CC BY-NC-ND 4.0 · Rehabilitation (Stuttg) 2023; 62(05): 278-288
DOI: 10.1055/a-2028-5963
Originalarbeit

Handlungs- und Forschungsbedarf in der Psychosomatischen und Orthopädischen Rehabilitation aus der Sicht von Rehabilitand:innen und Mitarbeitenden in der Rehabilitation

Need for Action and Research in Psychosomatic and Orthopaedic Rehabilitation from the Point of View of Rehabilitants and Individuals who work in Rehabilitative Care
1   Department für Versorgungsforschung, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
,
Natalie Schüz
2   Sozialmedizin, Deutsche Rentenversicherung Oldenburg-Bremen, Oldenburg
,
Aike Hessel
2   Sozialmedizin, Deutsche Rentenversicherung Oldenburg-Bremen, Oldenburg
,
Sina Obiedzinski
1   Department für Versorgungsforschung, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
,
Anna Levke Brütt
1   Department für Versorgungsforschung, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Ziel der Studie Die Studie erfasst den praktischen Handlungs- und Forschungsbedarf für die psychosomatische und orthopädische Rehabilitation aus Sicht von Rehabilitand:innen und Mitarbeitenden in der Rehabilitation.

Methodik Das Projekt gliederte sich in eine Identifizierungs- und eine Priorisierungsphase. In der Identifizierungsphase wurden 3872 ehemalige Rehabilitand:innen, 235 Mitarbeitende aus drei Rehabilitationskliniken und 31 Mitarbeitende der Deutschen Rentenversicherung Oldenburg-Bremen (DRV OL-HB) zu einer schriftlichen Befragung eingeladen. Die Teilnehmenden wurden gebeten, aus ihrer Sicht relevante Handlungs- und Forschungsbedarfe für die psychosomatische und orthopädische Rehabilitation zu benennen. Die Antworten wurden qualitativ anhand eines induktiv entwickelten Kategorien-Systems ausgewertet. Aus den Kategorien wurden praktische Handlungsfelder und Forschungsfragen formuliert. In der Priorisierungsphase wurden die identifizierten Themen in eine Reihenfolge gebracht. Hierfür wurden 32 Rehabilitand:innen zu einem Priorisierungsworkshop und 152 Rehabilitand:innen, 239 Klinik-Mitarbeitende und 37 Mitarbeitende der DRV OL-HB zu einer zweistufigen schriftlichen Delphi-Befragung eingeladen. Die priorisierten Listen aus beiden Methoden wurden zu einer Top 10 Liste zusammengefasst.

Ergebnisse An der Identifizierungsphase nahmen 217 Rehabilitand:innen, 32 Klinik-Mitarbeitende und 13 Mitarbeitende der DRV OL-HB teil. Innerhalb der Priorisierungsphase nahmen 75 Rehabilitand:innen, 33 Klinik-Mitarbeitende und 8 Mitarbeitende der DRV OL-HB an beiden Erhebungswellen der Delphi-Befragung teil. 11 Rehabilitand:innen beteiligten sich am Priorisierungsworkshop. Praktischer Handlungsbedarf besteht vorrangig bei der Umsetzung einer ganzheitlichen und individuellen Rehabilitation, bei der Qualitätssicherung sowie bei der Aufklärung und Beteiligung von Rehabilitand:innen. Forschungsbedarf besteht vorrangig bei dem Rehabilitationszugang, den Strukturen im Rehabilitationssetting (beispielsweise zur trägerübergreifenden Zusammenarbeit), der Ausgestaltung von rehabilitativen Interventionen (individueller, alltagstauglicher) und der Motivation von Rehabilitand:innen.

Schlussfolgerung Die identifizierten Handlungs- und Forschungsbedarfe umfassen viele Themen, die bereits in vorherigen Forschungsprojekten und von verschiedenen Akteuren in der Rehabilitation als Probleme identifiziert wurden. Zukünftig muss vermehrt die Entwicklung von Bearbeitungs- und Lösungsstrategien für die identifizierten Themen sowie die Implementierung dieser Strategien fokussiert werden.


#

Abstract

Purpose The aim of this study was to assess the need for practical action and research in psychosomatic and orthopaedic rehabilitation from the perspective of rehabilitants and individuals who work in rehabilitative care.

Methods The project was divided into an identification and a prioritization phase. In the identification phase, 3872 former rehabilitants, 235 employees from three rehabilitation clinics and 31 employees of the German Pension Insurance Oldenburg-Bremen (DRV OL-HB) were invited to participate in a written survey. The participants were asked to name relevant needs for action and research for psychosomatic and orthopaedic rehabilitation. The answers were evaluated qualitatively using an inductively developed coding system. Practical fields of action and research questions were formulated from the categories of the coding system. In the prioritization phase, the identified needs were ranked. For this purpose, 32 rehabilitants were invited to a prioritization workshop and 152 rehabilitants, 239 clinic employees and 37 employees of the DRV OL-HB to a two-round written Delphi survey. The resulting prioritized lists from both methods were combined into a top 10 list.

Results In the identification phase, 217 rehabilitants, 32 clinic employees and 13 employees of the DRV OL-HB participated in the survey, in the prioritization phase, 75 rehabilitants, 33 clinic employees and 8 employees of the DRV OL-HB in both survey rounds of the Delphi survey, and 11 rehabilitants in the prioritization workshop. A need for practical action primarily in the implementation of holistic and individual rehabilitation, in quality assurance and in the education and participation of rehabilitants was identified, as also a need for research primarily on access to rehabilitation, structures in the rehabilitation setting (e. g., inter-agency cooperation), the design of rehabilitative interventions (more individualized, more suitable for everyday life), and the motivation of rehabilitants.

Conclusion The identified needs for action and research include many topics that have already been identified as problems in previous research projects and by various actors in rehabilitation. In the future, there needs to be increased focus on the development of strategies for dealing with and solving the identified needs, as well as on the implementation of these strategies.


#

Einleitung

Die medizinischen Rehabilitation baut auf den Grundprinzipien der Inklusion und Teilhabe von Menschen, welche von Erkrankung oder Behinderung betroffen sind, auf [1] [2] [3]. Die Umsetzung einer patient:innenorientierten Versorgung ist daher entscheidend für die Qualität der Rehabilitation sowie die Zufriedenheit der Rehabilitand:innen [2] [3].

