gibt es darüber hinaus viele weitere interessante patientenbezogene Informationen wie Vitalparameter, Medikation, Laborwerte etc. In der vorliegenden Arbeit haben sich die Autoren daher diese Daten aus digitalen Patientenakten zu Nutze gemacht und mithilfe „maschinellen Lernens“ den sog. ISCAD-Score (in silico score for coronary artery disease) generiert und evaluiert. Er soll als eine Art digitaler Biomarker helfen, die Diagnose einer koronaren Herzerkrankung präziser und frühzeitiger zu stellen und auch im Verlauf der Erkrankung das Risiko für kardiale Ereignisse besser einzuschätzen.
Dabei wurde für jeden Patienten ein kontinuierlicher Score von 0 (niedrigste Wahrscheinlichkeit einer KHK) bis 1 (höchste Wahrscheinlichkeit) berechnet, wobei sich eine KHK mit einer Fläche unter der Kurve von 0,91 (84% Sensitivität, 83% Spezifität) prognostizieren ließ. Mit steigendem ISCAD-Score zeigte sich ein gleichsam zunehmendes Risiko für das Vorliegen atherosklerotischer Plaques, Tod jeglicher Ursache und weitere KHK-Komplikationen.
Klinisch könnte der Score in verschiedenen Situationen hilfreich sein:
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Er könnte helfen, Patienten mit hohem kardiovaskulärem Risiko zu präselektionieren. Bei knapp der Hälfte der Teilnehmer (46%), bei denen die Diagnose einer KHK noch nicht gestellt worden war und die einen ISCAD-Score von ≥ 0,9 hatten, zeigten sich in der genaueren Betrachtung tatsächlich Symptome einer KHK, sodass der Score eine gute Hilfe im Alltag sein könnte, um weiterführende Diagnostik zu veranlassen.
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Er könnte bei Patienten, bei denen anhand der klassischen Risikofaktoren eine Niedrigrisikosituation vorliegt und die dennoch klinische Beschwerden einer KHK aufweisen, helfen, die Prätestwahrscheinlichkeit besser abzuschätzen. So könnten unnötige Untersuchungen vermieden werden.
Verschiedene Limitationen sind allerdings zu bedenken:
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Ein Score ermittelt nur eine Wahrscheinlichkeit, ermöglicht aber keine Diagnosestellung und muss zudem auch in unserer Population evaluiert sein.
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Er muss einfach anwendbar sein und dem Kliniker automatisiert ad hoc zur Verfügung gestellt werden. Dafür müssen die technischen und datenschutzrechtlichen Voraussetzungen vorhanden sein.
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Wie immer bei Nutzung von künstlicher Intelligenz ist die Datenqualität, aus der Ergebnisse gezogen werden, die entscheidende Limitation. In der vorliegenden Studie standen fast 100000 Patienten elektronisch zur Verfügung. Insgesamt hatten 14% aller Probandinnen und Probanden eine KHK-Diagnose – wobei hier nur ICD-10-Diagnosecodes vorlagen. Wie die individuelle Diagnose gestellt wurde, ist nicht bekannt. Nur bei einem geringen Anteil wurde eine diagnosesichernde Koronarangiografie durchgeführt.
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Die Änderung der Behandlungspfade durch ein Scoring-System und v.a. dessen Auswirkung auf die kardiovaskuläre Mortalität müssten in longitudinalen Beobachtungs- bzw. Interventionsstudien überprüft werden. Auch bleibt unklar, ab welchem Score klinische Konsequenzen gezogen und z.B. eine Koronarangiografie oder eine medikamentöse KHK-Therapie initiiert werden sollten.
Insgesamt zeigt sich hier eine sehr interessante Anwendung von künstlicher Intelligenz in der Medizin, die uns helfen könnte, Patienten noch besser zu identifizieren, die unsere Intervention brauchen. Zudem könnte auf diesem Wege durch die bessere Risikoprädiktion eine unnötige Diagnostik verhindert werden. Momentan bedürfen die Ergebnisse allerdings einer weiteren sorgfältigen Evaluation in Kohorten mit exzellenter Datenqualität.
Publication History
Article published online:
04 August 2023
© 2023. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
- 1 Andersson C, Johnson AD, Benjamin EJ. et al. 70-year legacy of the Framingham Heart Study. Nat Rev Cardiol 2019; 16: 687-698
- 2 Visseren FLJ, Mach F, Smulders YM. ESC National Cardiac Societies. et al. ESC Scientific Document Group. 2021 ESC Guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice. Eur Heart J 2021; 42 (34) 3227-3337