Inwieweit die aktuelle Rehabilitationspraxis und -forschung die Interessen von Rehabilitand:innen abbildet, ist kaum erforscht. Handlungs- und Forschungsagenden werden im Gesundheitswesen meist unter Ausschluss von Patient:innen und klinisch Tätigen bestimmt [4] [5] [6] [7]. Stattdessen reden stellvertretend „Expert:innen“ und Entscheidungsträger:innen (bspw. Politiker:innen oder Manager:innen) über die notwendigen Bedarfe für die Gesundheitsversorgung und -forschung. Internationale Untersuchungen legen nahe, dass den Themen, welche für Patient:innen wichtig sind, jedoch häufig keine hohe Relevanz von Entscheidungsträger:innen beigemessen wird [4] [5] [8]. So zeigten Boivin et al., dass gemeinsam mit Patient:innen ermittelte Prioritäten für die zukünftige Gesundheitsversorgung den Zugang zur Versorgung, die Unterstützung und Beteiligung von Patient:innen sowie die Einbindung der Kommunen in die Gesundheitsversorgung fokussierten. Prioritäten, die von klinisch Tätigen und Manager:innen allein bestimmt wurden, zielten hingegen auf die Reduzierung von Fällen in den Notaufnahmen, die Zusammenarbeit zwischen Gesundheitseinrichtungen und der Qualitätsverbesserung medizinischer Behandlungen ab [8]. Tallon et al. und Crowe et al. zeigten weiterführend, dass sich Patient:innen und klinisch Tätige mehr Evaluation von nicht-medikamentösen Behandlungsansätzen wünschen wohingegen Forschende die Evaluation von Medikamenten favorisieren [4] [5]. Inwieweit sich die Priorisierung von Handlungs- und Forschungsbedarf zwischen klinisch Tätigen und Patient:innen voneinander unterscheidet, ist indes nicht eindeutig [8] [9] [10].

Durch den Ausschluss von Patient:innen bei der Bestimmung und Priorisierung von Handlungs- und Forschungsbedarf besteht die Gefahr, dass die Agenden von individuellen und/oder kommerziellen statt patient:innenorientierten Interessen geprägt sind [4] [5] [6] [7]. Patient:innen müssen entsprechend bei der Festlegung von Handlungs- und Forschungsagenden beteiligt werden [11]. Darüber hinaus kann es sinnvoll sein, auch klinisch Tätige einzubeziehen, da diese den Versorgungsalltag von Patient:innen und bestehende Probleme kennen.

Auf internationaler Ebene erfolgt eine Einbeziehung bei der Bestimmung von Forschungsprioritäten immer häufiger [11] [12] [13]. Meist sind die Prozesse indikationsspezifisch [12] [13] [14] [15]. Die am häufigsten verwendete Methode ist die der James Lind Alliance (JLA) [11] [12]. Die JLA ist eine aus Großbritannien stammende gemeinnützige Organisation, welche in Priority Setting Partnerships (PSP) Patient:innen, Mitarbeitende und Expert:innen im Gesundheitswesen zusammenbringt. Die Teilnehmenden werden gebeten, aus ihrer Sicht noch unbeantwortete Fragen zu benennen. Für diese Fragen wird anschließend geprüft, ob ausreichend Evidenz vorliegt. Ist dies nicht der Fall, werden die Fragen im Rahmen eines Workshops von den Teilnehmenden priorisiert und in einer Forschungsagenda zusammengefasst [16]. Für das Setting der Rehabilitation wurde nach unserem Kenntnisstand noch kein JLA Prozess durchgeführt.

Zur Bestimmung von praktischen Handlungsprioritäten gibt es nur wenige Studien [11] [17]. Zur Priorisierung wurden unterschiedliche Methoden (bspw. Fokusgruppen oder Bürger:innenräte) genutzt [17]. Die Prozesse waren meist nicht indikationsspezifisch [17]. Innerhalb des deutschen Rehabilitationssektors wurden im Projekt RehaInnovativen Handlungsprioritäten mit verschiedenen Akteuren aus der Rehabilitation (unter anderem Leistungserbringer und -träger, Betroffenenverbände und Forschende) bestimmt [18]. Handlungsbedarf wurde bei den Themen „Reha individualisieren“, „Übergänge optimieren“ (Zugang zur Reha und Nachsorge) und „Regional zusammenarbeiten“ identifiziert. Eine weitere in Deutschland durchgeführte Studie, in welcher Rehabilitand:innen unterschiedliche Indikatoren von Patient:innenzentrierung nach ihrer Relevanz bewerteten, kam ebenfalls zu dem Schluss, dass die Umsetzung einer individuellen Rehabilitation sowie die vermehrte Beteiligung von Rehabilitand:innen besonders wichtig sind [19]. In beiden Studien wurden die Prioritäten jedoch nicht systematisch und unter Beteiligung von Rehabilitand:innen identifiziert.

Insgesamt kann festgestellt werden, dass in Deutschland bisher wenig Kenntnis darüber besteht, welche Themen für Rehabilitand:innen und Mitarbeitende in der Rehabilitation relevant sind und wie entsprechend eine patient:innenorientierte Rehabilitation ausgestaltet werden kann. Internationale oder indikationsspezifische Prioritäten können auf Grund ihrer Kontextabhängigkeit nicht einfach auf Deutschland oder den Rehabilitationssektor als Ganzes übertragen werden [12]. Die vorliegende Studie zielte daher darauf ab, für den Bereich der psychosomatischen und orthopädischen Rehabilitation gemeinsam mit Rehabilitand:innen und Mitarbeitenden in der Rehabilitation zukünftigen Handlungs- und Forschungsbedarf systematisch zu identifizieren und zu priorisieren. Zudem wurde geprüft, inwieweit Rehabilitand:innen und Mitarbeitende in ihrer Priorisierung übereinstimmen, um den Einfluss verschiedener Interessensgruppen auf die Handlungs- und Forschungsagenda abschätzen zu können [9].


#

Material und Methoden

Die Studie orientiert sich an der Methodik der JLA und gliederte sich in eine Identifizierungs- und eine Priorisierungsphase [16]. In der Identifizierungsphase wurden relevante Handlungsfelder und Forschungsfragen aus Sicht von Rehabilitand:innen und Mitarbeitenden in der Rehabilitation erfasst. In der Priorisierungsphase wurden die identifizierten Handlungsfelder und Forschungsfragen priorisiert.

Das Projekt wurde von einem Projektbeirat, bestehend aus Mitarbeitenden der Deutschen Rentenversicherung Oldenburg-Bremen (DRV OL-HB) (drei Mitarbeitende aus Rehabilitationseinrichtungen und drei Mitarbeitende aus den Bereichen der Sozialmedizin und Verwaltung), begleitet. Bei der Erstellung der Studienmaterialien waren vier Rehabilitand:innen beratend tätig.

Setting

Die Studie wurde im Setting der orthopädischen und psychosomatischen Rehabilitation durchgeführt. Die beiden Indikationen nehmen den größten Anteil an Fachabteilungen in stationären Reha-Einrichtungen ein (30% Orthopädie, 13% Psychosomatik) [20]. Die in diese Studie eingeschlossenen Rehabilitationseinrichtungen der DRV OL-HB sind spezialisiert auf die Behandlung von Burnout, Depressionen, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen oder Angststörungen sowie auf Erkrankungen des Bewegungsapparates und damit verbundener chronischer Schmerzen und psychosomatischer Komorbiditäten.


#

Identifizierungsphase

Zwischen August und November 2020 wurden 3872 ehemalige Rehabilitand:innen (Reha im Jahr 2019 abgeschlossen) sowie 266 Mitarbeitende der DRV OL-HB (235 Mitarbeitende aus drei Rehabilitationseinrichtungen und 31 Mitarbeitende aus den Bereichen der Sozialmedizin und Verwaltung) zur Studienteilnahme eingeladen (Einladung erfolgte postalisch durch die DRV OL-HB).

Mittels einer explorativen schriftlichen Befragung wurden Handlungsfelder und Forschungsfragen aus Sicht der Studienteilnehmenden gesammelt. Die Teilnahme war online oder postalisch möglich. Die benannten Themen wurden anschließend mittels der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring ausgewertet [21]. Hierfür wurden die Aussagen der Teilnehmenden paraphrasiert und ein induktives Kategoriensystem im Konsensverfahren durch drei Mitarbeitende entwickelt. Bedeutungsgleiche Phrasen wurden unter den einzelnen Kategorien zusammengefasst. Aus den Kategorien wurden praktische Handlungsfelder und Forschungsfragen abgeleitet.

Für die Forschungsfragen wurde geprüft, inwieweit diese sich inhaltlich den Rehabilitationswissenschaften zuordnen lassen. Dabei wurde ein deduktives Vorgehen gewählt. Als Kategorien dienten die von Bengel und Koch [22] definierten relevanten Handlungsbereiche für die Rehabilitationswissenschaften (Entwicklung von rehabilitativen Interventionen sowie deren Beurteilung/Evaluation, Analyse des Rehabilitationssystems und dessen Weiterentwicklung sowie Theorien und methodische Grundlagen der Rehabilitation). Fragestellungen, welche sich keiner Kategorie zuordnen ließen, wurden aus der Analyse ausgeschlossen. Eingeschlossene Forschungsfragen wurden standardisiert formuliert. Hierfür wurden die von Berger-Grabner [23] definierten fünf Fragetypen (Beschreibend, Erklärend, Prognose, Gestaltung, Bewertung/Kritik) genutzt. Gleiche Fragetypen wurden ähnlich formuliert. Abschließend wurde für jede Forschungsfrage geprüft, inwieweit ausreichend Evidenz vorlag. Als ausreichende Evidenz wurde entsprechend der Definition der JLA das Vorhandensein eines Systematischen Reviews, welches nicht älter als drei Jahre ist und keinen weiteren Forschungsbedarf zu der entsprechenden Thematik ausweist, anerkannt. Bei indikationsspezifischen Fragestellungen wurde auch das Vorhandensein nationaler Leitlinien als ausreichende Evidenz betrachtet. Mit Hilfe von Schlagworten wurden die Literaturdatenbanken Medline, Google Scholar, die Datenbank der Zeitschrift „Die Rehabilitation“ sowie die Reha-Forschungsdatenbank der Deutschen Rentenversicherung durchsucht. Auf der Website der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) sowie der DRV Bund wurde nach Leitlinien recherchiert. Zudem wurde Rücksprache mit dem Projektbeirat gehalten. Fragestellungen, die als noch nicht oder unzureichend bearbeitet identifiziert wurden, sind in die Priorisierungsphase aufgenommen worden.


#

Priorisierungsphase

Innerhalb der Priorisierungsphase wurden ein Priorisierungsworkshop sowie eine postalische Delphi-Befragung durchgeführt ([Abb. 1]). Die Rehabilitand:innen, welche sich in der Identifizierungsphase zur Teilnahme an der Priorisierungsphase bereit erklärt hatten (Abfrage erfolgte im Rahmen der Einverständniserklärung zur Identifizierungsphase), wurden einer der beiden Methoden randomisiert zugeteilt. 32 Rehabilitand:innen wurden zum Workshop und 152 Rehabilitand:innen zur postalischen Delphi-Befragung eingeladen. Zur Delphi-Befragung wurden zusätzlich 239 Mitarbeitende aus den Rehabilitationseinrichtungen und 37 Mitarbeitende aus den Bereichen der Sozialmedizin und Verwaltung der DRV OL-HB eingeladen.

Zoom Image
Abb. 1 Verwendete Methodik innerhalb der Priorisierungsphase.

Delphi-Befragung

Ziel der Delphi-Befragung war ein Konsens unter den Teilnehmenden bezüglich der Relevanz der Handlungsfelder und Forschungsfragen[24]. In der erste Erhebungswelle (Juni-Juli 2021) bewerteten die Teilnehmenden mittles einer fünfstufigen Skala (sehr wichtig bis unwichtig) die Relevanz der einzelnen Handlungsfelder und Forschungsfragen aus der Identifizierungsphase. Die durchschnittliche Bewertung je Handlungsfeld und Forschungsfrage wurde den Teilnehmenden in der zweiten Erhebungswelle als Balkendiagramm zurückgespiegelt. In der zweiten Erhebungswelle (August-September 2021) bewerteten die Teilnehmenden nochmals dieselben Handlungsfelder und Forschungsfragen. Dabei hatten sie die Möglichkeit, unter Berücksichtigung der durchschnittlichen Bewertungen aller Teilnehmenden ihre erste Bewertung anzupassen.

Die abschließende Auswertung der Befragung erfolgte deskriptiv anhand von Häufigkeitsverteilungen und Lage-Maßen der zentralen Tendenz. Zur Beurteilung, inwieweit die Teilnehmenden in ihrer Bewertung übereinstimmten, wurden Konsenswerte je Handlungsfeld und Forschungsfrage berechnet. Konsens wurde dabei als 70-prozentige Übereinstimmung (Anteil sehr wichtig/wichtig ≥70% oder Anteil nicht so wichtig/unwichtig ≥70%) definiert. Die Handlungsfelder und Forschungsfragen wurden abschließend anhand des Mittelwertes und der Standardabweichung in eine Reihenfolge gebracht.

Ein Vergleich der Priorisierung zwischen Rehabilitand:innen und Mitarbeitenden wurde deskriptiv durchgeführt. Zusätzlich wurde der Korrelationskoeffizient nach Kendall (Kendall-Tau-b) berechnet. Das Signifikanzniveau wurde auf p<0,05 festgelegt. Statistische Analysen wurden in SPSS Version 26 durchgeführt.


#

Priorisierungsworkshop

Der fünfstündige Workshops zielte ebenfalls auf einen Konsens unter den Teilnehmenden bezüglich der Priorisierung der Handlungsfelder und Forschungsfragen ab. Er fand an einem Samstag im September 2021 statt. Die Teilnehmenden erhielten vor dem Workshop ein Arbeitsheft zur inhaltlichen Vorbereitung. Zu Beginn des Workshops gab es eine Einführung. Anschließend wurden die Teilnehmenden in zwei Teams eingeteilt, wobei sich ein Team mit den Forschungsfragen und eines mit den Handlungsfeldern beschäftigte. Innerhalb der Teams wurden zwei Kleingruppen gebildet, die über die Reihenfolge der einzelnen Themen diskutierten. Die Anzahl der Handlungsfelder und Fragestellungen, die innerhalb des Workshops in eine Reihenfolge gebracht werden sollten, wurde auf jeweils 20 Themen begrenzt, da das Sortieren von mehr Themen in der vorgesehenen Zeit als unpraktikabel betrachtet wurde. Lagen mehr Themen vor, wurde in den jeweiligen Teams eine Vorauswahl der 20 Themen vorgenommen.

Nachdem sich die Kleingruppen auf eine Reihenfolge der Themen verständigt hatten, wurden diese Reihenfolgen zu einer Team-Liste zusammengefügt. Die Teammitglieder diskutierten die zusammengefügte Liste und einigten sich auf eine finale Reihenfolge. Die Listen der Teams wurden dann dem jeweils anderen Team vorgestellt und mit allen Teilnehmenden diskutiert. Bei starken Unstimmigkeiten konnten die Team-Reihenfolgen nochmals gemeinsam überarbeitet werden. Abschließend einigten sich alle Teilnehmenden auf die finalen Reihenfolgen der Handlungsfelder und Forschungsfragen.

Die priorisierten Listen aus beiden Methoden wurden abschließend zusammengeführt. Hierfür wurden die Ränge addiert und nach ihrer Summe sortiert. Die Zusammenführung ermöglichte die Erstellung einer breiter konsentierten Liste, welche unabhängiger von den Einflüssen einzelner Methoden ist. Berichtet werden jeweils die Top 10 unter den Handlungsfeldern und Forschungsfragen.


#
#
#

Ergebnisse

Identifizierungsphase

An der Identifizierungsphase haben 217 ehemalige Rehabilitand:innen (Rücklaufquote 5,7%), 13 Mitarbeitende aus den Bereichen der Sozialmedizin und Verwaltung der DRV OL-HB ( 41,9%) und 32 Mitarbeitende der Rehabilitationseinrichtungen (13,6%) teilgenommen. Die soziodemographischen Daten der Teilnehmenden können [Tab. 1] entnommen werden.

Tab. 1 Soziodemographische Daten der Teilnehmenden aus der Identifizierungsphase.

Rehabilitand:innen (n=217)

Mitarbeitende DRV (n=13)

Mitarbeitende Klinik (n=32)

Geschlecht

männlich: 52,1%

männlich: 46,2%

männlich: 21,9%

weiblich: 45,2%

weiblich: 53,8%

weiblich: 75%

Alter

18–29: 1,4%

18–44: 38,5%

18–44: 37,5%

30–39: 6,9%

45–69: 61,5%

45–69: 59,4%

40–49: 16,1%

50–59: 53,5%

60–69: 19,8%

Bildung/Beruflicher Hintergrund

ohne Schulabschluss: 1,4%

Sozialmedizin: 46,2%

Arzt/Ärztin: 18,8%

Hauptschulabschluss: 29,5%

Verwaltung: 53,8%

Sozialarbeiter:in oder therapeutisches Personal: 46,9%

Realschulabschluss: 41%

Pflegekraft: 9,4%

Abitur/Fachhochschule: 15,2%

Verwaltungsmitarbeiter:in oder sonstiger Bereich: 21,9%

Universität: 6,5%

Sonstiges: 3,7%

Reha-Typ

Orthopädisch: 57,6%

Orthopädisch: 65,6%

Psychosomatisch: 33,2%

Psychosomatisch: 28,1%

Beides: 7,4%

Für die Gruppe der ehemaligen Rehabilitand:innen lagen für die Variablen Alter, Geschlecht und Indikation Informationen über alle eingeladenen Teilnehmenden vor. Entsprechend waren 57,2% männlich (42,8% weiblich) und größtenteils zwischen 50 und 59 Jahre alt (46,8%) (Anteil in anderen Altersgruppen: 18–29: 2,5%; 30–39: 6,7%; 40–49: 18,6%; 60–69: 25,4%). 68,4% haben an einer orthopädischen Rehabilitation teilgenommen (31,6% psychosomatisch). Die Teilnehmenden dieser Studie unterschieden sich hinsichtlich der Verteilung dieser Variablen somit nur geringfügig von der gesamten Studienpopulation.

Im Rahmen der Auswertung wurde deutlich, dass indikationsspezifische Themen kaum eine Rolle spielten. Alle der induktiv gebildeten Kategorien, aus denen der Handlungs- und Forschungsbedarf abgeleitet wurde, beinhalteten Rückmeldungen von Teilnehmenden aus beiden Indikationsbereichen. Die Themen wurden daher indikationsübergreifend ausgewertet. Insgesamt wurden 20 praktische Handlungsfelder und 30 Forschungsfragen identifiziert ([Abb. 2]). Die Handlungsfelder deckten dabei ein breites Themen-Spektrum ab und ließen sich in die Bereiche „Vor der Reha“, „Während der Reha“, „Nach der Reha“ und „Die gesamte Reha betreffend“ unterteilen. Die Forschungsfragen konnten den relevanten Forschungsbereichen für die Rehabilitation nach Bengel und Koch [22] zugeordnet werden. Auf Grund fehlender oder unzureichender Evidenz wurden alle Fragestellungen in die Priorisierungsphase aufgenommen.

Zoom Image
Abb. 2 Themenbereiche der identifizierten Forschungsfragen.

#

Priorisierungsphase

An der Delphi-Befragung nahmen in der ersten Befragungsrunde 92 ehemalige Rehabilitand:innen (63%), 9 Mitarbeitende aus den Bereichen der Sozialmedizin und Verwaltung der DRV OL-HB (24,3%) und 46 Mitarbeitende der Rehabilitationseinrichtungen (19,3%) teil. 81,5% (n=75) dieser Rehabilitand:innen, 82,5% (n=33) dieser Klinikmitarbeitenden und 88,9% dieser Mitarbeitenden aus den Bereichen der Sozialmedizin und Verwaltung der DRV OL-HB (n=8) nahmen ebenfalls an der zweiten Befragungsrunde teil. Die soziodemographischen Daten der Teilnehmenden beider Befragungsrunden sind in [Tab. 2] zu finden.

Tab. 2 Soziodemographische Daten der Teilnehmenden an dem Priorisierungsworkshop und beiden Delphi-Befragungen.

Delphi-Befragung

Workshop

Rehabilitand:innen (n=75)

Mitarbeitende DRV (n=8)

Mitarbeitende Klinik (n = 33)

Rehabilitand:innen (n = 11)

Geschlecht

männlich: 46,7%

männlich: 37,5%

männlich: 18,2%

männlich: 54,5%

weiblich: 52%

weiblich: 62,5%

weiblich: 81,8%

weiblich: 45,5%

Alter

18–29: 1,3%

18–44: 50%

18–44: 33,3%

18–29: 0%

30–39: 4%

45–69: 50%

45–69: 66,7%

30–39: 0%

40–49: 16%

40–49: 18,2%

50–59: 54,7%

50–59: 45,5%

60–69: 24%

60–69: 36,4%

Bildung/Beruflicher Hintergrund

ohne Schulabschluss: 1,3%

Sozialmedizin: 37,5%

Arzt/Ärztin: 9,1%

ohne Schulabschluss: 0%

Hauptschulabschluss: 30,7%

Verwaltung: 62,5%

Sozialarbeiter:in oder therapeutisches Personal: 48,5%

Hauptschulabschluss: 27,3%

Realschulabschluss: 49,3%

Pflegekraft: 18,2%

Realschulabschluss: 36,4%

Abitur/Fachhochschule: 14,7%

Verwaltungsmitarbeiter:in oder sonstiger Bereich: 21,2%

Abitur/Fachhochschule: 36,4%

Universität: 4%

Universität: 0%

Reha-Typ

Orthopädisch: 45,3%

Orthopädisch: 63,6%

Orthopädisch: 36,4%

Psychosomatisch: 33,3%

Psychosomatisch: 36,4 %

Psychosomatisch: 45,5%

Beides: 21,3%

Beides: 18,2%

Nach Abschluss der zweiten Befragungsrunde konnte lediglich für eine Forschungsfrage kein Konsens unter den Teilnehmenden hergestellt werden („Wie wirkt sich ein Rauchentwöhnungsprogramm in der orthopädischen Reha auf das Behandlungsergebnis aus?“, Konsenswert 38,5%). Die durchschnittliche Bewertung je Handlungsfeld und Forschungsfrage für beide Delphi-Befragungen sowie die Konsenswerte können Online-Anhang 1 und 2 entnommen werden.

An dem Priorisierungsworkshop haben 11 Rehabilitand:innen teilgenommen (35,5%). Die soziodemographischen Daten der Teilnehmenden sind ebenfalls in [Tab. 2] dargestellt.

Priorisierter Handlungs- und Forschungsbedarf

In [Abb. 3] und [4] sind jeweils die 10 wichtigsten praktischen Handlungsfelder und Forschungsfragen aus der Sicht der ehemaligen Rehabilitand:innen und Mitarbeitenden in der Rehabilitation abgebildet.

Zoom Image
Abb. 3 Finale Liste für den praktischen Handlungsbedarf.
Zoom Image
Abb. 4 Finale priorisierte Liste für den Forschungsbedarf.

#

Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Priorisierung von Mitarbeitenden und Rehabilitand:innen

Die durch die Mitarbeitenden und Rehabilitand:innen erstellten Reihenfolgen in der Delphi-Befragung weisen sowohl für die praktischen Handlungsfelder (Kendalls Tau: 0,40, p=0,014) als auch für die Forschungsfragen (Kendalls Tau: 0,49, p=0,001) eine signifikant positive mittelstarke Korrelation auf [25] (Vergleich in Online-Anhang 3 und 4).

Folgende Handlungsfelder wurden von beiden Gruppen sehr hoch priorisiert: „Umsetzung eines ganzheitlichen Therapieansatzes“ (jeweils Rang 1), „Reha-Behandlung individuell gestalten“ (Rehabilitand:innen Rang 2, Mitarbeitende Rang 3) und „Vorbereitung der Reha“ (Rehabilitand:innen Rang 4, Mitarbeitende Rang 2). Bei den Top 10 gab es sieben Überschneidungen. Große Unterschiede ergaben sich vorrangig in der Bewertung der Handlungsfelder „Beteiligung von Rehabilitand:innen in der Reha“ (Rehabilitand:innen Rang 5, Mitarbeitende Rang 14), „Messung des Behandlungserfolges und der Zufriedenheit von Rehabilitand:innen in der Reha“ (Rehabilitand:innen Rang 19, Mitarbeitende Rang 10) sowie „Arbeiten im Reha-Team“ (Rehabilitand:innen Rang 17, Mitarbeitende Rang 4).

Bei den Forschungsfragen waren sich Mitarbeitende und Rehabilitand:innen gleichermaßen einig, dass die Fragestellungen „Welchen Einfluss hat die Motivation der Rehabilitand:innen auf das Behandlungsergebnis?“ (Rehabilitand:innen Rang 1, Mitarbeitende Rang 2) und „Welche Faktoren sind für die Rehabilitand:innenzufriedenheit in der Reha relevant?“ (Rehabilitand:innen Rang 4, Mitarbeitende Rang 3) relevant für die zukünftige Rehabilitationsforschung sind. Bei den Top 10 sechs gab es Überschneidungen. Große Unterschiede in der Bewertung ergaben sich bei den Forschungsfragen „Wie unterscheiden sich ein ausdauerorientiertes und ein kraftorientiertes Trainingsprogramm im Hinblick auf das Behandlungsergebnis bei Rückenschmerzen?“ (Rehabilitand:innen Rang 8, Mitarbeitende Rang 25) und „Welche Aufgaben können Fallmanager:innen zur Unterstützung der Rehabilitand:innen übernehmen?“ (Rehabilitand:innen Rang 26, Mitarbeitende Rang 10).


#
#
#

Diskussion

Im Rahmen dieser Studie wurden erstmals für die Bereiche der psychosomatischen und orthopädischen Rehabilitation in Deutschland gemeinsam mit ehemaligen Rehabilitand:innen und Mitarbeitenden zukünftige Handlungs- und Forschungsbedarfe identifiziert und priorisiert. Handlungsbedarf besteht bei der Umsetzung von individualisierten und ganzheitlichen rehabilitativen Interventionen, einer verbesserten Eingangsuntersuchung und Entlassung, der Qualitätssicherung sowie bei der Unterstützung von Rehabilitand:innen vor und nach der Rehabilitation. Die Rehabilitand:innen sahen zudem großen Bedarf für eine stärkere Aufklärung und Beteiligung von Rehabilitand:innen.

Forschungsbedarf besteht zu Fragestellungen, welche sich mit dem Zugang zur und den Strukturen in der Rehabilitation (beispielsweise trägerübergreifende Zusammenarbeit, Häufigkeit und Dauer, Nachsorgeangebot) sowie der Ausgestaltung rehabilitativer Interventionen (individuellere Rehabilitation, alltagstaugliche Übungen) befassen. Darüber hinaus war die Frage zur Bedeutung der Motivation von Rehabilitand:innen für den Behandlungserfolg von Bedeutung.

Bei einem Vergleich der Prioritäten von Mitarbeitenden und Rehabilitand:innen wurde deutlich, dass viele Themen ähnlich hoch priorisiert wurden. Bei einigen Themen gab es aber auch deutliche Diskrepanzen.

Einordnung des identifizierten Handlungs- und Forschungsbedarfs in den aktuellen Forschungsstand

Die identifizierten Handlungsbedarfe nach einer individuelleren Rehabilitation sowie der stärkeren Beteiligung von Rehabilitand:innen stimmen mit Ergebnissen vorheriger Studien überein [18] [19]. Auch die Verbesserung des Zugangs zu Rehabilitation sowie die Unterstützung von Patient:innen vor und nach der Rehabilitation waren den Teilnehmenden sowohl in dieser Studie als auch im Projekt RehaInnovativen wichtig [18].

Im Gegensatz zu dem in dieser Studie identifizierten Forschungsbedarf wurden in bereits durchgeführten Studien vorrangig indikationsspezifische Themen (Ursache, Behandlung, Verlauf einer Erkrankung) und kaum systembezogene Fragestellungen hoch priorisiert [12] [13] [14] [15]. Eine Ausnahme stellt eine in Deutschland durchgeführte Studie zu Forschungsprioritäten von an Depression erkrankten Menschen und Angehörigen dar [26]. Hier wurden neben Bewältigungsstrategien für die Erkrankung auch Fragen zum Zugang zur und Ausgestaltung der Versorgung hoch priorisiert. Ursächlich für die Unterschiede im identifizierten Forschungsbedarf könnte zum einen der frühere Fokus auf behandlungsbezogene Themen in den Studien der JLA sein [12]. So wurden Teilnehmende in früheren Studien der JLA explizit gebeten, Fragen, welche sich auf ihre Behandlung beziehen, zu benennen. Zum anderen könnten kontextspezifische Einflüsse (bspw. die unterschiedliche Ausgestaltung von Versorgungssettings) eine Rolle spielen. So liegt der Fokus der medizinischen Rehabilitation jenseits der Kuration auf der Wechselwirkung zwischen Beeinträchtigungen und relevanten Umgebungsfaktoren, so dass die funktionale Gesundheit und die systemischen Kontextfaktoren hier erwartungsgemäß stärker im Mittelpunkt stehen als bei vielen anderen Versorgungssettings.


#

Unterschiede in der Priorisierung von Mitarbeitenden und Rehabilitand:innen

Die hohe Übereinstimmung über die Relevanz einzelner Handlungsfelder und Forschungsfragen unter den beteiligten Mitarbeitenden und Rehabilitand:innen in der Delphi-Befragung zeigt, dass diese Themen aus unterschiedlicher Perspektive besonders bedeutend für die zukünftige Ausgestaltung der Rehabilitation sind.

Die beobachteten Unterschiede in der Priorisierung ergeben sich gegebenenfalls aus der unterschiedlichen Betroffenheit der beiden Gruppen von den jeweiligen Themen. Rehabilitand:innen sahen beispielsweise einen höheren Bedarf für die stärker Beteiligung von Rehabilitand:innen wohingegen Mitarbeitende das Thema „Arbeiten im Reha-Team“ höher priorisierten. Die Messung des Behandlungserfolges und der Patient:innenzufriedenheit spielte für Mitarbeitende gegebenenfalls eine größere Rolle, da dies direktes Feedback für ihre Arbeit bedeutet. Für Patient:innen ist es möglicherweise relevanter, akut vor Ort eine gute Behandlung zu erhalten, wohingegen die Evaluation im Nachhinein nicht so bedeutend ist. Die Forschungsfragen zum Vergleich zweier Behandlungsmethoden für Rückenschmerz war für Rehabilitand:innen deutlich relevanter, möglicherweise auch hier durch die Auswirkung der Behandlung auf die eigene Gesundheit. Fallmanager:innen hingegen bedeuten eine neue Profession im Reha-Team und die diesbezügliche Frage war so gegebenenfalls eher für Mitarbeitende interessant.


#

Praktische Implikationen

Status Quo und Änderungsbedarf

Interessanterweise besteht mit dem identifizierten Bedarf nach stärker individuellen rehabilitativen Interventionen genau in dem Bereich der größte Handlungsbedarf, der für die medizinische Rehabilitation charakteristisch ist. So ist das bio-psycho-soziale Modell, welches für einen ganzheitlichen Blick auf Patient:innen und deren Erkrankungen steht, grundlegend für die Arbeit in der Rehabilitation. Gleichermaßen sind Inklusion und Teilhabe sowie die partizipative Einbindung von Rehabilitand:innen in ihre Behandlung fest verankerte Prinzipien [1] [2] [3]. Viele der identifizierten Handlungsfelder weist die DRV Bund zudem bereits in ihrem Positionspapier zur Zukunft der Rehabilitation aus dem Jahr 2010 aus [27]. Die Relevanz einer individualisierten Rehabilitation für ein gutes Behandlungsergebnis wird dort ebenso wie die Einbindung der Rehabilitand:innen in die Therapieplangestaltung betont. Auch die Verbesserung der Zusammenarbeit von verschiedenen Rehabilitationsträgern, die Relevanz einer guten Vorbereitung auf die Rehabilitation und Nachsorge sowie die Qualitätssicherung werden benannt. Somit stellt der identifizierte Handlungs- und Forschungsbedarf größtenteils keinen neuen Erkenntnisstand dar. Vielmehr untermauert er bereits erkannte Problemfelder. Es scheint jedoch, dass das, was in der Theorie bereits Konsens ist, in der Praxis noch nicht ausreichend umgesetzt wird. Der Fokus muss zukünftig mehr auf der Bearbeitung, Entwicklung und praktischen Umsetzung von Lösungsstrategien für die identifizierten Bedarfe liegen. Die Implementierungsforschung bietet hierfür gute Ansätze.


#

Umsetzungsmöglichkeiten in den Rehabilitationseinrichtungen

Besonders vor dem Hintergrund der Stärkung des Wunsch- und Wahlrechts und der stärker qualitätsorientierten Klinikauswahl und -belegung über die Rentenversicherung (Umsetzung des Gesetzes Digitale Rentenübersicht) ab 2023 wird es wichtig sein, sich in den Rehabilitationseinrichtungen mit bestehenden Problemfeldern intensiv auseinander zu setzen. Zwei Indikatoren, welche für die Beurteilung der Qualität von Rehabilitationseinrichtungen zur Belegungssteuerung herangezogen werden sollen, beziehen sich explizit auf die Rehabilitand:innenzufriedenheit (Behandlungszufriedenheit und subjektiver Behandlungserfolg) und werden durch Befragungen ermittelt. Unsere Studienergebnisse zeigen auf, wie aus Sicht von Rehabilitand:innen die rehabilitative Versorgung zukünftig verbessert werden kann und liefern damit direkte Anhaltspunkte, an denen die Einrichtungen ansetzten können. Um rehabilitative Behandlungen beispielsweise stärker an die individuellen Bedürfnisse der Rehabilitand:innen anzupassen, kann es sinnvoll sein, Mitarbeitende in Bereichen der Teilhabe und Partizipation zu schulen [18] [27]. Die DRV Bund darauf hin, dass diese Prinzipien meist nicht ausreichend in der beruflichen Ausbildung thematisiert werden [27]. Unsere Ergebnisse belegen dies, da Mitarbeitende die verstärkte Beteiligung von Rehabilitand:innen als deutlich weniger relevant betrachteten als die Rehabilitand:innen.

Darüber hinaus müssen geeignete strukturelle Voraussetzungen bestehen, um den Bedürfnissen der Rehabilitand:innen sowie deren Beteiligungswünschen gerecht werden zu können. Hier besteht ein enger Zusammenhang mit dem identifizierten Handlungsfeld der Qualitätssicherung. Darin enthalten ist unter anderem die Erhöhung des Personalschlüssels, um ausreichend Zeit für eine partizipative Rehabilitation zu ermöglichen.


#

Umsetzungsmöglichkeiten auf systemischer Ebene

Bestimmte identifizierte Handlungsfelder lassen sich nur auf der System-Ebene adressieren. Dazu gehören insbesondere die Vorgaben zur Klassifikation therapeutischer Leistungen (KTL) sowie die Reha-Therapie-Standards (RTS). Die RTS sind evidenzbasierte standardisierte Behandlungsrichtlinien. KTL-Vorgaben dienen der Dokumentation erbrachter rehabilitativer Leistungen. Anhand dieser wird geprüft, ob die RTS eingehalten wurden. Es besteht somit nur ein begrenzter Handlungsspielraum bei der Ausgestaltung einer rehabilitativen Behandlung. Um eine individuellere Rehabilitation zu ermöglichen, müssen diese Vorgaben und Standards aus Sicht der Studienteilnehmenden flexibilisiert werden. Dies ist auch vor dem Hintergrund relevant, als dass die Erfüllung der KTL-Vorgaben und RTS zukünftig ebenfalls als Zuweisungskriterium von Rehabilitand:innen zu einer Rehabilitationseinrichtung dienen. Unsere Ergebnisse legen nahe, dass beide Ziele (Erfüllung der Vorgaben und individuell gestaltete Rehabilitation) gegebenenfalls nicht immer miteinander in Einklang gebracht werden können. Hier bedarf es geeigneter Lösungsstrategien.


#

Ausblick

Um geeignete Bearbeitungs- und Lösungsstrategien für die identifizierten Handlungs- und Forschungsbedarfe zu entwickeln und zu implementieren ist es notwendig, alle an der rehabilitativen Versorgung beteiligten Akteure an einen Tisch zu bringen. Innerhalb von Strategie-Workshops können zukünftige Ziele, Hürden und Umsetzungsstrategien für die praktischen Handlungsfelder diskutiert und beschlossen werden. Das Aufgreifen der identifizierten Forschungsbedarfe in zukünftigen Projekten kann weiterführend dazu beitragen, neue Erkenntnisse bezüglich einer verbesserten und patient:innenzentrierteren Rehabilitation zu generieren. Innerhalb einer abschließenden Studienphase werden solche Umsetzungsstrategien gemeinsam mit den beteiligten Rehabilitationseinrichtungen und der DRV OL-HB entwickelt.


#
#
#

Limitationen

Die Ergebnisse dieser Studie sind in ihrer Generalisierbarkeit eingeschränkt. Zum einen können die Ergebnisse auf Grund des Settings (orthopädische und psychosomatische Rehabilitation) gegebenenfalls nicht auf die gesamte Rehabilitation übertragen werden. Die Übereinstimmung mit anderen Studienergebnissen sowie die Fokussierung der Handlungsfelder und Forschungsfragen auf systemische Themen lassen jedoch vermuten, dass die identifizierten Bedarfe auch relevant für andere Rehabilitationsbereiche sind. Um dies zu prüfen, könnten weitere Priorisierungsstudien für weitere Indikationsbereiche durchgeführt werden.

Zum anderen wird die Generalisierbarkeit durch die geringe Rücklaufquote unter den ehemaligen Rehabilitand:innen und Klinik-Mitarbeitenden eingeschränkt. Ein Grund könnte sein, dass sich Rehabilitand:innen nicht mit der eigenen Rehabilitation sondern mit der eigenen Erkrankung identifiziert. Das Thema der Rehabilitation ist dadurch gegebenenfalls nicht so bedeutsam (besonders, wenn keine regelmäßige Reha-Teilnahme erfolgt). Da wir die Studie zudem zu einer Zeit durchgeführt haben, in der die Covid-19-Pandemie ein den Alltag bestimmendes Thema gewesen ist, hatten die angefragten Rehabilitand:innen zu dieser Zeit möglicherweise andere Sorgen. Dies trifft wahrscheinlich auch auf die Klinikmitarbeitenden zu. Auch wenn die Mitarbeitenden die Studie während ihrer Arbeitszeit ausfüllen konnten, kann es sein, dass durch die Umstrukturierungsmaßnahmen in den Kliniken aufgrund der Pandemie wenig Raum und Zeit für andere Themen gewesen ist.

Vor dem Hintergrund der geringen Rücklaufquote muss auch auf die Gefahr der selektiven Teilnahme und den resultierenden Einschränkungen für die Generalisierbarkeit der Ergebnisse hingewiesen werden. An solchen Studien nehmen vorrangig motivierte und engagierte Personen mit höherem sozioökonomischen Status teil, wohingegen andere Personen nicht erreicht werden. Ein Vergleich der soziodemographischen Daten der Teilnehmenden mit der gesamten Studienpopulation zeigte, dass unsere Stichprobe hinsichtlich des Geschlechts und der Altersstruktur repräsentativ ist. Für andere Stichprobencharakteristika (beispielsweise Bildung) lagen leider keine Daten für die Gesamtstichprobe vor, sodass über die Alters- und Geschlechtsverteilung hinaus keine Aussagen bezüglich der Repräsentativität möglich sind.

Abschließend muss berücksichtig werden, dass unsere Ergebnisse auf einem explorativen Vorgehen beruhen, da es bisher kein Standardverfahren zur Priorisierung von Handlungs- und Forschungsbedarf im Gesundheitswesen gibt. Bisher ist unklar, inwieweit die Priorisierungsmethode sich auf die Priorisierungsentscheidungen der Teilnehmenden auswirkt [17] [28]. Bei einem Vergleich der Prioritäten zwischen den beiden in unserer Studie verwendeten Methoden wird deutlich, dass die Priorisierung der Handlungsfelder große Überschneidungen aufweist, wohingegen bei den Forschungsfragen große Unterschiede bestehen ([Abb. 3] und [4]). Dies ist möglicherweise auf die unterschiedlichen Priorisierungsverfahren zurückzuführen (für eine ausführlichere Diskussion zum Vergleich beider Priorisierungsmethoden wurde ein separates Paper eingereicht, auf das wir an dieser Stelle verweisen [29]). Vor diesem Hintergrund muss die Zusammenfassung der Prioritäten aus Workshop und Delphi-Befragung kritisch diskutiert werden. Ziel der Zusammenfassung war es, breiter konsentierte und methodisch unabhängigere Prioritätenlisten zu erhalten. Zudem wird die Nutzung verschiedener Beteiligungsmethoden zu einer Thematik empfohlen, um unterschiedlichen Beteiligungspräferenzen und auch -möglichkeiten potenzieller Teilnehmer:innen gerecht zu werden [30]. Es gibt jedoch bisher kein standardisiertes Verfahren, die Ergebnisse unterschiedlicher Methoden zusammenzufassen. Im Rahmen unserer Studie zeigen wir eine mögliche Option auf. Die Ränge aus den jeweiligen Einzelmethoden sollten dennoch bei der Interpretation des Gesamtergebnisses berücksichtigt werden.


#
Kernbotschaft

Die identifizierten Bedarfe für die Rehabilitationspraxis wurden zu einem großen Teil bereits in vorherigen Studien und von unterschiedlichen Stakeholdern in der Rehabilitation benannt, was zum einen die große Bedeutsamkeit dieser Themen und zum anderen auch bestehende Umsetzungsdefizite unterstreicht. Der Fokus muss in Zukunft auf der gemeinsamen Entwicklung von Bearbeitungs- und Lösungsstrategien für die entsprechenden Handlungsfelder sowie der Implementierung der erarbeiteten Strategien liegen. Da sich die Belegung von Rehabilitationseinrichtungen durch die DRV zukünftig konsequent an den Wünschen der Versicherten (Stärkung des Wunsch- und Wahlrechts) und vermehrt nach der Qualität der Einrichtungen richten wird, wird es wichtig für die Kliniken sein, sich mit bestehenden Problemfeldern vermehrt zu beschäftigen. Unsere Studienergebnisse liefern wichtige Anhaltspunkte, wo die Qualität der Versorgung aus Rehabilitand:innen- und Mitarbeitendensicht verbessert werden kann. Die identifizierten Forschungsbedarfe fokussieren vorrangig systemische Fragestellungen. Durch die zukünftige Bearbeitung dieser Fragestellungen im Rahmen von Implementierungsforschung kann ein wichtiger Beitrag geleistet werden, die Rehabilitationspraxis zu verbessern.

Förderung

Das Projekt wurde über Drittmittel durch die deutsche Rentenversicherung Oldenburg-Bremen gefördert.


#
#

Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Zusätzliches Material


Korrespondenzadresse

Lisa Ann Baumann, M.A.
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Department für Versorgungsforschung, Ammerländer Heerstr. 114-118
26129 Oldenburg
Deutschland   

Publication History

Article published online:
02 March 2023

© 2023. The Author(s). This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution-NonDerivative-NonCommercial-License, permitting copying and reproduction so long as the original work is given appropriate credit. Contents may not be used for commercial purposes, or adapted, remixed, transformed or built upon. (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/).

Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


Zoom Image
Abb. 1 Verwendete Methodik innerhalb der Priorisierungsphase.
Zoom Image
Abb. 2 Themenbereiche der identifizierten Forschungsfragen.
Zoom Image
Abb. 3 Finale Liste für den praktischen Handlungsbedarf.
Zoom Image
Abb. 4 Finale priorisierte Liste für den Forschungsbedarf.